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Das Deripaska-Manifest: von der neuen Realität zu einer „neuen Normalität“


Oleg Deripaska ist ohne jegliche Zweifel der „diversifizierteste“ Industrielle des Landes. In seinem Geschäftsleben hat er Unternehmen in dutzenden Wirtschaftssektoren des Landes geschaffen, erworben und entwickelt. Wenn man neben der Industrie seine Aktiva in der Landwirtschaft, Bank- und Versicherungsbusiness, auf dem Gebiet des Städtebaus und im Bauwesen, beim Management von Flughäfen sowie die Forschungstätigkeit – von Nukleartechnologien bis zur Erforschung der Lebensdauer – ins Kalkül zieht, so kann man ohne das Risiko, sich zu irren, sagen: In seinem Kopf laufen alle entscheidenden Informationen über den Zustand und die Probleme der gesamten russischen Wirtschaft zusammen. Aus erster Hand.

Solch eine gewisse Allseitigkeit Deripaskas ist eine Reflexion nicht so sehr von industrieller Gier als vielmehr seiner Konzeption von einem nichtsynchronisierten zyklischen Charakter, der der heutigen Wirtschaft eigen ist. Während eine Branche in eine Krise und Depression gerät, gelangt eine andere in eine Wachstums- und Entwicklungsphase.

Wie dem auch sein mag, Oleg Deripaska verfügt über die Informationen über die realen Probleme unseres Landes. Und es macht Sinn, seiner Meinung Gehör zu schenken.

Am vergangenen Freitag hat der Gründer des Konzerns „Russisches Aluminium“ im Rahmen des Stolypin-Klubs die Schlüsselaussagen seines Manifests dargelegt. Er charakterisierte die neue Realität, die in Russland nach Beginn der von Präsident Wladimir Putin am 24. Februar befohlenen militärischen Sonderoperation in der Ukraine begonnen hat.

Die neue Realität äußert sich in einer ganzen Reihe harter Einschränkungen:

— in einer Schließung der ausländischen Märkte für den Absatz traditioneller Exporterzeugnisse, darunter in der Perspektive in einem Verzicht der europäischen Länder auf eine Einfuhr russischen Pipelinegases;

— in einer endgültigen Blockierung des Zugangs zum internationalen Kapitalmarkt für das russische Business, der eine erschwingliche Finanzierung unter den Bedingungen der restriktiven Politik der Bank Russlands sicherte;

— in der Blockierung des Zugangs zu Technologien sowie zu Anlagen und Ausrüstungen, aber auch zu Komponenten des kritischen Imports, was das Funktionieren von Produktionskapazitäten gefährdet, schon ganz zu schweigen deren Entwicklung.

Somit ist die Situation, mit der wir jetzt konfrontiert werden, nicht das Jahr 2014, als die gegen Russland verhängten Sanktionen recht eingeschränkte waren, und nicht die Pandemie des Jahres 2020, als man mit punktuellen Maßnahmen für eine Unterstützung der Bevölkerung und der Unternehmen auskommen und abwarten konnte, bis sich die Situation normalisiert. Nunmehr kann man schon nicht so tun, als ob es keinerlei Systemveränderungen gegeben hat. Die alten Bedingungen für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen werden nicht zurückkehren.

Weiter unterbreitet Deripaska eine Reihe von Vorschlägen zur Transformation der neuen Realität in eine neue Normalität. Als hauptsächlichen Wesenszug der neuen Realität schlägt er die Schaffung eines hohen Wachstumstempos auf der Grundlage einer allumfassenden Stimulierung privater Initiativen vor.

Er steht recht kritisch der Trägheit der heutigen konzeptuellen gegen die Krise gerichteten Vorgehensweisen bei der Leitung der Wirtschaft gegenüber. „Den in der letzten Zeit getroffenen Entscheidungen nach zu urteilen, versuchen wir noch immer, das Alte zu bewahren. Wir stützen uns auf den staatlichen Sektor und ergreifen eine Vielzahl punktueller Maßnahmen, die möglicherweise irgendwem helfen können. Sie werden aber nicht die gesamte Wirtschaft vor einem massiven Rückgang bewahren. Wir verlieren Zeit und verpulvern Kräfte für kleine Entscheidungen“, betonte der Industrielle.

Solch ein Szenario, dass das Modell eines Staatskapitalismus bewahrt, bedeutet, dass man bald weder von einer wirtschaftlichen und umso mehr von einer technologischen Führungsrolle Russlands sprechen werden kann. Anstelle einer stabilen Gesellschaft mit einem mittleren Auskommen, für die die Bevölkerungsmehrheit bei der Annahme der neuen Verfassung gestimmt hatte, werden wir eine Schrumpfung der Wirtschaft um 30 bis 40 Prozent, einen Rückgang des Lebensniveaus sowie eine Verstärkung des technologischen Hinterherhinkens hinter den führenden Ländern erhalten.

Für eine Anhebung des Wohlstands der Bevölkerung Russlands sowie die Bewahrung und Festigung der Rolle des Landes in der Weltwirtschaft muss man auf eine prinzipiell andere Entwicklungsbahn gelangen. In den nächsten vier, fünf Jahren muss man nicht bloß die wirtschaftliche und soziale Stabilität wiederherstellen, sondern auch ernsthafte Veränderungen vornehmen, die der Wirtschaft ein neues Wachstumstempo (in einem Bereich von sieben bis zehn Prozent des BIP im Jahr) auf einer qualitativ neuen Grundlage sichern werden. Man muss zu den bereits bewährten Erfahrungen aus dem hohen Tempo des Wirtschaftswachstums in Russland in den Jahren 2003-2007 zurückkehren, nachdem die erforderlichen Schlussfolgerungen gezogen wurden und indem die Erfahrungen Chinas, Indiens und anderer Länder, die die Zeit eines aktiven Wachstums durchlaufen haben, ausgenutzt werden. Dies wird Bedingungen für ein Ansteigen der Einkommen und das Entstehen einer prosperierenden Gesellschaft für alle bis zu den Jahren 2030-2035 schaffen.

Deripaska formuliert in seinen Thesen den entscheidenden Unterschied des Bedarfs Russlands heute von der vorangegangenen Periode in seiner Entwicklung: Er besteht im Verzicht auf den Staatskapitalismus und im Setzen auf den Privatunternehmer.

Der Übergang zu einer freien Marktwirtschaft unter den Bedingungen überaus harter Einschränkungen verlangt wesentliche Veränderungen sowohl in den Zielen als auch bei den Instrumenten der staatlichen Wirtschaftspolitik.

Zum Ziel der Wirtschaftspolitik muss die Gestaltung einer Gesellschaft eines mittleren Wohlstands werden, was die Notwendigkeit einer wesentlichen Anhebung der Einkommen für einen signifikanten Teil der Bevölkerung bedeutet. Beim Erreichen eines Wachstumstempos von sieben bis zehn Prozent im Jahr durch die Wirtschaft muss das Tempo für die Zunahme der realen Einkommen des aktivsten Teils der Bevölkerung zehn bis zwölf Prozent erreichen und übersteigen.

Die Geschichte zeigt, dass ein hohes und stabiles Wachstumstempo der Wirtschaft, das eine ausgewogene Entwicklung und Anhebung der Einkommen für die gesamte Gesellschaft sichert, nur unter Bedingungen einer freien Marktwirtschaft mit einem Primat des privaten Eigentums möglich ist. Das Setzen auf einen Staatskapitalismus und eine Entnahme von Ressourcen aus der Wirtschaft anstelle eines Investierens dieser führen letztlich zu einem staatlichen Parasitismus, zu Verschiebungen bzw. Verzerrungen in der Struktur der Wirtschaft und zu einem Rückgang oder einer Stagnation der realen Einkommen der Bürger.

Für eine Überwindung des Rückgangs und das Erreichen eines stabilen hohen Tempos für ein Wachstum muss die Wirtschaftspolitik gerade in Richtung einer Stimulierung des privaten Unternehmertums und einer Entwicklung der Konkurrenz/des Wettbewerbs umgestaltet werden. Das Land muss zu einem wahrhaft attraktiven sowohl für einheimische als auch für ausländische Investoren werden.

Für eine Anpassung der Wirtschaft an die neue Normalität und einen Übergang zu einem hohen Wachstumstempo der Wirtschaft und der Bevölkerungseinkommen ist Folgendes erforderlich:

  1. Aufgabe des sich herausgebildeten Modells des Staatskapitalismus.

Notwendig sind insbesondere eine Privatisierung von Anlagen/Aktiva staatlicher Unternehmen und eine Übergabe der verbliebene an Rentenfonds zwecks deren Verwaltung, eine Aufhebung der massenhaften verwaltungstechnischen Barrieren, das Abgehen von wirren Regulierungsprozeduren sowie der Übermacht der Vertreter der Sicherheits- und Rechtsschutzorgane. Das Hauptsubjekt der Wirtschaft muss der Unternehmer und nicht ein staatlicher Manager sein.

Der Staatsapparat muss halbiert werden, der Apparat der Rechtsschutz- und Sicherheitskräfte, der nicht zu den Streitkräften gehört, auf ein Drittel bis ein Fünftel verringert werden. Man muss die existierenden Normen zur Regulierung radikal revidieren (überarbeitet werden müssen unter anderem die Paragrafen des Strafgesetzbuches, die weite Möglichkeiten für eine strafrechtliche Verfolgung von Unternehmern schaffen, solche wie der Paragraf 159 des StGB der Russischen Föderation, der Betrugshandlungen ahndet), die geltenden Prozeduren vereinfachen sowie sich von den unnötigen Forderungen und Überprüfungen trennen.

  1. Gestaltung eines entwickelten Schuldenmarktes.

Das Business braucht Finanzierungsbedingungen, die Möglichkeiten zur Schaffung neuer verarbeitender Produktionsstätten sichern – akzeptable Finanzierungskosten, lange Laufzeiten von Krediten sowie das Ausbleiben harter Anforderungen an Kautionen.

Dafür ist nicht nur eine Senkung des Leitzinses nötig, sondern vor allem die Gestaltung eines entwickelten Marktes der Obligationen/Schuldverschreibungen. Zur Grundlage seiner Entwicklung müssen Änderungen in der Politik der Bank Russlands werden – die Gestaltung eines Programms für einen Aufkauf von Obligationen aller Typen der Wirtschaftssubjekte durch die Bank Russlands, aber auch Änderungen im System der Erstellung der Lombardliste. Außerdem sind eine Stimulierung der Nachfrage nach Obligationen nötig, darunter durch eine Abschaffung der Steuern von natürlichen Personen auf die Einkommen aus Investitionen in Schuldverschreibungen, sowie die Entwicklung eines akkumulierenden Rentensystems nötig.

  1. Übergang zu einer stimulierenden Steuer- und Haushaltspolitik.

Die Steuer- und Haushaltspolitik muss von einem Anhäufen staatlicher Reserven zu einem aktiven Stimulieren der Wirtschaftsentwicklung sowohl durch eine Anhebung der Ausgaben für eine Aufhebung/Überwindung infrastruktureller Beschränkungen als auch durch eine Reduzierung der Belastung durch den Fiskus in Gestalt von Steuern und ihnen analoger Quasi-Steuerzahlungen.

Zum wichtigsten Teil der Verringerung der steuerlichen Belastung muss die Reduzierung des MWSt.-Satzes bis auf 15 Prozent bei Festlegung eines vergünstigten Satzes von zehn Prozent für Gemeinschaftsunternehmen werden. Außerdem ist eine Verringerung der Steuerbelastung für die arbeitende Bevölkerung durch die Einführung eines steuerfreien Einkommensminimums bei der Berechnung der Einkommenssteuer erforderlich.

Notwendig ist gleichfalls eine mehrfache Anhebung der Finanzierungslimits für Programme zur Subventionierung von Zinssätzen, die durch die Branchenministerien für Projekte im Bereich der Importsubstitution und die Entwicklung des Exports realisiert werden. Erforderlich ist die Gewährung von Subventionen für die Unternehmen, die Vorhaben für Exportproduktionen und Importe ersetzende Produktionen zur Herstellung von Komponenten und Materialien verwirklichen. Nötig ist eine Erweiterung der Programme zur Kreditvergabe für Exporte, für eine Versicherung vor Risiken (darunter politischer Art) und für eine beschleunigte Rückerstattung der MWSt.

  1. Ein Setzen auf die Entwicklung der Regionen.

Die Transformation der Wirtschaft muss vom Wesen her gerade in den Regionen erfolgen, in denen existierende arbeiten und neue Produktionsstätten geschaffen werden. Gerade in den Regionen befinden sich sowohl Ressourcen als auch Produktionsstätten und Unternehmer-Initiativen.

Zu einer der Schlüsselrichtungen der Politik muss die Gewährleistung der Zugänglichkeit einer Finanzierung in den Regionen auf der Basis einer Entwicklung lokaler Finanzsysteme in allen Makroregionen – in wirtschaftlich verbundenen Gruppen von Subjekten der Russischen Föderation — werden. (Die Liste der Makroregionen kann auf der Grundlage der Strategie für eine räumliche Entwicklung der Russischen Föderation mit möglichen Korrekturen unter Berücksichtigung der neuen Realität erstellt werden.)

Erstens sind die Schaffung lokaler Finanzorganisationen und deren zusätzliche Ausstattung mit Kapital (über subordinierte Schulden) erforderlich, damit in jeder Makroregion drei Typen von Kreditinstituten entsprechend der erforderlichen Spezialisierung – eine Bank für den Außenhandel, eine Hypotheken- und eine Infrastrukturbank sowie eine Bank für die Entwicklung des Kleinunternehmertums und des Mittelstands — vertreten sind. Zweitens ist erforderlich, einen erweiterten Zugang der Subjekte der Russischen Föderation und der Kommunen zum Markt der Obligationen für eine Überwindung von Engpässen im Bereich der Transport-, sozialen, Tourismus- und anderen Infrastruktur zu sichern.

Zu einer zweiten entscheidenden Richtung muss die Bildung freier Wirtschaftszonen werden, in deren Rahmen Stimuli für eine Entwicklung der verarbeitenden Betriebe unter Hinzuziehung ausländischen Kapitals geschaffen werden. Die Attraktivität der freien Wirtschaftszonen wird wiederum durch die Zugänglichkeit qualitätsgerechter Transport- und Logistikleistungen bestimmt, die für die Unternehmen die Möglichkeit sichern, sich in Produktionsketten einzutakten, unter anderem auch in internationale.

Das Manifest Deripaskas ist eine sehr ernsthafte Zusammenstellung von Thesen, Vorschlägen und Empfehlungen. Sein Wert wird durch das richtige Aufwerfen der Frage nach einer Transformation von Russlands Finanz- und Wirtschaftspolitik vom Begreifen der neuen Realität zur Gestaltung der Wirtschaft des Landes einer neuen Normalität untermauert. Mit einem Setzen auf private Initiativen und einem hohen Wachstumstempo mit einem unbedingten Ansteigen der Einkommen.