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Das „Große Turan“ kann über das wahre Turan stolpern


Das Vorfeld des turnusmäßigen Summits der Organisation der Turk-Staaten (OTS), der am 11. November im usbekischen Samarkand stattfinden wird, ist traditionsgemäß durch eine Reihe von Vorbereitungstreffen, Ereignissen, durch eine „Shuttle“-Diplomatie und eine Reihe von programmatischen Erklärungen geprägt worden. Am 17. Oktober hatten in Istanbul eine außerplanmäßige Tagung des Rates der OTS-Außenminister, eine Beratung moslemischer Religionsführer der OTS-Mitgliedsländer, eine Sitzung der Transportminister, ein erstes Treffen der Landwirtschaftsminister der OTS und das Turk-Agrarforum stattgefunden. Es erfolgte eine ganze Reihe von gegenseitigen Besuchen der Präsidenten der Mitgliedsländer der OTS: Der türkische Präsident weilte zu einem Besuch in Aserbaidschans, Turkmenistans Präsident in Kasachstan, Usbekistans Staatsoberhaupt – in Turkmenistan, aber auch in Ungarn, Aserbaidschans Präsident – in Kirgisien. Es erfolgten aber auch noch häufigere Besuche von Ministern der Länder der OTS. Und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan empfing den Leiter der Administration des Präsidenten Usbekistans. Es sei daran erinnert, dass gerade Usbekistan in diesem Jahr das Gipfeltreffen der Oberhäupter der Mitgliedsländer der OTS ausrichtet. Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu kündigte die Bildung eines Turk-Investitionsfonds der OTS an, und Delegationen der OTS-Mitgliedsländer gaben bei einer Beratung die Bildung einer Kommission zur Schaffung eines einheitlichen turk-sprachigen Alphabets bekannt, deren erste Sitzung noch in diesem Jahr in Bischkek erfolgen soll.

Der unermüdliche Bagdad Amrejew, Generalsekretär der OTS, hat alle oder fast alle Länder der Organisation bereist. Bei seinem Besuch in Istanbul erklärte Amrejew: „Der Summit in Samarkand wird zu einem Gipfeltreffen, das die Realisierung der historischen Entscheidungen abschließen wird, die beim letzten Summit in Istanbul verabschiedet worden waren“, zitierte die türkische Nachrichtenagentur „Anadolu“ Amrejew. Natürlich wurde der Präsident der Türkei gesondert gewürdigt, der nach Aussagen von Amrejew „die gesamte turk-sprachige Welt vereinen konnte“. „Während vor vier Jahren der Organisation der Turk-Staaten vierten Staaten angehörten, so sind heute derer sieben. Heute agieren die Turk-Länder erstmals in der Geschichte als eine geschlossene Front. Die turk-sprachige Welt wird zu einer Realität. Wir sind vereint, wir sind stärker. Und dies ist ein neues Paradigma“.

Es gibt aber einen Staat, der eine Sonderstellung einnimmt und das „Turk-Paradigma“ von Herrn Amrejew verdirbt. Dies ist Turkmenistan. Es ist Beobachter in der OTS (neben Ungarn), aber der einzige turk-sprachige Staat, der lange eine Mitgliedschaft in der Turk-Union ignorierte. Turkmenistan trat ihr beim VIII. Summit bei, als die Turk-Union im vergangenen Jahr in die Organisation der Turk-Staaten umgewandelt wurde. Während des Aschgabat-Besuchs des Generalsekretärs der OTS im September dieses Jahres hatte Amrejew alle Anstrengungen aufgeboten, damit Turkmenistan eine öffentliche Zustimmung zum Beitritt zur Organisation bekundet. Die turkmenischen Offiziellen haben sich aber nur auf die Versprechen beschränkt, die humanitäre und wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der OTS zu verstärken, wobei die Frage nach einer vollwertigen Mitgliedschaft umgangen wurde. Nicht geholfen hatte auch der vorausgegangene Druck „durch schwere Artillerie“ in Gestalt des türkischen Vizepräsidenten Fuat Oktay, der zwei Woche zuvor in Aschgabat gewesen war. „Wir würden gern das Bruderland Turkmenistan, das in der OTS als Beobachterland auftritt, als ständiges Mitglied beim nächsten Treffen sehen, das in Usbekistan stattfinden wird“, erklärte Oktay während seines Besuchs. Es hatte nicht geholfen. Die turkmenischen Offiziellen hüllen sich hinsichtlich einer Mitgliedschaft nach wie vor in Schweigen. Der Besuch von Oktay galt aber praktischeren Sachen. „Bei einer Zusammenarbeit der Türkei, Aserbaidschans und Turkmenistans können wir turkmenisches Gas nach Anatolien pumpen, wobei wir es über die Pipeline TANAP leiten“, erklärte er bei der Sitzung der turkmenisch-türkischen Regierungskommission für Wirtschaftskooperation, zu der er im Grunde genommen auch als Leiter der türkischen Delegation gekommen war. Es sei übrigens gesagt, dass die turkmenischen Offiziellen auch diesen Vorschlag der türkischen Offiziellen zu Gaslieferungen in die Türkei unterkühlt aufgenommen hatten. Eine der turkmenischen Internetseiten, die von den turkmenischen Behörden für ein inoffizielles Verbreiten offizieller Positionen verwendet wird, veröffentlichte im Zusammenhang mit diesem Vorschlag des Vizepräsidenten der Türkei eine interessante Passage: „Den Versuch zu unternehmen, irgendwelche Vorteile zu erzielen, indem die zeitweiligen Schwierigkeiten eines Freundes ausgenutzt werden, ist einfach unanständig“, wobei in dem Text unter „Freund“ die Russische Föderation verstanden wurde, für die Probleme mit Gaslieferungen nach Europa im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine begonnen hatten. Das Vorgehen der turkmenischen Offiziellen, das durch turkmenische Medien so vage gecovert wurde, ist gehörig gewürdigt worden. Der „Senior“-Präsident Turkmenistans, Gurbanguly Berdymuchamedow, wurde mit dem russischen Orden „Für Verdienste vor dem Vaterland“ IV. Grades ausgezeichnet. Seine Übergabe erfolgte am 2. November in Moskau. Aber der von Oktay angekündigte Besuch des turkmenischen Präsidenten hat bisher nicht stattgefunden. Genauso wie auch der gleich danach geplante trilaterale Summit Türkei-Turkmenistan-Aserbaidschan.

Wie dem nun auch immer sein mag: Turkmenistan ist für die Interessen der Türkei in Vielem ein „Schlüssel“-Land. Dies hängt sowohl mit einem rein angewandten Interesse – durch Turkmenistan verläuft die optimalste Route nach Zentralasien aus dem bereits vollkommen durch die Türkei erschlossenen Aserbaidschan – als auch mit einem „sakralen“ Interesse zusammen. Es wird die Auffassung vertreten, dass das historische Territorium von Turkmenistan die Urheimat des Kerns der Turk-Stämme sei, die als Nomaden gen Westen gezogen waren und den Anfang für die Bildung der eigentlichen türkischen Nation und des eigentlichen türkischen Staates gemacht hätten. Ja, und der aktiv von den türkischen und protürkischen Kräften strapazierte Begriff „Turan“ bezüglich einer pantürkischen Vereinigung befindet sich geografisch auf dem Territorium des heutigen Turkmenistans, obgleich es historisch nichts Gemeinsames mit den Türken, den turk-sprachigen Vertretern und der neuerfundenen Konzeption von einem „Großen Turan“ hat.

Kommt man zu den rein angewandten bzw. konkreten Zielen der türkischen Politik in Bezug auf Turkmenistan zurück, macht es Sinn zu betonen, dass dieses Interesse mehrere Kontexte besitzt. Der erste und bisher noch aktuelle zum gegenwärtigen Moment ist der Erhalt eines Zugangs zum turkmenischen Gas. Die sich als „Gas-Hub für Europa“ positionierenden türkischen Offiziellen hatten darauf gehofft, Gaslieferungen aus Turkmenistan an dessen Struktur anzukoppeln.

Ein nicht weniger wichtiger Kontext der türkischen Interessen sind auch die Transportmöglichkeiten hinsichtlich der Linie Baku – Turkmenbaschi (Krasnowodsk), wo ein neuer Seehafen gebaut wurde. Dies ist die kürzeste funktionierende Route in die anderen Länder Zentralasiens und nach Afghanistan. Im Unterschied zur nördlichen Route über das Kaspische Meer nach Kasachstan ist die Route über Turkmenistan weitaus kürzer. Dies betrifft besonders Afghanistan, wohin Turkmenistan bereits zwei Eisenbahn-Übergangsstellen – Serchedabat (Kuschka) und Imamnazar-Akina – mit der Perspektive einer weiteren Anbindung von Herat, Balch und Masari-Scharif geschaffen hat.

Die Geschichte der Wechselbeziehungen von Turkmenistan und der Türkei besitzt einen extrem widersprüchlichen Charakter. Stets wurde ein Festhalten an der „gesamthistorischen Gemeinsamkeit“ und an anderen Ideologemen deklariert. Tatsächlich aber ist die Präsenz des türkischen Business, der Haupttriebkraft für die türkischen Interessen in Turkmenistan, bis auf ein historisches Minimum zurückgefahren worden, wie auch die Tätigkeit der unterschiedlichen Institute für „Soft Power“ der Türkei in Turkmenistan. Die Politik der türkischen Offiziellen zeichnete sich gleichfalls nicht durch Konsequenz aus. Die kann man sogar als eine chaotische in Bezug auf Turkmenistan charakterisieren. Die türkischen Offiziellen konnten den turkmenischen nichts Gehaltvolles und wirtschaftlich Konkretes außer die Mitgliedschaft im Turk-Council anbieten, gegen die sich die turkmenischen Offiziellen lange Zeit gesperrt hatten.

Die Offiziellen Turkmenistans, die keine einfachen und eindeutigen Beziehungen sowohl mit den türkischen Offiziellen als auch im weiteren Sinne mit der türkischen Präsenz haben, stehen äußerst vorsichtig jeglichen Integrationsangeboten generell und besonders der Türkei gegenüber. Gerade Turkmenistan hat in vollem Maße einschätzen können, wie sich die Türkei geschickt bemüht, alles Turk-Artige durch Türkisches zu ersetzen, wie genau der Turkologe Wladimir Awatkow anmerkte. Und dies hat es bereits geschafft, nicht nur den turkmenischen Offiziellen nicht zu gefallen, sondern auch der turkmenischen Gesellschaft, die den recht dreisten Versuch einer türkischen Assimilation in den 90er und Nulljahren nicht akzeptiert hatte. Vielen sind die an Pogrome erinnernde Razzien türkischer „Freiwilliger“ auf festlichen Basaren von Aschgabat gegen die Vorbereitungen zu den Feiern am 8. März, der in Turkmenistan schon längst zu einem Feiertag des Volkes geworden war, in Erinnerung geblieben. Und vieles andere.

Bagdad Amrejew betonte in einem Interview für die türkische Nachrichtenagentur „Anadolu“, dass „es nicht einfach gewesen war, die heutigen Erfolge der turk-sprachigen Welt zu erreichen“. Geblieben ist nur, die Kraft – von Versprechen von Perspektiven, einer politischen Schirmherrschaft, von Listigkeit und Geld – für eine Einbeziehung des wahren Turans in den Bestand des „Großen Turans“ anzuwenden