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Das Ende der Präsidentschaft Lukaschenkos


Am Montag, dem 17. August trat der Chefredakteur der „Nesawisimaya Gazeta“, Konstantin Remtschukow, traditionsgemäß beim hauptstädtischen Hörfunksender „Echo Moskaus“ auf. 

Auf die Fragen der Moderatorin antwortend, räumte er ein, dass die Tage von Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko gezählt seien. Wie er betonte, „entspricht dieser Mann nicht mehr dem Basisansprüchen und -bedürfnissen der weißrussischen Bürger, besonders deren jungen und aktiven Teils“. Und nicht nur der jungen, sondern auch der arbeitenden Vertreter „mittleren Alters“. Das zum ersten.

„Zweitens: Ich sehe, dass er im Verständnis der Prozesse, die für die Menschen wichtig sind, zurückgeblieben ist. Er ist irgendwo in den 90er Jahren geblieben. Penetrant erinnert dies daran.

Drittens: Bei ihm sind Züge von Hysterie aufgetaucht.“

Nach Meinung von Remtschukow besitze Lukaschenko „eine philosophische Doktrin und eine Position, die durch das Anerkennen des eigenen individuellen Bewusstseins als einzige und unbestreitbare Realität und das Negieren der objektiven charakterisiert wird. … Er ist in einen Konflikt mit seinem Volk geraten“.

Lukaschenko geniere sich nicht zu artikulieren, so weiter Remtschukow, dass in seiner Vorstellung es nur einen Mann gebe, stellt sich heraus, der in der Lage sei, die Landesverfassung, die es derzeit gibt, zu nutzen und anzuwenden. Und dies sei Lukaschenko selbst. 

Lukaschenko sage: „Nein, wir beginnen einen Prozess zur Veränderung der Verfassung unter meiner Führung und fangen an, an andere Machtorgane Vollmachten zu delegieren. Und dann werden Sie leben können“. „Das heißt, er regiert das Land mit dem Gedanken, dass er allein der einzige, solch ein außerordentlicher Mann ist.“ Und natürlich sei dies nach Auffassung von Konstantin Remtschukow eine totale Loslösung von der Realität, darunter auch hinsichtlich des relativen wirtschaftlichen Wohlergehens, da dies aufgrund der großzügigen Subventionen der Russischen Föderation ermöglicht werde, worüber er im Übrigen nicht in einem Wahlkampfauftritt ein Wort verloren hätte. „Das sind da sieben bis acht Milliarden Dollar jedes Jahr im Verlauf von 26 Jahren. Ja, und dies hat dieser Geist nicht einmal eingestanden.

Und natürlich hatten wir schon damals gesehen“, fährt der Chefredakteur der „Nesawisimaya Gazeta“ fort, „dass Putin eine bestimmtere, eine härtere Haltung mitgeteilt wurde, dass dort keiner nichts schätze und man weiter erpressen werde. Ja, und seitdem haben bei uns die Schwierigkeiten in den Beziehungen angefangen. Dies hindert ihn aber nicht daran, jene 33 „Wagner“-Leute als Hauptdestabilisierungsfaktor zu bezeichnen. Und jetzt darauf anzuspielen, dass er mit Putin gesprochen habe und man Truppen der OKSV (Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages, eine militärpolitische Organisation, der Russland, Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan angehören – Anmerkung der Redaktion) nach Weißrussland entsenden kann und dass dies ein Stabilitätsfaktor sein wird. In einem Fall sind Russen auf dem (weißrussischen) Territorium eine Untergrabung der Souveränität. In einem anderen aber, wenn es brenzlig wird, wird dies keine Untergrabung der Stabilität sein. 

Daher denke ich: Dieses widersprüchliche Hirn, dass uns jetzt erschienen ist, es demonstriert natürlich die Beschränktheit solch eines Typs des Denkens von Staatsmännern.“  

Weiter erklärt Remtschukow: „Nach meiner Vorstellung gibt es einen Typ von Führungskräften, die seit den 90er Jahren an der Macht sind, die die ganze Zeit an die Schrecken der 90er Jahre appellieren und der Auffassung sind, dass ihre Errungenschaften zur Stabilisierung der sozial-ökonomischen Situation und in einer gewissen Weise der politischen ihnen eine Legitimität bis zum Tode geben…

Es stellt sich (aber) heraus, dass dies keine zeitgemäße Konzeption ist. Eine moderne Konzeption ist, die die Menschen aufgreifen, die ich als „horizontale Menschen“ bezeichne. Dies sind Menschen, die in den sozialen Netzwerken keine großen Vertikalen von Autoritäten und Macht haben, sondern die entsprechend von Horizontalen zusammenwirken. Eben dies ist die neue Generation der „horizontalen Menschen“. Sie repräsentiert eine völlig andere Kultur bei der Wahrnehmung aller Prozesse. Sie haben eine vollkommen andere Vorstellung von Gerechtigkeit. Und sie haben eine ganz andere Vorstellung von Rechten, von der Hierarchie der Menschenrechte in der ganzen Gesamtheit aller Rechte.

Ja, und in dieser neuen Generation – und dies ist doch ein Zyklus – wächst buchstäblich alle fünf Jahre eine Anzahl von diesen „horizontalen Menschen“ heran, die ein Stimmrecht haben und die eine völlig andere Vorstellung von Gerechtigkeit besitzen. Zum Beispiel: „Sie haben mich nicht zu den Wahlen zugelassen. Dies ist ungerecht!“. Die Wahlen sind in ihren Augen schon keine solchen gerechten. „Sie haben Schwindel bei der Stimmenauszählung zugelassen? Dies ist ungerecht! …

Noch ein Faktor ist die überaus brutale Unterdrückung des friedlichen Protests. Die Weißrussen… In diesem Fall habe ich begonnen, sehr stark diese ruhige staatsbürgerliche Würde dieser Menschen zu achten. Wie kann man da schlagen? Und wenn du die Zahlen anschaust… Ich habe einen Beitrag im „Wall Street Journal“ gesehen. Die Zeitung hat direkt unter dem Titel über das gestrige Meeting (am 16. August – Anmerkung der Redaktion) berichtet. Der Korrespondent schreibt: „7.000 Menschen wurden festgenommen“. Meine Freunde, 7.000 festgenommene Menschen bei diesen Aktionen, dies ist eine gigantische Zahl!“.

Hinsichtlich der Frage über Moskaus Reaktion auf die Ereignisse in Weißrussland betonte Konstantin Remtschukow: „Mir scheint, er (Lukaschenko – Anmerkung der Redaktion) hat für ein Jahr keine Chancen. Dabei besteht, wenn Sie Moskau und Minsk tangieren, wirklich eine sehr wichtige geopolitische Frage. Und wieder das „Wall Street Journal“… Ich nenne die ganze Zeit die Quelle, damit es nicht den Anschein hat, dass dies irgendeine linke oder propagandistische Quelle ist. Das Blatt zitiert Worte von Pompeo, die er am Freitag geäußert hatte, wonach Washington und Brüssel die Zusammenarbeit verstärken und festigen müssten, um dem Weißrussland Lukaschenkos nicht zu erlauben, in die Einflusssphäre Russlands abzurutschen. 

Dies belegt, dass es eine geopolitische Sichtweise hinsichtlich dieses Problems gibt. Und diese geopolitische Sichtweise ist solch eine: Es, also Washington, befürchtet, dass, wenn sie irgendwie mit Weißrussland zusammenzuarbeiten anfangen, dies irgendwie in den Einflussbereich (Russlands) geraten werde“, erklärte Remtschukow im Hörfunksender „Echo Moskaus“. Alle würden verstehen, dass dies eine geopolitische Gemengelage sei, dass dies ein Teil der OKSV, dass dies Putin sei. „Und wenn Weißrussland aus unserem Einflussbereich herausfällt, werden sie bereits die NATO sowohl zu den Grenzen der baltischen Republiken bringen als auch Polen zur Grenze des Smolensker Gebietes….

Moskau befindet sich vor einer sehr schweren Entscheidung. Denn das Paradoxe der Situation besteht darin entzieht, dass in den 90er Jahren, als es den schwachen Jelzin gab, als es die wilden 90er gab, als der Lohn in Russland 20 Dollar ausmachte, als es in der Armee kein Geld und eben all diese… Da hatten wir aber im Großen und Ganzen eine Freundschaft sowohl mit Weißrussland als auch mit der Ukraine und sozusagen die „Slawische Welt“. Und auch mit anderen Ländern hatten wir keine zugespitzten Beziehungen. Ich meine Polen und so weiter. Warum? Weil Russland wohl eher als ein Land angesehen wurde, das sich zu irgendwelchen verständlichen Werten hinbewegte, zu verständlichen Formaten für die Gestaltung eines neuen Russlands. Und dies ist stets anziehend, in welcher Gestalt Russland erscheint“, fährt der „NG“-Chefredakteur fort. 

„Jetzt aber haben wir ein Paradoxon, bei dem Russland stark ist, bei dem es sehr viel Geld gibt, bei dem jegliche Raketen über den Nordpol hinweg fliegen und alle in einer Sekunde vergehen können. Wir sehen, wie unsere Welt – die Welt unseres Einflusses, darunter mit unseren historischen Gebieten – gelangweilt ist, wie sie vernichtet wird, wie mit der Ukraine unmögliche Beziehungen bestehen. Ein Krieg. Russische Menschen lässt man nicht in die Ukraine, wobei der Verdacht gehegt wird, dass sie dort für irgendetwas kämpfen werden. Mit dem Baltikum bestehen schreckliche. Mit Polen: schlimmer geht es nicht mehr. Die Amerikaner stationieren ihre Raketen in Polen. Und (deren) Truppen sind ganz und gar neben uns. Und wenn wir jetzt Weißrussland verlieren. Was wird sich da geopolitisch ergeben?“, wirft Remtschukow als eine rhetorische Frage auf.

„In Moldawien finden am 1. November meiner Meinung nach Wahlen. Es bestehen größte Chancen, Dodon (Igor Dodon ist Präsident Moldawiens – Anmerkung der Redaktion) zu verlieren, die letzte der prorussischen Stimmen in den obersten Etagen der Politik. Und dann ergibt sich, dass Russland im Ergebnis seiner Vorstellung darüber, dass es keine wilden 90er sind, sondern dass das muskelspielende 21. Jahrhundert, all seine historischen Verbündeten verliert und seine geopolitische Lage spürbar verschlechtert. Was gibt es da zu verheimlichen? Es verschlechtert sie unbestrittenermaßen. 

Daher denke ich jetzt, dass die Falken kämpfen. Und ich denke, dass solche Falken Menschen vom Schlage aus dem nationalen Sicherheitsrat verkörpern müssen. Dies ist Patruschew, dem offensichtlich entsprechend seinem Interview … das chinesische Modell sehr gefällt. Er versteht scheinbar nicht, dass die Russen keine Chinesen sind. Daher konnte im Grunde genommen auch Gorbatschow seine Linie nicht verfolgen und mit solch einer Leichtigkeit sagen: „Es müsste so wie bei Deng Xiaoping sein: Die Herrschenden haben die ganze Macht und führen alle Reformen durch“. Ihnen scheint, dass sich irgendwer einfach geirrt hat“, setzte Remtschukow seinen Gedankengang fort.

„Und für Putin ist es jetzt, wie mir scheint, sehr ernst bestellt. … Die OKSV entsenden. Nun das, was Lukaschenko vernommen hat. Unsere hüllen sich doch hinsichtlich dessen in Schweigen, wen man entsenden soll. Wir urteilen nur anhand der Lukaschenko-Worte, der sich aufmuntert und zeigt, dass Russland uns nicht im Stich lassen werde, über das er in seiner Jahresbotschaft gesagt hatte: „Glauben Sie nicht diesen Versionen von der Türkei und Libyen! Wir wissen, warum (man sie) schickte, um zu destabilisieren!“ (Der Begriff) „Puppenspieler“ tauchte gerade hinsichtlich unseres Landes auf“, unterstrich der „NG“-Chefredakteur in Bezug auf den Zwischenfall mit den angeblichen Söldnern kurz vor den weißrussischen Präsidentschaftswahlen. 

„Sehen Sie, man muss Soldaten entsenden, wenn eine äußere Bedrohung besteht. Wenn wir sehen, wie leicht eine Provokation organisiert wird. Diese vertrauensseligen Männer in Tarnuniformen erweisen sich vollkommen ohne Grips und geben ihre Bankkarten per Telefon preis, damit sie für irgendwelche Provokationen anwirbt“, resümiert Remtschukow. 

„Jetzt muss man einem NATO-Bataillon eine große Bestechungssumme geben. Irgendein (kreml-) naher russischer Oligarch muss sie bezahlen, damit sie einen Einmarsch nach Weißrussland imitieren. Dies wird zu einem Anlass, damit die OKDV zusammenkommt und sagt: „Gemäß unserem Vertrag ist dies ein Einmarsch von außen. Wir müssen verteidigen“. Dies ist der einzige Fall. Wenn es keinen ausländischen Überfall gibt, können dort keine Truppen der OKSV sein“, konstatiert Konstantin Remtschukow nach dem Durchspielen eines möglichen Szenarios.

„Bei uns kann laut Gesetz die Armee nicht gegen das Volk sein. Wenn wir einen Unionsstaat haben, wie kann da unsere Armee gegen das Volk des Nachbarstaates Belarus sein? Ich bin der Auffassung, dass dies unmöglich ist.

Bleibt jetzt die russische Garde. Die russische Garde ist im Grunde genommen darauf getrimmt, um dieses Volk auseinanderzutreiben. Dies ist aber auch eine sehr ernsthafte politische Entscheidung. Sich einschalten für Lukaschenko, der ein so undankbarer gegenüber Russland ist, solch ein verräterischer, der die gesamte Wahlkampagne der letzten Wochen und Tage darauf aufgebaut hatte, dass Russland beinahe schlechter als der ganze Wesen sei und sich in die Angelegenheiten Weißrusslands einmische und es in die Knie zwingen möchte. Natürlich gibt es für solch einen Mann kein Vertrauen. 

Aber der Reputationsschaden dadurch, dass unsere Angehörigen der russischen Garde diese mutigen Weißrussen verdreschen werden, die auf die Straßen kommen, der kann zu einer Degradierung des Vertrauens gegenüber unseren Herrschenden unter jegliche zulässige Grenzen führen“, meint der Chefredakteur der „Nesawisimaya Gazeta“. 

„Daher denke ich nicht, dass diese Entscheidung getroffen werden kann… Und gegen das Volk darf man nicht gehen. Bei uns selbst sorgt Chabarowsk für Bambule. Ich denke, bei den Septemberwahlen wird es Unmut geben, wenn dort Ungerechtigkeit zugelassen wird. Und die größte Herausforderung ist der kommende September (2021), wenn die Staatsduma-Wahlen stattfinden werden. Hinsichtlich des gesamten Spektrums dieser Anzeichen wird im Verlauf dieses Jahres die Gesellschaft eine noch größere Klarheit der Kriterien dafür entwickeln, was Gerechtigkeit ist. Werden alle zu den Wahlen zugelassen? Werden alle Unterschriften angerechnet? Und wie wird man die elektronischen Instrumente einsetzen?“, wirft Konstantin Remtschukow seinen Blick in die nahe politischen Zukunft Russlands. 

Was für ein Ausweg kann für Weißrussland vorgeschlagen werden?

Aus der Sicht Remtschukows seien dies Neuwahlen. „Die einzige Form ist jetzt: Tichanowskaja muss zugelassen werden, Zepkalo muss zugelassen werden… Jene, die Lukaschenko ausbootete, und noch alle, die Teilnehmen möchten. Man darf sich nicht in den Wahlprozess einmischen. Man kann sich zusammen mit den westlichen Ländern für eine Beobachtung einschalten, für Transparenz, damit die Legitimität eine erschöpfende ist, damit die Ergebnisse dieser Wahlen alle anerkennen. Dies wird weitaus mehr Legitimität verschaffen.

Und siegen wird aus meiner Sicht Babariko, da Tichanowskaja nicht gewinnen kann, da sie anfangs gesagt hatte: „Es langt zu spazieren. Akzeptiert den Sieg Lukaschenkos!“. Jetzt sagt sie: „Ich bin euer nationaler Führer“. Mir scheint, dass sie den Sinn der Worte nicht ganz versteht“, erklärte Remtschukow. Es gebe bessere Worte… Ein nationaler Führer, dies sei keine Funktion. „Dies ist eine charismatische Berufung einerseits. Andererseits aber ist dies ein Verhaltenstyp. Zu nationalen Führungsköpfen werden Menschen, die an etwas glauben. Sie aber war eine Hausfrau. Sie hatte ja auch gesagt: „Ich bin eine einfache Frau“. Und das, was sie sagt… Ich habe da fast keinen Zweifel daran… Es wird keinerlei Neuwahlen mit ihrer Beteiligung geben. Sie wird nicht gewinnen, wenn alle anderen gehaltvollen Kandidaten zugelassen werden. Und mögen sie Debatten durchführen. Mögen sie erzählen“, erklärte der „NG“-Chefredakteur bei seinem jüngsten Auftritt beim hauptstädtischen Hörfunksender „Echo Moskaus“.