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Das Braindrain provozieren wirtschaftliche Ängste


Nach Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine ist Russland mit einer Auswanderungswelle konfrontiert worden. Die Ausreise dutzender öffentlicher Figuren befindet sich im Mittelpunkt einer öffentlichen Diskussion. Für die ausgereisten großen Geschäftsleute, Journalisten und Stars des Show-Business bringen die Beamten und die den Kurs der Herrschenden billigenden Bürger kein besonderes Mitgefühl auf – mehr das Empfinden, unnötigen Ballast abgeworfen zu haben. Die Situation ist aber weitaus komplizierter. Das seit vielen Jahre größte Braindrain kann zu einem wirklich ernsthaften Problem für die Wirtschaft und die Zukunft Russlands werden, so dass es leichtsinnig ist dieses einfach zu ignorieren.

Laut Schätzungen der Russischen Assoziation für elektronische Kommunikation haben nach Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine 50.000 bis 70.000 IT-Spezialisten Russland verlassen. Bei der zweiten Welle, die im April erwartet wird, ist die Ausreise von weiteren 70.000 bis 100.000 Menschen möglich. Moskauer Medien zitieren Ergebnisse einer Untersuchung über Ausreisestimmungen auf dem IT-Markt, die durch Habr Career vorgenommen wurde. Von den 3000 befragten Profis, darunter Entwickler, Administratoren und Tester, befinden sich 47 Prozent auf der Suche nach Arbeit. Dabei sucht jeder dritte einen Job in einem ausländischen Unternehmen mit der Möglichkeit eines Ortswechsels. Und 46 Prozent schicken sich an, das Studium einer Fremdsprache zu beginnen. Dieser Umfrage nach zu urteilen, haben die Befragten Angst vor einer Unbestimmtheit ihrer Perspektiven. 77 Prozent der Befragten gaben aufgetretene Schwierigkeiten in ihren Unternehmen an, darunter bei der Suche nach neuen Instrumenten für die Arbeit anstelle der unter die Sanktionen gefallenen, aber auch die Aussetzung oder Verringerung des Einstellens neuer Mitarbeiter.

Dabei wurden lediglich vier Prozent der Spezialisten von einem Stellenabbau betroffen. Und nur sieben Prozent sprachen von einer Kürzung oder verspäteten Auszahlung der Gehälter, während man 20 Prozent diese angehoben hat oder versprach, diese zu erhöhen. Arbeit gibt es in der Branche. Der staatliche Sektor hat drastisch die Nachfrage erhöht, hinsichtlich einiger Richtungen – um das 2fache. Geld gibt es gleichfalls im Geld. Um das Personal zu halten, hat die Regierung großangelegte Maßnahmen zu ihrer Unterstützung ausgearbeitet, die eine Senkung von Steuern, vergünstigte Hypotheken, aber auch eine zeitweilige Freistellung vom Wehrdienst usw. umfassen. Der beispiellose Umfang der eine Lösung erfordernden Aufgaben kann zu einer zusätzlichen Motivation für ehrgeizige Profis werden. Die Ideen, die Ausreise von IT-Spezialisten ins Ausland zu verbieten, die deren Nervosität verstärken, sind als provokante offiziell dementiert worden. In den Medien und sozialen Netzwerken (augenscheinlich mit Billigung der Offiziellen) erfolgt eine Informationskampagne mit der Message „im Ausland wartet keiner auf euch“. Ihren Adressaten berichtet man über Schwierigkeiten und eine Russophobie, mit denen die Bürger Russlands angeblich unbedingt im Ausland konfrontiert werden würden.

Erstaunen lösen die öffentlichen Beanstandungen hinsichtlich einer „geringen Stressfestigkeit“ und eines „Fehlens von Patriotismus“ seitens jener, die ausgereist sind oder planen, dies zu tun. Beispielsweise hat die Chefin der Unternehmensgruppe InfoWatch Natalia Kasperskaja den Exodus von IT-Spezialisten hämisch mit deren „feinen seelischen Organisation“ in Verbindung gebracht. „Sie sind junge Menschen, in Vielem mit dem Westen verbunden. Sie arbeiteten mit westlicher Hardware. Solch ein Systemumbruch bringt sie zum Zittern“. Und der Leiter des internationalen Clusters für Informationstechnologien „Nordwest“ Anton Filimon beklagte, dass „vom Westler-Virus Befallene ausreisen“ und dass solche Faktoren wie die „Erziehung, die Werte, die auf der Heimatliebe und dem Patriotismus beruhen“, in der jüngsten Vergangenheit aus dem Blick verloren seien.

Diese Vorwürfe sind unproduktiv, da es um wirtschaftliche Ängste und dementsprechend um wirtschaftliche Faktoren der Auswanderung der Bürger Russlands geht. Die älteren Menschen fürchten eine Rückkehr des Niedergangs der 90er, den sie selbst erlebt hatten. Die jüngeren möchten nicht, dass „die Kinder in der KDVR leben“. Diese Ängste unter den Bedingungen einer Unbestimmtheit haben bestimmte Grundlagen. Man reist nicht nur aus, weil „man die Heimat nicht liebt“, im Ausland gefragt ist und dort einen Job finden kann, sondern auch, weil man sie in Russland an sich leicht einsperren und alles Verdiente wegnehmen kann, nachdem man sie Verfolgungen aufgrund eines „Arbeitens für den Feind“ aussetzte. Schließlich sind IT-Unternehmen vom Charakter der Arbeit oder der Eigentumsstruktur her oft internationale. Dies ist das Format eher einer ökonomisch begründeten, denn einer politischen Auswanderung.