Die Parlamentswahlen in Deutschland haben einen Schlussstrich unter die 16jährige Ära von Angela Merkel gezogen. Damit wird erstmals in der bundesdeutschen Geschichte freiwillig das Kanzleramt verlassen. Sowohl die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), die die Christdemokraten mit einem geringen Vorsprung besiegte, als auch der Block CDU/CSU sind gezwungen, Verbündete für die Bildung einer Regierungskoalition unter den kleinen Parteien – der Grünen (Bündnis 90/Die Grünen) und die Freien Demokraten (FDP) — zu suchen. Heute zeichnen sich zwei Konfigurationen für eine mögliche Regierungskoalition ab: eine Jamaika-Koalition (aus Vertretern der Christdemokraten, Freien Demokraten und den Grünen) oder eine Ampel-Koalition (mit Vertretern der SPD anstelle der CDU). Laut Meinungsumfragen, die durch das Insa-Forschungsinstitut durchgeführt wurden, ist die Jamaika-Variante die Regierungskoalition, die am geringsten favorisiert wird.
Nicht vollkommen auszuschließen ist auch eine Koalition von SPD und CDU/CSU (eine „Große Koalition“) unter Beteiligung entweder der Grünen oder der Freien Demokraten, obgleich sowohl die Sozialdemokraten als auch die Christdemokraten derzeit die Möglichkeit eines gemeinsamen Bündnisses verwerfen. Derweil war entgegen den unversöhnlichen Erklärungen die letzte erzwungene „große Koalition“ nach den Septemberwahlen von 2017 im März des Jahres 2018 gebildet worden, als sich die Perspektive von Neuwahlen abgezeichnet hatte.
Die dominierende Meinung hinsichtlich des Ausgangs der Koalitionsverhandlungen unabhängig davon, was für eine Koalition dabei herauskommen wird, besteht darin, dass im Land eine Kontinuität bezüglich der Ära von Angela Merkel gewahrt bleibe. Bekanntlich steckt aber der Teufel im Detail. Zweifellos wird die Beteiligung der kleinen Parteien an der Regierungskoalition neue Akzente in Deutschlands Politik setzen. Die Grünen setzen stärker auf die Lösung der Probleme des Umweltschutzes, der Klimaveränderungen und auf eine Anhebung der Steuern, während die Freien Demokraten einen wirtschaftlichen Liberalismus und die Menschenrechte favorisieren. Eine Jamaika-Koalition wird im Vergleich zur „Ampel“ eine härtere Haltung gegenüber Russland unter Berücksichtigung der kritischen Einstellung der Grünen und Freien Demokraten einnehmen.
Die potenziellen Koalitionspartner trennt auch die Haltung zur Einwanderungsfrage. Die Grünen plädieren für eine festgeschriebene Anzahl von Einwanderern, die die BRD aufnehmen kann. Die CDU und CSU sind gegen solch eine Vorgehensweise. Die SPD tritt mit einer stark ausgeprägten sozialen proeuropäischen Tagesordnung an. Es steht außer Zweifel, die großen Parteien werden in beiden Koalitionen versuchen, die Differenzen zwischen den Grünen und Freien Demokraten auszugleichen, die ideellen Differenzen werden aber ständig Probleme bei der Ausarbeitung eines Kompromisses verursachen.
Wenn man über die Kontinuität der künftigen Regierung im Zusammenhang mit der Merkel-Ära spricht, muss man begreifen, worin eigentlich die Wesenszüge ihres Kurses bestanden. Nach Meinung vieler Vertreter der Experten-Community umschreiben zwei Worte – „Zuverlässigkeit“ und „Stabilität“ – am besten das Wesen der Führung von (Angela) Merkel.
Der Stil ihrer Politik sowohl in Deutschland als auch im Ausland wurde von einer detaillierten Kenntnis der Fakten bestimmt, von einem Stützen auf einen breiten Konsens hinsichtlich der wichtigsten Fragen und dem Bestreben, in der Politik Extreme und übermäßige Emotionen zu vermeiden. In den Jahren ihrer Führung ereigneten sich eine Reihe ernsthafter internationaler, europäischer und innere Krisen. Dies sind die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise (2008), die Euro-Krise (2010), die Krise in den Beziehungen mit Russland nach dem Beitritt der Krim (2014), die Einwandererkrise im Ergebnis des arabischen Frühlings (205), der Brexit (2016), die Krise in den euro-atlantischen Beziehungen in der Amtszeit von Donald Trump, die COVID-19-Pandemie und das Verlassen Afghanistans durch die Vereinigten Staaten.
In den Krisenzeiten übernahm Merkel oft eine Führungsrolle in der EU, obgleich ihr Ziel nicht so sehr in deren Lösung als vielmehr in einer Eindämmung ihrer negativen Konsequenzen bestand. Solch eine Stellung in der Europäischen Union hatten ihr nicht nur die Rolle Deutschlands als wichtigste europäische Wirtschaftsmacht, sondern auch die persönlichen Qualitäten, vor allem der Pragmatismus und Ausdauer, gesichert. Es ist offensichtlich, dass, wer auch immer formal neuer Bundeskanzler wird, er nicht den Platz von (Angela) Merkel in der europäischen Politik einnehmen kann, der in Vielem durch ihre individuellen Qualitäten bestimmt wurde. Zur gleichen Zeit hat die Kanzlerin als eine effektive Organisatorin traditionell die Frage nach einer strategischen Entwicklung der europäischen Integration umgangen, wobei sie Wirtschaftlichkeit und ein striktes Befolgen der Regeln Reformen vorzog.
Von diesen Prinzipienließ sich die Kanzlerin auch im Land leiten. Die Wirtschaftserfolge Deutschlands unter Merkel haben keine Fortsetzung in strukturellen Reformen – in einer Digitalisierung, im Übergang zu einer „grünen“ Wirtschaft sowie zu Umgestaltungen im Bildungsbereich und bei der staatlichen Regulierung der Wirtschaft – erfahren.
Nach dem Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union wurde zur Hauptsorge Merkels die Bewahrung der EU im 27er Format, was ihre Flexibilität in den Beziehungen mit den beiden Euro-Skeptikern Polen und Ungarn erklärt. Zu einer Ausnahme vor dem Hintergrund der vorsichtigen Politik von Angela Merkel wurde ihre bedingungslose Entscheidung von 2015, hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Diese Entscheidung wurde sowohl in Deutschland als auch insgesamt in der EU kritisiert. Die Kanzlerin hat aber nie öffentlich die Fehlerhaftigkeit ihrer Position eingestanden, wobei sie eine situationsbedingte Lösung des Problems vorzog.
Das größte Paradoxon Merkels in Europa besteht darin, dass, obgleich sie den Ruf des proeuropäischsten Politikers in der EU hatte, ihre Regierung unablässig das Image konsequenter Verfechter des europäischen Föderalismus verlor. Besonders markant offenbarte sich dies in den Meinungsverschiedenheiten des franko-germanischen Duetts. Die Zukunft dieses Tandems sieht nicht nur aufgrund aller Unbestimmtheiten hinsichtlich der neuen Koalitionsregierung in Deutschland oder der anstehenden Präsidentschaftswahlen in Frankreich als eine unzuverlässige aus, sondern vor allem aufgrund dessen, dass die Tradition des deutschen Föderalismus, eine der Grundlagen der Ideologie für die europäische Einheit, allmählich der Vergangenheit anheimfällt. Im Unterschied zu Frankreich wurde Deutschland, historisch ein Verfechter des Föderalismus, nach der überstandenen weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise zu einem weitaus größeren Anhänger des Modells einer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit.
Obgleich Frankreich und Deutschland in gleichem Maße durch die Idee von einer stärkeren und autonomeren Union vereint werden, trennen sich ihre Wege hinsichtlich der Frage nach den Wegen ihrer Reformierung. Frankreich möchte, dass die Europäische Kommission die politische Kontrolle der Leitung der Euro-Zone verstärkt, und plädiert für eine tiefgreifendere Integration auf den Gebieten der Migration, Besteuerung und strategischen Autonomie zwecks Erhöhung der Fähigkeit der Europäischen Union, ihre Interessen in der internationalen Arena zu verteidigen. Deutschland aber entscheidet sich nicht dafür, den Instituten der EU mehr Macht zu verleihen. Dies betrifft besonders die Euro-Zone. Anders gesagt: Frankreich und Deutschland haben im Tandem die Plätze getauscht.
In dem Dilemma um die Prioritäten bei der Entwicklung der Integration – „Institute oder Gesetze“ – hat Deutschlands Führung unter Merkel immer die Seite der Vorrangigkeit der Gesetze eingenommen. Im Zusammenhang damit ist eine der wichtigsten Fragen für die Zukunft der EU die darüber, ob hier die Kontinuität nach der Merkel-Ära gewahrt wird. Viele Kommentatoren betonen, dass Merkel die ambitiöse Agenda von Emmanuel Macron zur Vertiefung der europäischen Integration nicht unterstützte, wobei sie anstelle dessen recht bescheidenen Schritte aufgrund des starken Widerstands innerhalb ihres eigenen rechtszentristischen Lagers zustimmte.
Die Anhänger einer rot-grün-gelben Koalition sind sich sicher, dass der Kandidat der SPD für das Kanzleramt Olaf Scholz, der Vizekanzler und Finanzminister ist, keinen Bruch mit dem Kurs Merkels in den Beziehungen mit den europäischen Partnern zulassen und vor allem Stabilität sichern wird. Hinsichtlich der drängenden Projekte für die Wirtschafts- und finanzielle Entwicklung der EU, insbesondere für die Gestaltung einer Bankenunion sowie die Aktualisierung der Schulden- und Steuerregeln in der Euro-Zone, demonstriert Scholz tatsächlich Zurückhaltung und Vorsicht im Geiste von Angela Merkel. Was aber den politischen Bereich angeht, so wird die Bildung einer Koalition mit der Führungsrolle der SPD unweigerlich neue wesentliche Akzente in die Politik Deutschlands sowohl innerhalb der EU als auch außerhalb dieser einbringen. Die Sozialdemokraten treten eindeutig für die Entwicklung einer strategischen Autonomie der Europäischen Union ein, während die USA und die NATO eine Priorität der Christdemokraten im Sicherheitsbereich bleiben.
In der russischen Richtung kommt im Unterschied zum Merkel-Kurs auf eine Trennung der Interessen von Politik und Wirtschaft die Position der SPD und persönlich von Scholz der Position von Frankreichs Präsident Macron nahe. Im Wahlkampfprogramm der Partei wird eingestanden, dass die Gewährleistung der europäischen Sicherheit ohne eine Einbeziehung Russlands oder gegen dessen Interessen unmöglich sei. Zweifellos wird das Schicksal von „Nord Stream 2“ zu einer der Hauptfragen, die die nächste Regierung Deutschlands zu lösen hat. Hier gibt es sowohl bei den Sozialdemokraten als auch bei den Christdemokraten Berührungspunkte. Sowohl die einen als auch die anderen unterstützen dieses Projekt. Eine andere Auffassung vertreten ihre möglichen Koalitionspartner – die Grünen und die Freien Demokraten, die die Merkel-Regierung mehrfach wegen einer Ignorierung der „diplomatischen Integration“ des Projekts mit den Interessen der Partner in Europa und Amerika kritisiert hatten. Wenn die Grünen und Freien Demokraten in die Koalition gelangen, werden sie wahrscheinlich auf ein Moratorium bezüglich „Nord Stream 2“ bestehen. Natürlich wird nicht die letzte Rolle in der Politik bezüglich Russlands der Kanzler spielen, ein Vertreter einer der großen Parteien. Es ist aber offensichtlich, dass er um einen Kompromiss nicht umhinkommen wird. Bleibt die Frage: Was müssen die Koalitionspartner für das Erreichen eines Kompromisses opfern, damit nicht letztlich jeder das erhält, was er nicht wollte?
Zweifellos ist die Losung von einer Kontinuität im Wahlkampf in größerem Maße eine Floskel, genauso wie auch die von den wichtigsten politischen Kräften versprochene Stabilität, die der hauptsächliche Wesenszug der Ära von Angela Merkel ist. Stabilität an sich sichert jedoch keine vorwärtsbringende Entwicklung der Gesellschaft. Und bei Nichtvorhandensein einer strategischen Sichtweise für ihre Zukunft kann sich die Stabilität in eine Stagnation verwandeln. Heute wie nie zuvor brauchen weder Deutschland noch die EU keine reaktive Politik der kleinen Schritte, sondern ein konzeptuelles Neudurchdenken des bisherigen Kurses, der zum Brexit führte, zu einer Verstärkung der Trennungslinien zwischen dem alten und dem neuen Europa, zu einem Rückgang des Vertrauens der einfachen Europäer gegenüber Brüssel usw. Die neue Bundesregierung in Berlin wird zum ersten Testfall dafür werden, ob das europäische Modell der Veränderungen über einen demokratischen Konsens für Deutschland und Europa insgesamt ein nützliches sein kann.