Vertreter der russischsprachigen Gemeinde Israels haben bekanntgegeben, dass in der nächsten Zukunft im Land ein Zentrum des Erbes der Juden der UdSSR entstehen wird. Auf entsprechende Fragen der „NG“ zur inhaltlichen Ausfüllung des Begriffs „sowjetische Juden“ antwortete der Schriftsteller David Markish.
Warum ist die Gemeinschaft, der das künftige Zentrum gewidmet wird, gerade als Juden der UdSSR und nicht – sagen wir einmal – Russlands bezeichnet worden? Hängt dies vor allem mit der historischen Periode der Sowjetmacht zusammen?
Die Juden der UdSSR oder umgangssprachlich: die sowjetischen Juden waren von den Juden der Zarenzeit durch eine unüberwindliche kulturelle und soziale Mauer abgeschottet worden. Letztere hatten sozusagen unter Verschluss und ohne ein Ausreiserecht in einem ausgedehnten Ansiedlungsrayon (dem Tscherta osedlosti) gelebt, der durch Katharina der Großen auf dem Territorium Osteuropas etabliert worden war, und sprachen Jiddisch. Den Rayon, den man mit vollem Recht „Jiddischland“ bezeichnen kann, existierte bis zum Februar 1917 und wurde durch einen der ersten Beschlüsse der Provisorischen Regierung aufgehoben. Bis zur Zeit des bolschewistischen Umsturzes hatten es die freigekommenen Juden geschafft, mit leichter Seele den innerhalb von 200 Jahren einem über gewordenen Ansiedlungsrayon zu verlassen und sich in Städten Zentralrusslands niederzulassen. Sie hatten mit ihren Nachfahren auch den Grundstock des künftigen sowjetischen städtischen Judentums gebildet. Bis zum heutigen Zeitpunkt sind die Juden des zaristischen Ansiedlungsrayons schon längst ausgestorben, ja und von den sowjetischen ist lediglich ein kleines Überbleibsel geblieben – in Russland, in Israel und in Amerika. Die Zeit hat ihren Preis. Wir, die geblieben sind, verwandeln uns ein wenig in Artefakte und dienen als ein Gegenstand für eine Untersuchung durch Wissenschaftler – von Historikern und Ethnografen. Uns gegenüber, gegenüber den „russischen Juden“ hat man eine gelungene Formulierung von irgendwem angewandt: „Wir alle sind aus dem Ansiedlungsrayon wie die russische Literatur aus der Gogol-Novelle „Der Mantel“ hervorgegangen“.
In welchem Maße stellen die Juden der UdSSR ein besonderes Phänomen dar? Schließlich war scheinbar nicht eine Gemeinde so sehr eines Zugangs zum religiösen Erbe beraubt worden. Und die nationale Identität wurde durch irgendwelche Faktoren bestimmt, aber nur nicht durch religiöse. Ist dem so?
Im Verlauf seiner ganzen Geschichte hatte sich das Judentum als eine nationale Gemeinschaft durch eine unerschütterliche religiöse Einheit und Geschlossenheit erhalten. Bis Mitte der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte in der Sowjetunion ein staatlicher Antisemitismus Verbreitung gefunden und war erstarkt. Er umfasste verständlicherweise eine Schließung von Synagogen und eine Ausrottung der Religion.
Die fundamentale Kategorie „jüdisches Leben“, die über Jahrtausende untrennbar vom Volk gewesen war, hatte sich im sowjetischen Alltagsleben wie das Salz in der Suppe aufgelöst. Die Juden, denen konsequent die nationale Kultur, die Religion und die Muttersprache genommen wurde, verwandelten sich in mustergültige Vorzeige-Sowjetmenschen, in die sogenannten „Sowkis“. Und dennoch hatte die jüdische nationale Minderheit in der UdSSR entgegen der Logik und den Repressalien ihre natürlichen Wesenszüge bewahrt. Dies förderten die angeborene Angst vor einer Loslösung vom Stamm des Volkes, die einem schändlichen Verrat gleichgestellt wurde, und die sture Abgeschlossenheit im Rahmen eines engen Kreises im Alltag, in den lediglich die „eigenen“ – die Juden – gelassen wurden. Alle anderen aber waren letztlich „Fremde“. Auf den ersten Blick nicht auszumachende Bande hatten die Juden in der UdSSR verbunden und zusammengeschweißt. Diese Verbindung offenbarte sich auf signifikanteste Weise, sobald Anfang der 1970er Jahre sich die vage Möglichkeit ergeben hatte, nach Israel unter dem angeblichen Vorwand der „Familienzusammenführung“ zu emigrieren. Ich kannte ein junges Mädchen, dass bei der Abgabe der Dokumente für die Bitte um Ausreise unter dem Punkt „Haben Sie Verwandte in Israel?“ auswies: „Ja, die gibt es. Fünf Millionen Brüder und Schwestern“.
Wird die Teilnahme von Fachleuten jüdischer Herkunft an der atheistischen Arbeit in den 1920er und 1930 Jahren widergespiegelt werden? Und wie ist das zu bewerten?
Das zerstörerische Wirken der bolschewistischen Banditen aus dem jüdischen Milieu, sei es auf dem Gebiet des Atheismus oder im blutigen Sumpf der Tscheka (1917 gegründete Staatssicherheit Sowjetrusslands, auf deren Tradition sich die politische Polizei der Ende 1922 gegründeten Sowjetunion berief – Anmerkung der Redaktion) gewesen, wird unserer Aufmerksamkeit nicht entgehen und nicht ausgeklammert. Es hat solche Monster gegeben. Derer gab es nicht wenige. Dem ist wirklich so: „Jede Familie hat ihre schwarzen Schafe.“.
Kann man als einen Teil dieser kulturellen Gemeinsamkeit der Juden, die andere Religionen angenommen haben, vor allem das orthodoxe Christentum ansehen? Man kann sich an Alexander Men oder Georgij Edelstein, den Vater eines bekannten israelischen Politikers, erinnern… Oder hat man sie „vom Volk losgelöst“?
Der Judaismus ist die Religion der Juden. Der Jude, der die Religion wechselte, löst sich eigenhändig von seinem Volk, von dessen religiösen Teil. Aber man darf nicht vergessen, dass nicht weniger als die Hälfte der Juden weltliche Menschen sind. Sie halten nicht die religiösen Riten ein und befolgen nicht die strengen Gebote, was sie nicht hindert, an einen unbelebten vernünftigen Ansatz – anders gesagt: an Gott zu glauben. Sie sind keine religiösen, sie sind Gläubige. Der Geistliche Alexander Men, ein kluger und außerordentlich charismatischer Mann, strebte danach, eine „goldene Mitte“ zwischen dem Christentum und Judaismus zu finden. Ich denke nicht, dass ihm dies gelungen ist.
Welche Bedeutung hatten Israel und der Zionismus für die Identität der Juden der UdSSR? Haben sie nicht als ein Ersatz für den Judaismus gedient – im Zusammenhang mit der Schwierigkeit bei der Ausübung des Glaubens in der Sowjetzeit und der vorrangigen Bedeutung der Ideologie im Alltagsleben?
Für die sowjetischen Juden wurde Israel ab dem Tag seiner Proklamierung als ein unabhängiger Staat am 14. Mai 1948 zu einem wahren Nationalen Haus, das durch die „Eigenen“ – durch freie Juden eines freien Landes – bewohnt wird. Das Streben der „Sowjetbürger jüdischer Nationalität“ aus der unter sieben Siegeln befindlichen UdSSR nach Israel, zu den eigenen, ist verständlich: Die Menschen, die die Zwangsassimilierung nicht angenommen hatten, zog es zu den nationalen Wurzeln. Das Emigrationsverbot, die Ermordung von Michoels (Solomon Michoels, Regisseur des Staatlichen Jüdischen Theaters, war 1948 ums Leben gekommen – „NG“) und die Abrechnung mit dem Jüdischen antifaschistischen Komitee sowie die sogenannte Ärzteverschwörung (ein Ende 1952 von Josef Stalin und einigen Gefolgsleuten erfundenes Komplott von Medizinern vor allem jüdischer Herkunft – Anmerkung der Redaktion) – all dies hatte die Situation nur aufgeheizt: „Pharao, lass mein Volk ziehen!“ (Das Buch Exodus, Kapitel 9 – Anmerkung der Redaktion). Nicht die zionistischen Ideen, nicht die Religion haben die Juden auf die Beine gebracht, sondern das Streben, in der eigenen Familie, im Mutterland zu leben.
Wie kommt im modernen Israel der Einfluss des sowjetischen und postsowjetischen Judentums zum Ausdruck? Der Jahreswechsel mit einem Tannenbaum. Man hat sogar scheinbar angefangen, die Butterwache (Masleniza) in israelischen Städten zu begehen. Gibt es irgendetwas tiefer Liegendes im Erbe der Juden der UdSSR, was dem geistlichen Leben der Israels einen Stempel aufdrückt?
Die anderthalb Millionen aus der UdSSR bzw. der Russischen Föderation stammenden Menschen zählende Gemeinde hat einen beständigen Platz in der israelischen Gesellschaft gefunden – sowohl sozial als auch politisch. Ein Teil der „russischen Juden“ wandte sich der Religion zu, sogar ihren ultraorthodoxen Grundfesten. Der größere Teil aber ist ein weltlicher geblieben, der die Liebe zu den gewohnten Feiertagen und Festen bewahrt, zum Beispiel zum für die indigenen Israelis untypischen gregorianischen Neujahrsfest mit einem Tannenbaum und Geschenken. Und da sind bereits in den „russischen“ Läden Schneeweißchen-Figuren aufgetaucht. Und die Ladenregale sind mit Papierschlangen und Weihnachtsbaumschmuck geschmückt. Wem es gefällt – der guckt hin, wem es nicht gefällt – der wendet sich ab. Das ist Freiheit! Die heidnische Masleniza feiert man bei uns nicht, doch Eier- bzw. Pfannkuchen mag man. Wer mag sie schon nicht?! Und das hat hier überhaupt nichts mit dem „sowjetischen Volk“ zu tun. Über dessen Existenz auf den Trümmern des vergangenen Jahrhunderts erinnern sich bereits wenige. Und sein Einfluss auf das geistliche Leben der Israelis ist, wenn er nicht gen Null tendiert, so doch praktisch nicht auszumachen.
Kann man von einem monolithischen Charakter des Erbes der Juden der UdSSR sprechen? Hatte sich nicht etwa das Leben der jüdischen Intelligenz in Moskau und Leningrad auf grundlegende Weise von der Lebensweise der jüdischen Bevölkerung von Tbilissi und Derbent unterschieden?
Man kann wohl kaum einen monolithischen Charakter im Erbe des sowjetischen Judentums, das an die israelischen Ufer gebracht worden ist, finden, außer in den in die Tiefe der Jahrhunderte zurückreichenden vagen Erinnerungen über die blutigen Verfolgungen, ja und noch über die Heldentaten unserer ruhmreichen Vorfahren in jenen weitzurückliegenden biblischen Zeiten, als das einfache jüdische Volk über die Hügel von Judäa und Samaria Schafe und Ziegen getrieben hatte. Die Geschichte, allein nur die Geschichte bringt unsere Juden, die über die ganze weite Welt verstreut worden sind, zusammen und vereint sie – Wissenschaftler und Ungebildete, Reiche und Arme, Dummköpfe und Kluge. Was kann noch Akademiemitglied Landau mit der Bierhändlerin Tante Chasja, die emsig das Fassbier mit Wasser aus dem Teekessel verdünnt, verbinden? Und alle Millionen unserer Stammesangehörigen haben in der Sowjetunion gelebt, für ihren Ruhm gearbeitet, Kinder zur Welt gebracht und großgezogen und sich zur ewigen Aufbewahrung in den russischen Boden gelegt. Die Kultur und Wissenschaft funkeln durch die Brillanten jüdischer Namen, die keinem Verlöschen ausgesetzt worden sind. In Moskau und Nowosibirsk, in Tbilissi, Alma-Ata und Taschkent hatten die sowjetischen Juden Verwandte gefunden, und es hatte sie zu ihnen gezogen, zueinander. In diesem Verlangen liegt die phänomenale Überlebensfähigkeit unseres Volkes.