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Das Gesetz über „Militär-Fakes“ bringt Strafverfahren hervor


Die neue Bestimmung des russischen Strafgesetzbuches „Öffentliche Verbreitung vorsätzlich falscher Informationen als angeblich glaubwürdige Mitteilungen über die Handlungen der Streitkräfte der Russischen Föderation“ findet immer mehr Anwendung. In den letzten Tagen sind bereits vier Strafverfahren gerade gegen Medien-Vertreter der pazifistischen Bewegung eingeleitet worden. Gegen Inhaber von Internet-Ressourcen, Führungskräften regionaler Abteilungen von Oppositionsparteien und sogar Aktionskünstler. Experten sind der Auffassung, dass dies nicht so sehr auf den prophylaktischen als vielmehr auf den bestrafenden Charakter des Gesetzes über „Militär-Fakes“ hinweist.

Innerhalb von ein paar Tagen sind beispielsweise gegen das Mitglied des föderalen politischen Rates der Partei PARNAS Sergej Michailow, den Vertreter der Partei „Jabloko“ Michail Afanasjew aus Chakassien, die Künstlerin Alexandra Skotschilenko aus Petersburg und einen 40jährigen Beamten der Stadtverwaltung von Elista (Hauptstadt der russischen Teilrepublik Kalmykien – Anmerkung der Redaktion) Strafverfahren eingeleitet worden. Der Name des letzteren wurde selbst am Samstag nicht von der kalmykischen Verwaltung des Untersuchungskomitees Russlands preisgegeben, dafür aber, dass er von seinem Dienstcomputer aus vom 17. März bis einschließlich 11. April auf seinem Telegram-Kanal Posts veröffentlicht hätte, um „falsche Angaben über die Zahl der Gefallenen und Details der Sonderoperation der Streitkräfte der Russischen Föderation in der Ukraine“ zu verbreiten.

Michail Afanasjew ist dabei nicht bloß ein oppositioneller Aktivist, sondern auch noch der Chefredakteur eines Internetportals, auf dem Materialien „gegen die Sonderoperation der Russischen Föderation auf dem Territorium der Ukraine“ publiziert wurden. Gegen ihn wurde nun ein Verfahren entsprechend Punkt „a“ des Teils 2 des Artikels 207.3 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation eingeleitet, das heißt wegen der Verbreitung von „Fakes über die Streitkräfte der Russischen Föderation“ unter Ausnutzung der Dienststellung. Dafür sind, daran sei erinnert, entweder eine Geldstrafe von drei bis fünf Millionen Rubel (umgerechnet 33.322 bis 55.537 Euro) oder eine Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren vorgesehen. (In der Lesart der russischen Justiz sind entsprechend dem ausgewiesenen Artikel nunmehr glaubwürdige Informationen über die russische Operation im Nachbarland nur die, die durch das russische Verteidigungsministerium offiziell verbreitet worden sind. Offizielle Angaben aus dem ukrainischen Verteidigungsministerium sind damit also Fakes, widerrechtliche und strafbare. – Anmerkung der Redaktion)

Die Petersburger Aktionskünstlerin verhaftete man aufgrund einer Performance entsprechend dem gleichen Artikel des StGB, aber mit Angaben des Punktes „e“ – „aufgrund von Motiven politischen Hasses“. Skotschilenko wirft man vor, dass sie Preisschilder in einem Lebensmittelgeschäft gegen Sticker mit pazifistischen Formulierungen ausgetauscht habe. Allem nach zu urteilen war im Weiteren vorgesehen worden, die entsprechenden Darstellungen im Internet zu verbreiten, um den Zugang eines unbestimmten Kreises von Personen zu ermöglichen.

Dem PARNAS-Vertreter Michailow hängt man gleichfalls den Punkt „e“ des Teils 2 des Artikels 207. 3 des Strafgesetzbuches an. Aus Moskau brachte man ihn nach Gorno-Altaisk für die Vornahme von Untersuchungshandlungen. Sergej Michailow gibt die oppositionelle Wochenzeitung „Listok“ („Das Blättchen“) heraus, die nach dem 24. Februar, dem Beginn der von Wladimir Putin befohlenen militärischen Sonderoperation in der Ukraine, pazifistische Materialien solcher Art publiziert, dass aufgrund dieser selbst Senatoren Beschwerden und Anzeigen an den Generalstaatsanwalt richteten. Die Herausgeberin des Blattes Olga Komarowa ist nach einer von solchen Veröffentlichungen bereits mit einer Strafe von 100.000 Rubeln belegt worden. Und die Zeitung an sich erhielt eine Bestrafung in der Höhe von 300.000 Rubeln.

Der rätselhafteste Fall ist aber nach wie vor die Festnahme in Kalmykien. Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB hatten einen Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Elista festgenommen. Und die Anklage gegen ihn ist im Vergleich zu den oben beschriebenen Fällen die umfangreichste, so dass eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren droht, zumal in solchen Fällen die Richter gern den Ansagen der Anklage folgen. Im Übrigen wurde früher auch gegen die Englischlehrerin Irina Gen aus Pensa Anklage erhoben, da sie „Militär-Fakes“ unter Ausnutzung der Dienststellung verbreitet habe, indem sie die Unterhaltung mit ihren Schülern zu dem inzwischen heiklen Thema nicht richtig geführt hatte.

Und natürlich werden auch massenhaft Ordnungsstrafverfahren eingeleitet, die entsprechend dem Prinzip des „Dadin“-Artikels über die Bestrafung aufgrund einer mehrfachen Verletzung des Gesetzes über Meetings im Artikel 207.3 eine präjudiziale Bedeutung besitzen. Anders gesagt: Vor einem Strafverfahren muss es mindestens zwei Bestrafungen entsprechend dem Ordnungsstrafrecht gegeben haben. Und bis heute sind ab dem Zeitpunkt der Einführung einer Bestrafung aufgrund einer Diskreditierung der Armee bereits über 600 Fälle bei den Gerichten eingegangen. Allein in der westsibirischen Stadt Surgut haben sich die Mitarbeiter der Polizei durch besonderen Eifer ausgezeichnet und über 70 Einwohner aufgrund pazifistischer Informationen in den sozialen Netzwerken mit Strafen belegt.

Die außerparlamentarische Partei „Jabloko“ führt beispielsweise ein richtiges Register ihrer Vertreter, die Geldstrafen und – was bisher selten geschieht – Ordnungshaftstrafen bekommen haben. Es macht Sinn zu betonen, dass in der strafrechtlichen Phase bisher auch nicht Teil 3 des Artikels 207.3 ausgemacht worden ist, in dem eine Bestrafung von zehn bis fünfzehn Jahren Freiheitsentzug vorgesehen ist. Möglicherweise, weil in ihm vom Eintreten schwerer Folgen im Ergebnis der Verbreitung von „Militär-Fakes“ die Rede ist. Und so etwas muss zumindest auf minimale Weise überzeugend bewiesen werden (obgleich dies in den russischen Gerichten inzwischen ein Kinderspiel ist – Anmerkung der Redaktion). Aber gerade diese Tatsache belegt hinreichend, dass das neue Gesetz – im Unterschied zum bereits erwähnten „Dadin“-Gesetz – allem nach zu urteilen ursprünglich gar nicht als eine gewisse verwarnende und prophylaktische Maßnahme vorgesehen wurde. In das Spektrum seiner Aufgaben wurden sofort Repressalien aufgenommen, was das schnelle Auftauchen jener Bürger belegt, denen bereits zwei Ordnungsstrafen anhängen.

Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow bestätigte der „NG“, dass „bei weitem keine zufälligen Menschen verfolgt wurden und werden“. Dies sind tatsächlich erstens Besitzer von Printmedien, wenn auch kleine, oder populäre Blogger. Und zweitens sind dies die aktivsten und agilsten Nichteinverstandenen. „Natürlich hat das generelle Kommando zur massenhaften Anwendung des neuen Paragrafen des Strafgesetzbuches das föderale Zentrum gegeben. Sicherlich aber haben all diese Menschen so oder anders bereits die Gereiztheit der regionalen Offiziellen ausgelöst. Und man hatte sie sozusagen schon auf dem Kicker. Und da hat sich ein bequemer Anlass ergeben, sie „dicht zu machen“, das heißt aus dem politischen Leben zu entfernen“. Derweil erinnerte der Experte daran, dass aufgrund solch einer massiven Politik der Stärke durch die Offiziellen und der ihren folgenden Emigration ein umfangreicher pazifistischer Protest in Russland praktisch verschwunden ist. Folglich sind jetzt gewisse oppositionelle „Restbestände“ unter Druck geraten. „Die Strafverfahren gegen sie sollen als eine Lehre für die verbliebenen Nichteinverstandenen dienen, damit sie sich still und leise verhalten und schweigen. Solange die Sonderoperation (die am Samstag bereits den 52. Tag andauerte – Anmerkung der Redaktion) erfolgt, werden sich die Herrschenden gerade mit solch einer Prophylaxe befassen – mittels Repressalien und keine Anspielungen auf sie“.