Das US-Außenministerium befürchtet, dass Weißrussland zu einem Aufmarschgebiet werde, von dem aus Russland die Ukraine überfallen werde. Dort ist man der Annahme, dass die Positionen von Alexander Lukaschenko „unumkehrbar geschwächt“ worden seien und er nicht imstande sei, eine eigenständige Politik zu verfolgen. In Minsk bezeichnete man diese Erklärungen als ein „Sammelsurium von Fantasien und Schauergeschichten“.
Weißrussland galt ein gesondertes Briefing des US-Außenministeriums. Die destabilisierende Rolle von Weißrussland nehme zu, und es „kann eine Rolle bei dem geplanten Einmarsch Russlands in die Ukraine“ spielen, konstatierte man im State Department. Zu solchen Schlussfolgerungen ist man dort im Zusammenhang mit zwei Umständen gelangt. Erstens sind dies Weißrusslands Pläne, Änderungen an der Verfassung vorzunehmen und auf den Status eines neutralen Landes zu verzichten.
Im US-Außenministerium schließt man nicht aus, dass dies getan werde, damit Weißrussland die Möglichkeit hat, auf seinem Territorium russische Militärstützpunkte einzurichten und unter anderem auch Kernwaffen zu stationieren. Der zweite Faktor, der Besorgnis der Vereinigten Staaten auslöst, sind die Militärmanöver Weißrusslands und Russlands, die im Februar stattfinden werden. „Befürchtungen löst aus, dass Russland die Absicht hegen kann, Truppen in Belarus im Rahmen von gemeinsamen Militärmanövern zu stationieren, um eventuell die Ukraine vom Norden aus anzugreifen“, erklärte ein hochrangiger Beamter des State Departments bei dem eingangs erwähnten Briefing. „Wir haben den weißrussischen Offiziell in privater Form unsere Befürchtungen mitgeteilt“, präzisierte er.
Im Verlauf des Briefings erklärte der Vertreter des US-Außenministeriums (der namentlich auch nicht ausgewiesen worden ist – Anmerkung der Redaktion), dass Russland die angreifbare Situation Lukaschenkos ausnutze, in die er sich selbst durch sein Bestreben, die Macht um jeden Preis zu behalten, gebracht hätte, und Weißrussland immer stärker an sich zu binden. „Nachdem Lukaschenko seine 27 Jahre Amtszeit dem gewidmet hat, Anspruch auf die Rolle eines Garanten der Souveränität und Unabhängigkeit von Belarus zu erheben, demonstriert er immer häufiger, dass er alles hergeben werde, um an der Macht zu bleiben“, meint man im State Department.
Nach Aussagen des Vertreters des Ministeriums versuche man in den USA zu verstehen, was für Bereiche in Weißrussland Lukaschenko immer noch kontrolliere und was bereits Russland überlassen worden sei. „Lukaschenkos Positionen sind möglicherweise unwiederbringlich geschwächt worden… Nimmt er überhaupt am Treffen von Entscheidungen über die Nutzung des weißrussischen Territoriums teil?“ fragen sich die US-amerikanischen Beamten. Bisher gelangen sie zu dem Schluss, dass Lukaschenko vorerst noch „in einem erheblichen Maße die Handlungen seiner Regierung kontrolliert“.
In Minsk bezeichnete man das Washingtoner Briefing, bei dem über Weißrussland gesprochen worden war, als ein „merkwürdiges“. Und die dort formulierten Erklärungen – als ein „erstaunliches Sammelsurium von Fantasien und Schauergeschichten“, wobei man das Augenmerk darauf lenkte, dass im Verlauf des Briefings eine gewisse anonyme Person die Fragen beantwortete.
„Die amerikanische Seite schleudert auf einer systematischen Grundlage in den letzten Woche Lügen auf unterschiedliche Art und Weise in den Informationsraum. Es ist völlig klar, dass sie dies für ein Schüren der Situation, das Auslösen von Spannungen unter anderem dort, wo es keine gibt, tut. Dies ist eine Standardtaktik“, erklärte Anatolij Glas, der Pressesekretär von Weißrusslands Außenministerium. Nach Meinung des weißrussischen Außenministeriums „braucht dies die USA für die Rechtfertigung einer Reihe ihrer widerrechtlichen Handlungen und eine Revanche für alle offenkundigen Flops der letzten Zeit“.
„Ziemlich genau, wenn auch recht diplomatisch haben die russischen Kollegen solche Sachen als Desinformation bezeichnet“, betonte Anatolij Glas. In diesem Fall hatte der Vertreter des Außenministeriums die Kommentare zu den Erklärungen des US State Departments im Blick, die zuvor in Moskau abgegeben worden waren. „Die Ungeniertheit der Erklärungen des State Departments kann man wohl mit deren weiten Ferne von der Realität vergleichen, schon ganz zu schweigen von ihrem Paranoia-Charakter“, erklärte der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses der Staatsduma (des russischen Unterhauses – Anmerkung der Redaktion) Leonid Sluzkij (LDPR). „In dem Teil, der die Stationierung von „nuklearen Garnisonen“ auf dem Territorium anderer Staaten betrifft, so haben dieses Thema ganz bestimmt nicht die USA unter Berücksichtigung dessen zu kommentieren, denn wie viele US-amerikanische Kernwaffen sind in Europa stationiert worden“, erklärte der stellvertretende Vorsitzendes Föderationsrates (des russischen Oberhauses – Anmerkung der Redaktion) Konstantin Kosatschjow (Kremlpartei „Einiges Russland“). Er rief die USA auf, „die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger von Belarus zu achten und sich jeglichen äußeren Drucks auf Minsk zu enthalten“.
Die Einschätzungen zur Situation, die von Experten vorgenommen wurden, kommen denen nahe, die das US-Außenministerium formulierte. Weißrussische Analytiker sprechen von einer allmählichen Verringerung des Status des Landes als ein außenpolitisches Subjekt seit der Zeit, als Alexander Lukaschenko im August des Jahres 2020 abgelehnt hatte, mit den europäischen Spitzenvertretern zu sprechen, die versucht hatten, ihn telefonisch zu erreichen. Unter anderem wollte da die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel mit ihm sprechen. Er hatte aber „nicht den Hörer abgenommen“. Schon damals hatte der Westen begonnen, Weißrussland mit Russlands Staatsoberhaupt Wladimir Putin zu erörtern. Dieser Trend hielt auch später an. Im Herbst vergangenen Jahres organisierte Lukaschenko eine Migrationskrise an der Grenze, wobei er zu erreichen versuchte, dass Europa beginnt, mit ihm persönlich zu sprechen. Letztlich bekam er die Gelegenheit, zumindest Angela Merkel zu antworten. Aber weiter als eine Behandlung humanitärer Fragen im Zusammenhang mit der Ansammlung von Migranten an der Grenze Weißrusslands zur EU ist es nicht gekommen.
Lukaschenko besitze auch im Land keine Legitimität. Gerade das Begreifen dieses Umstands veranlasse ihn nach Meinung von Experten, weiterhin die beispiellosen Repressalien fortzusetzen und tausende Menschen in den Gefängnissen festzuhalten. Die Anzahl der Inhaftierten, die bereits den Status politischer erhalten haben, näherte sich der Zahl 1000. Doch eine genaue Zahl der Opfer der Repressalien kennt keiner. Die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen ist im Land verboten worden. Ja, und auch die Menschen an sich haben bereits Angst einzugestehen, dass sie durch das Vorgehen der Behörden gelitten haben, um ihre Situation nicht zu verschlimmern.
Allerdings sind die meisten Experten bisher geneigt, die Auffassung zu vertreten, dass sich Lukaschenko auf keine vollkommene Aufgabe der Unabhängigkeit einlassen werde. „Für Lukaschenko ist dies eine prinzipielle Frage, wie er in die Geschichte eingehen wird. Ich weiß nicht, ob er ein reales Denkmal will, er möchte aber bestimmt eine Haltung zu sich wie zu einem Menschen, dem man ein Denkmal setzen wird. Er möchte der Gründer des weißrussischen Staates sein. Damit harmoniert aber nicht eine Übergabe des Landes unter eine vollständige (russische) Verwaltung. Man kann zeitweilig Teile der Multi-Vektoren-Politik abtreten. Ich denke aber nicht, dass er sich auf eine vollkommene Auslieferung an Putin einlassen wird. Unter anderem aufgrund der politischen Freiheitsliebe“, erklärte der politische Analytiker Artjom Schraibman in einem seiner jüngsten Interviews.
- S. der Redaktion von „NG Deutschland“
In den Abendstunden des 20. Januars wurde derweil bekannt, dass Alexander Lukaschenko für den 27. Februar das Referendum zur neuen Landesverfassung angesetzt hat. Auf dem künftigen Stimmzettel wird dabei nur eine Frage stehen: „Akzeptieren Sie die Änderungen und Zusätze zur Verfassung der Republik Belarus?“. Die von Swetlana Tichanowskaja angeführte weißrussische Opposition wird diesen Termin sicher auszunutzen suchen, um das Plebiszit zu einer Protestabstimmung zu machen.