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COVID-Dissidenten bremsen Wachstum des BIP


Hinsichtlich der Wiederbelebung der Wirtschaft holt Europa zu den USA auf, die sich entwickelnden Länder aber versinken aufgrund der Zunahme der COVID-Fälle und des geringen Grades der Vakzinierung in eine Stagnation. Solch eine Schlussfolgerung internationaler Investoren scheint die Russischen Föderation nicht zu betreffen. Schließlich kann sich ihr BIP im Vergleich zum Jahr 2020 um fünf Prozent erhöhen. Wenn man dies jedoch mit dem Stand von 2019 vergleicht, fällt es unter die Definition der Stagnation. Und wie kann man mit den entwickelten Ländern wetteifern, wenn in Russland weniger als ein Drittel der Bevölkerung gegen COVID geimpft worden ist? In einer Untersuchung des Instituts für volkswirtschaftliche Prognostizierung (IVP) werden die Epidemie-Probleme unter den Wirtschaftsbremsen genannt.

Die Pandemie und ihre Folgen bringen viele sich entwickelnde Märkte zu unumkehrbaren Konsequenzen, erklärte man am Dienstag im Unternehmen für Vermögensmanagement „BlackRock“. Während die europäische Wirtschaft hinsichtlich des Wachstumstempos beginne, Anschluss an die USA zu gewinnen, würden sich die sich entwickelnden Wirtschaften zu einer Stagnation bewegen. Dies hänge mit den Schwierigkeiten in vielen Ländern zusammen, wo eine drastische Zunahme der Coronavirus-Ansteckungsfälle und neue Lockdowns zu beobachten seien. „In der langfristigen Perspektive sehen wir das große Risiko eines unwiederbringlichen Schadens für mehrere sich entwickelnde Märkte aufgrund des geringen Vakzinierungstempos und der eingeschränkteren Möglichkeiten politischer Stimuli“, behauptet man bei „BlackRock“.

Das Vakzinierungstempo in der Russischen Föderation bleibt ein äußerst geringes. Gegenwärtig sind lediglich 20 Prozent der Bevölkerung vollkommen vakziniert worden, und zumindest mit einer Komponente – nur jeder vierte Einwohner der Russischen Föderation. Zum Vergleich: In Argentinien sind 58 Prozent der Bevölkerung geimpft worden, in der Türkei – die Hälfte, in Mexico – rund 40 Prozent.

Dabei wollen sich, wie auch in den vergangenen Monaten, die meisten Bürger Russlands nach wie vor nicht impfen lassen. Laut den Ergebnissen einer Umfrage des Levada-Zentrums (das in Russland durch das Justizministerium ins Register der nichtkommerziellen Organisationen, die Funktionen eines ausländischen Agenten wahrnehmen, aufgenommen worden ist) ist nur jeder fünfte in der Russischen Föderation bereit, sich mit den zugänglichen Vakzinen gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Und mehr als die Hälfte der Bürger Russlands (53 Prozent) erklärten den Soziologen, dass sie nicht bereit seien, sich impfen zu lassen. Ungefähr genau solch ein Stand der Ablehnung von der COVID-Impfung war auch in den vorangegangenen Monaten zu beobachten.

Hinsichtlich des Bereitschaftsgrades, sich vakzinieren zu lassen, ähneln Russlands Bürger den Einwohnern armer Länder Asiens, Afrikas und Südamerikas, teilte eine internationale Gruppe von Forschern nach einer Befragung von Einwohnern von zwölf Ländern mit. Diese Umfrage zeigte, dass in Russland nur 30 Prozent der Bevölkerung bereit sind, sich mit einem Vakzin gegen das Coronavirus impfen zu lassen – dies ist der geringste Anteil unter allen Ländern, in denen die Erhebung vorgenommen wurde. Die häufigsten Gründe für eine Ablehnung der Vakzine sind die Angst vor Nebenwirkungen und die Überzeugung, dass die Präparate nicht effektiv seien. In Russland erklärten dies 36,8 bzw. 29,6 Prozent der Befragten. Dabei haben die Bürger Russlands den ersten Platz bezüglich der Häufigkeit der Erwähnung von Verschwörungstheorien als Grund für die Ablehnung einer Vakzinierung belegt. Davon sprachen 21,4 Prozent der Befragten.

In Russland hatten über 90 Prozent der Beschäftigten mit Kollegen Kontakt, die sich weigern, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen, zeigte eine Umfrage der Firma „Megaplan“, die zusammen mit der Online-Recruiting-Plattform HeadHunter durchgeführt worden war.

Folglich leidet die russische Wirtschaft nicht nur durch die hohe Zahl von Erkrankten, sondern auch aufgrund einer Unterbrechung oder Verlangsamung der Arbeit der Unternehmen, deren Personal eine Vakzinierung ablehnt. In der vergangenen Woche hat das Tula-Kreisgericht Klagen von Mitarbeitern eines der dortigen Rüstungsunternehmen zur Behandlung angenommen, die aufgrund der Ablehnung von Impfungen von der Arbeit suspendiert worden waren. Allerdings scheinen auch die Beamten an sich vor den Impfgegner zurückzuweichen. So hat das russische Ministerium für Bildung und Wissenschaft jüngst faktisch die Forderung nach einer Vakzinierung der Studenten und nach einem Verbot der Unterbringung nichtvakzinierter Studenten in Wohnheimen fallengelassen.

Unabhängige Wirtschaftsexperten vermuten, dass die fehlende Bereitschaft der Bevölkerung, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen, weitere Probleme auch für die Wirtschaft verursachen könne. Dieser Unwille könne dazu führen, dass wir noch lange Zeit hohe Erkrankungswerte haben werden, die direkt einen Rückgang in der Wirtschaft beeinflussen können, betont Jewgenij Martschenko, Leiter der Firma „E. M. Finance“. „Wenn eine neue Erkrankungswelle beginnt, ist die Wahrscheinlichkeit eines neuen Lockdowns groß. Es wird eine teilweise Schließung von Unternehmen geben, Einschränkungen für deren Tätigkeit, was sich nicht auf bester Weise auf die Wirtschaft auswirken wird“, prognostiziert er.

Es gebe eine Verbindung zwischen den Wirtschaftsparametern und der Anzahl der Kranken, und sie sei offensichtlich, sagt Sergej Suchostawez, Direktor für Business-Entwicklung der Firma „Rocket Work“. „Die analytische Kredit-Rating-Agentur (AKRA) sagt für dieses Jahr einen zusätzlichen Rückgang des russischen BIP um 0,2 bis 0,9 Prozent nur aufgrund des demografischen Effekts – der Übersterblichkeit und des Verlusts an Arbeitstagen aufgrund einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit – voraus“, betont er.

Derweil erwarten viele Wirtschaftsexperten einen relativ hohen Zuwachs des BIP im Vergleich zu den Einbrüchen des Jahres 2020 – auf einem Niveau von vier bis fünf Prozent. Jedoch muss man sich dessen erinnern, dass die Gesamtverluste des BIP des vergangenen Jahres aufgrund der Pandemie mit 3,1 Prozent beziffert wurden. „Und wenn dies in der kurzfristigen Perspektive nicht so wesentlich sein kann, so wird nach einer geraumen Zeit die Übersterblichkeit und folglich die Verringerung der aktiven Arbeitskräfte zu größeren Verlusten führen, da die demografischen Folgen mit uns bleiben, selbst nachdem die Pandemie beendet sein wird. Und sie werden noch zehn bis 15 Jahren zu spüren sein“, urteilt der Analytiker, wobei er unterstreicht, dass eine größere Anzahl vakzinierter Menschen weniger schwere Erkrankungsfälle und weniger Tote bedeute und dementsprechend auch einen geringeren negativen Einfluss auf die Wirtschaft.

Das durch die Wiederbelebung eingesetzte Wirtschaftswachstum in der Russischen Föderation werde allmählich nachlassen, prognostiziert man im IVP der Russischen Akademie der Wissenschaften. Und während sich laut den Ergebnissen des zweiten Quartals das BIP des Landes um 10,4 Prozent vergrößerte, wird das Wachstum im dritten Quartal bereits 6,2 Prozent ausmachen, und im vierten – gar nur 4,7 Prozent, erwartet man in diesem Institut. Die Wissenschaftler weisen auf das Auftauchen von Anzeichen für eine Verlangsamung der Wiederherstellung der Wirtschaft hin. So verringerte sich im Juni das monatliche Wachstumstempo des Berechnungsindexes für das BIP bis auf 0,1 Prozent (gegenüber dem Vormonat unter Ausschluss der saisonbedingten Faktoren) im Vergleich zum durchschnittlichen Monatstempo von 0,6 Prozent in den Monaten Januar bis Mai dieses Jahres, berichten die Wirtschaftsexperten.

Es ist auch schwer, von irgendeiner Überwindung der Krise in der Russischen Föderation zu sprechen. Die Experten verweisen darauf, dass im ersten Halbjahr dieses Jahres die russische Wirtschaft um 4,6 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres gewachsen sei. Hinsichtlich des Zeitraums Januar-Juni 2019 jedoch nur um ganze 1,6 Prozent.

Im IVP der Russischen Akademie der Wissenschaften nennt man als Faktoren, die eine ausbremsende Wirkung auf das Wachstum der Industrieproduktion und den Konsum der Bevölkerung haben, die Verteuerung der Rohstoffe, die Restriktionen im Zusammenhang mit der neuen Pandemiewelle und die Erschöpfung des Effekts der aufgeschobenen Nachfrage vor dem Hintergrund der Beschleunigung der Inflation. „In der nächsten Zeit können zu diesen Faktoren auch die Einstellung des Programms zur Bereitstellung vergünstigter Hypotheken-Kredite, aber auch eine Verschärfung der Geld- und Kredit-Politik hinzukommen“, prognostizieren die Forscher.

Von der Wahrscheinlichkeit einer Verlangsamung des BIP spricht man jetzt auch im Ministerium für Wirtschaftsentwicklung. Es sei daran erinnert, dass entsprechend der geltenden Prognose dieses Ministeriums das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr 3,8 Prozent ausmachen werde. Dabei wartet man im Ministerium von Maxim Reschetnikow auf die Juli-Statistik, um eine genauere Prognose hinsichtlich des Tempos des Wirtschaftswachstums zu formulieren. „Die Prognose des Ministeriums bezüglich des Wachstums des BIP … ist eine recht konservative. Gleichzeitig aber belegen die Daten, die wir hinsichtlich des Julis erhalten werden, dass wir eine Verlangsamung der Wiederherstellung sehen werden können“, schließt der Minister nicht aus.

„Wir sehen, dass Möglichkeiten für ein weiteres Wachstum bleiben. Anhand der Ergebnisse des Junis sehen wir erste akkurate Anzeichen (dafür), dass das Wiederherstellungswachstum aufhört… Vorerst aber werden wir noch wachsen – sowohl im Juli als auch im August usw. Die Frage aber, die uns beunruhigt, ist die nach dem weiteren Wachstumstempo“, sagte der Minister.