Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij hat erklärt, dass die Länder des Westens eine Einreise für alle Bürger Russlands als Antwort auf die am 24. Februar begonnene militärische Sonderoperation gegen die Ukraine schließen sollten. Der Vorschlag hat erwartungsgemäß bei Bürgern (bei weitem nicht allen in Russland – Anmerkung der Redaktion) Empörung ausgelöst. Offizielle Vertreter der Russischen Föderation behaupten, dass dies ein utopischer Versuch sei, Russland noch mehr zu isolieren. Und Oppositionelle sind der Auffassung, dass diese Maßnahme die Gegner der russischen Herrschenden, die bereits Russland verlassen haben, und jene, für die eine Emigration zu einer Alternative zu einer Gefängnishaft werden könne, gefährde.
„Die wichtigsten Sanktionen bestehen in einer Schließung der Grenzen“, erklärte Wladimir Selenskij, wobei er betonte, dass man nicht jene, die die Politik der Russischen Föderation in der Ukraine unterstützen würden, von denen, die dagegen seien, trennen sollte. „Die Ausgereisten muss man auch ins Land zurückbringen. Dann werden sie begreifen. Kann die ganze Bevölkerung keine Verantwortung tragen? Sie kann es. Die Bevölkerung hat diese Regierung gewählt und kämpft nicht gegen sie, streitet nicht mit ihr. Die Russen müssen in der eigenen Welt leben, solange sie ihre Philosophie nicht ändern. Gebraucht wird ein Einreiseverbot für alle Bürger der Russischen Föderation zumindest für ein Jahr“. Nach seiner Meinung sei dies die einzige Form, um Einfluss auf den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, zu nehmen.
Der Appell hat eine stürmische Reaktion sowohl unter den Anhängern der Sonderoperation als auch unter deren Gegnern ausgelöst. „Hören Sie auf, Russlands Bürgern Tourismus-Visa auszustellen“, unterstützte Selenskij Estlands Regierungschefin Kaja Kallas. „Der Besuch Europas, dies ist ein Privileg und kein Menschenrecht. Der Flugverkehr mit der Russischen Föderation ist eingestellt worden. Vorerst werden jedoch Visa erteilt. Die zu Russland nächsten Länder (Finnland, Estland, Lettland) erlauben Bürgern Russlands, die Grenzen zu passieren. Es ist die Zeit gekommen, mit dem Tourismus aus Russland Schluss zu machen“.
Russische Politiker hat der Vorschlag erwartungsgemäß empört. „Solchen Erklärungen kann man nur negativ gegenüberstehen. Dies ist eindeutig“, erklärte Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des Präsidenten. „Was eine Isolierung angeht: Nun, dies ist unmöglich. Und alle Versuche, unser Land „zu bestrafen“, verursachen auch zusätzliche Kosten für jene Länder, die versuchen, dies zu tun. Das darf man nicht vergessen. Und sie quittieren derzeit überall dafür“. Die kremlnahen Massenmedien veröffentlicht aktiv und offenkundig mit einer entsprechenden zentralen Vorgabe Erklärungen von Experten und Politikern, die die Idee von Selenskij kritisierten, aber schadenfroh (was sie besonders gern tun – Anmerkung der Redaktion) behaupteten: Selenskij habe den russischen Oppositionellen eine Lehre erteilt, indem er demonstrierte, dass der Westen zu jedem beliebigen Zeitpunkt sie opfern könne.
In der Tat, die Erklärungen von Selenskij haben erwartungsgemäß die Bürger Russlands beunruhigt, die die Russische Föderation aufgrund der Ablehnung des Beginns der Sonderoperation verlassen haben. Wobei dies nicht nur für oppositionelle Politiker gilt. Die Maßnahme könne eine entgegengesetzte Wirkung auslösen, meint beispielsweise der aus Russland ausgereiste Journalist Dmitrij Kolesjew. „Es ist eine Sache, wenn die Landesregierung einen eisernen Vorhang herunterlässt. Du wirst über sie erbost sein. Eine andere Sache ist, wenn man diesen eisernen Vorhang von außen her herunterlässt. Wenn so etwas geschieht, kann sich ein gewisser Prozentsatz jener Bürger Russlands, die derzeit gegen Putin, prowestlich und proukrainisch eingestellt sind, angreifbar seitens jener fühlen, die ihnen sympathisiert hatten. Dies kann nur einen Zusammenschluss um Putin herum fördern“.
„Es gibt Lehrer und Ärzte, Sportler und Künstler, bei denen seit dem 24. Februar nicht das Gefühl eines „Herzzerreißens“ aufhört. Sie sitzen auf gepackten Koffern…, zählen ihre geringen Euro-Ersparnisse, wobei sie überschlagen, für wie lange sie in der für sie neuen Realität des Westens ausreichen werden“, schreibt der Journalist Alexander Newsorow, der das Land verlassen hat und in der Russischen Föderation als ein ausländischer Agent gelabelt wurde. „Die Führung der Ukraine muss in ihren Erklärungen akkurater sein und erklären, wer „gemeint ist“ und wer nicht gemeint ist“. Es sei daran erinnert, dass früher in den Reihen der Opposition der Vorschlag aufgekommen war, den politischen Emigranten ein gewisses besonderes Dokument auszustellen, einen „Pass eines guten Russen“. Aber die Sache ist nicht weiter als bis zu dieser Idee gediehen.
Derweil erläuterte man in der Europäischen Kommission, dass die Europäische Union zwar teilweise die Wirkung des Abkommens über eine Vereinfachung des Visa-Regimes mit Russland ausgesetzt habe. Diese Maßnahme ziele auf die Personen ab, „die dem russischen Regime nahestehen“. Wie die offizielle Sprecherin der EU-Kommission für Inneres, Einwanderung und innere Sicherheit, Anitta Hipper, erklärte, tangiere dies bisher nicht die einfachen russischen Bürger. Und obgleich die EU-Länder die Ausstellung langfristiger Visa und Aufenthaltsgenehmigungen verringern oder einstellen könnten, werde es immer Kategorien von Menschen geben, denen Visa ausgestellt werden müssen. Dies betreffe beispielsweise humanitäre Fälle, aber auch Visa für Familienangehörige, Journalisten oder Dissidenten.
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Den Vorschlag von Wladimir Selenskij haben auch Autoren russischer gesellschaftspolitischer Telegram-Kanäle kommentiert. „So wollen sie, buchstäblich in einer Hysterie, die Bürger Russlands gegen die Herrschenden einstellen. Sie erhalten aber eine entgegengesetzte Wirkung“, meint „Temnik“ (https://t.me/polittemnik).
„Selenskij hat einen logischen Schritt unternommen. Er muss mit seinen nahen ständigen Verbündeten zusammen sein. Seine Forderung, alle zu verbieten, sowohl die guten als auch die schlechten – dies ist auch logisch. Die Ukraine nimmt den höchsten Einsatz vor, denn Europa erfüllt nicht alle Forderungen der Ukraine. Es hat nicht den Luftraum geschlossen. Es hat nicht auf alles (russisches) Gas verzichtet. Es hat nicht alle geforderten Waffen gegeben. Daher muss die Ukraine, um zumindest eine teilweises Visaverbot zu bekommen, ein Verbot aller Visa verlangen“, meinen die Autoren des Kanals „Kesselhaus“ (https://t.me/boilerroomchannel).
„Den Russen wird man einfach Visa auszustellen aufhören“, nehmen die Autoren des Kanals „Schonungsloser PR-Fachmann“ (https://t.me/prbezposhady%20) an. „Erstens, damit sie nicht durch Europa herumziehen und sich in LVMH-Boutiquen eindecken. Zweitens, damit sie nicht herumspionieren und keine orangenen Revolutionen veranstalten. Nun, und drittens, damit sie zu Hause sitzen, über ihre Verhalten nachdenken und sich mit Taten befassen – Putin stürzen“.