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Das neue Jahr beginnt in der Ukraine mit Skandalen


Das Datum und die Regeln für die Abhaltung von Parlamentswahlen in der Ukraine werden zu einer der brisantesten Fragen zu Beginn des neuen Jahres. Gegenwärtig ist in der Werchowna Rada (dem ukrainischen Parlament – Anmerkung der Redaktion) eine Gesetzesvorlage über eine Aussetzung der Anwendung des Wahlkodexes registriert worden, der nach dem Machtantritt von Wladimir Selenskij bestätigt worden war. Es geht um eine Rückkehr zu den alten Regeln, die als „Korruptionssystem“ bezeichnet wurden.

Der Wahlkodex, der die Gesetze über die Wahl des Landespräsidenten und der Werchowna Rada, aber auch über die Wahlen der örtlichen Machtorgane vereinte, hatte man bereits im Jahr 2015 auszuarbeiten begonnen. Mit großen Problemen und Skandalen hatte das Dokument alle Etappen der Behandlung in der Werchowna Rada absolviert und war 2019 endgültig bestätigt worden, als Selenskij Petro Poroschenko im Amt des Präsidenten abgelöst hatte. Gemäß dem Kodex sollen die Parlamentswahlen in der Ukraine entsprechend einem proportionalen System stattfinden, das vorsieht, dass die Wähler für Parteien und nicht für Direktkandidaten votieren. Dabei müssen die Parteilisten offene sein, was den Bürgern theoretisch erlaubt, darauf Einfluss zu nehmen, wer von den durch die jeweilige Partei vorgeschlagenen Kandidaten ein Abgeordnetenmandat erhalten wird.

Diese Norm wird so realisiert: Zu Beginn der Wahlkampagne teilen die Parteien ihre Kandidaten entsprechend regionalen Listen auf, die den 27. Wahlbezirken entsprechen. Auf dem Stimmzettel gibt es zwei Punkte: Unter dem einen wählt der Wahlberechtigte die Partei auf, für die er stimmt. Unter dem zweiten Punkt – die Nummer eines Kandidaten aus der regionalen Liste. In die Werchowna Rada ziehen die Parteien ein, die fünf Prozent und mehr Stimmen auf sich vereinigt haben. Die Anzahl der Abgeordnetenmandate wird entsprechend einer speziellen Formel bestimmt. Was die Kandidaten angeht, so werden die ersten Nummern der Parteilisten garantiert zu Abgeordneten. Die übrigen schaffen entsprechend den Abstimmungsergebnissen – unabhängig von der Nummer in der Parteiliste — den Sprung ins Parlament oder nicht.

Das relativ komplizierte und für die Ukrainer ungewohnte System ist noch nicht ein einziges Mal in der Praxis ausprobiert worden. Die vorgezogenen Parlamentswahlen, die von Wladimir Selenskij im Juli 2019 angesetzt worden waren, haben entsprechend den alten Regeln stattgefunden: Die Hälfte der Werchowna Rada wurde entsprechend von Parteilisten gewählt, die andere – entsprechend den Ergebnissen der Direktwahlbezirke. Im Endergebnis erhielt die Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ eine Mono-Mehrheit in der neuen Zusammensetzung des Parlaments und bildete die Regierung. Und jetzt hat sie sich darüber Gedanken gemacht, um auch die nächsten Wahlen entsprechend dem alten System durchzuführen.

Als Initiatoren der Idee für einen Aufschub der Anwendung des neuen Wahlkodexes sind Abgeordnete aus der Gruppe „Für die Zukunft“ aufgetreten, die die regierende Partei oft bei Abstimmungen unterstützt. Der Chef der Fraktion von „Diener des Volkes“ David Arachamia hat seinerseits der Initiative der Gruppe Aufmerksamkeit geschenkt. Bei einer Pressekonferenz zu den Ergebnissen des Parlamentsjahres sagte er, dass es zu früh sei, das System der Wahlen mit Direktkandidaten aufzugeben. „Die Volksabgeordneten sind der Auffassung, dass es in den riesigen Wahlbezirken, die es derzeit gibt, unmöglich ist, eine Erkennbarkeit (Popularität der Kandidaten aus den Parteilisten – „NG“) zu erreichen. Heute hat sich für den Direktwahlkandidaten, den man in ein und demselben Bezirk zehn Jahre lang gewählt hat, der (Wahl-) Bezirk um das 3fache vergrößert. Weder er kennt die Menschen, noch kennen sie ihn. Es gibt keine Zeit, um sich kennenzulernen… Und da ergibt sich, dass die Wahrscheinlichkeit besteht, dass zufällige Menschen in ein gesetzgebendes Organ gewählt werden“.

Eine entgegengesetzte Meinung vertritt der Leiter des Zentrums für gemeinsame Handlungen, der einstige Vizepremier der ukrainischen Regierung Oleg Rybatschuk. Er hält gerade die für „zufällige Leute“, die leicht die Position ändern: „Dass die als Direktkandidaten ins Parlament eingezogenen Volksabgeordneten so abstimmen, wie der Wind weht, ist nichts Erstaunliches. Schließlich verstehen sie, dass sie weder einer Partei noch den Wählern etwas schulden“. Dies bedeute, dass etwa die Hälfte des Parlaments einem Korruptionseinfluss ausgesetzt werden könne, betonte er. „… Es ist offensichtlich, eine Hälfte der Volksabgeordneten zu haben, die für Gesetzentwürfe nur dann abstimmen, wenn sie einen finanziellen Vorteil sehen, ist eine verderbliche Sache. In solch einem Fall kann man weder von einer Konsequenz der staatlichen Politik noch von einer Verantwortung gegenüber den Wählern sprechen“.

Rybatschuk unterstützt das neue System der Wahlen – mit offenen Parteilisten. „Die Wähler werden für eine Partei und für einen konkreten Kandidaten aus der Liste der Partei stimmen. Und wenn eine Partei kein Programm, das sich auf eine systematische Lösung der Probleme der Bürger konzentriert, und keine würdigen Kandidaten in ihrer Liste hat, so macht es nicht einmal Sinn, den Versuch zu unternehmen, an den Wahlen teilzunehmen. Die „wunderbaren Zeiten“ der Parlamentswahlen von 2019, als Wladimir Selenskij mit seinem Sieger-Image eine Mono-Mehrheit in die Werchowna Rada schaffte, werden sich schon nicht mehr wiederholen können“.

Ukrainische Soziologen betonen, dass sich die Situation auch aus einem anderen Grunde nicht wiederholen werde. Die Stimmungen der Wähler haben sich verändert. Während Wladimir Selenskij im Präsidenten-Rating die führenden Positionen bewahrt, so genießt die Partei „Diener des Volkes“ genau solch eine Unterstützung wie drei weitere parlamentarische politische Kräfte. Laut Angaben des Kiewer internationalen Instituts für Soziologie würden jetzt für die Präsidentenpartei 17,6 Prozent der Wähler stimmen, die unbedingt an den Wahlen teilnehmen würden und sich hinsichtlich der Entscheidung endgültig festgelegt haben. Für die Partei „Europäische Solidatität“ von Ex-Präsident Petro Poroschenko – 16,5 Prozent, für „Batkiwstschina“ von Julia Timoschenko – 13,7 Prozent und für die Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ – 13,6 Prozent. Und ins Parlament könnten jetzt auch noch die Partei des Ex-Vorsitzenden der Werchowna Rada Dmitrij Rasumkow (6,5 Prozent) und die Partei „Kraft und Ehre“ des Ex-Chefs des Sicherheitsdienstes der Ukraine, Igor Smeschko (5,5 Prozent). Es ist offensichtlich, dass es nicht um eine absolute Mehrheit gehen wird, sondern um die Bildung einer Koalition. Und dies wird zu einer komplizierten Frage, deren Lösung die Partei „Diener des Volkes“ theoretisch in die Opposition drängen könnte.

Im Zusammenhang mit solchen Wählerstimmungen diskutiert man in Kiew die Frage über Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2024. Eine Sache ist, wenn sie sie vor den Parlamentswahlen erfolgen würden, solange der Präsident eine mächtige Unterstützung in der Werchowna Rada hat. Eine andere Sache – wenn sie nach den Parlamentswahlen erfolgen würden, wenn die Positionen der Partei „Diener des Volkes“ schwache sein werden. Das Terminproblem hat sich ergeben, da die Wahlen von 2019 vorgezogene gewesen waren. Wenn man, wie in der Verfassung ausgesagt, die turnusmäßigen Wahlen im Oktober des fünften Jahres der Vollmachten der Abgeordneten abhält, so müsste die Abstimmung für den Herbst des Jahres 2023 anberaumt werden. Vor den Präsidentschaftswahlen. Dies bedeutet aber, dass die Verfassungsnorm über komplette fünf Jahre Vollmachten der Abgeordneten nicht erfüllt wird. Daher räumen mehrere Experten ein, dass Parlamentswahlen für den Oktober des Jahres 2024, nach den Präsidentschaftswahlen angesetzt werden. Die Opposition tritt dagegen auf.

Die im vergangenen Jahr begonnenen Streits über das Datum der künftigen Parlamentswahlen werden im neuen Jahr durch Streitigkeiten zu den Regeln für die Wahl der Abgeordneten ergänzt. Gesellschaftliche Organisationen unter Führung der Bewegung „Ehrlich“ sind gegen die Idee eines Aufschubs der Anwendung des Wahlkodexes aufgetreten. In ihrer Erklärung heißt es: „Für das korrumpierte System ist es vorteilhaft, die Direktwahl-Komponente zu bewahren, da sie erlaubt, (Wahl-) Bezirken zu „kaufen“, damit in die Werchowna Rada Figuren aus Antikorruptionsuntersuchungen, Verfassungsbrecher und korrupte Personen über Parteilisten gelangen. Im Parlament können die Direktmandate besitzenden Abgeordneten keine qualitätsgerechte gesamtstaatliche Politik für die Entwicklung (des Landes) ausarbeiten“. Dem Ton der Erklärung nach zu urteilen, die von einflussreichen gesellschaftlichen Organisationen unterzeichnet wurde, kann selbst die Erörterung der Fragen über das Datum und die Regeln für die Abhaltung von Wahlen Protestaktionen in der Ukraine auslösen.