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Der Abzug russischer Truppen aus den Manövergebieten hat in den Hauptstädten der NATO-Länder Panik ausgelöst


Was jetzt tun mit Wladimir Putin? Diese Frage stellen sich die meisten westlichen Experten für Sicherheitsprobleme. Schließlich hat der von den US-amerikanischen Geheimdiensten angekündigte massive Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine nicht stattgefunden. Die hartnäckigsten der sogenannten Experten behaupten, dass er bisher nicht stattgefunden habe und verweisen wie beispielsweise der frühere Berater von Bundeskanzler Angela Merkel und dieser Tage zum General gewordene Erich Vad auf… den irakischen Diktator Saddam Hussein. Der hätte ja auch vor dem Überfall auf Kuweit behauptet, dass er all seine Streitkräfte von der Grenze zurückgerufen habe. Aber er habe ja schließlich doch einen Überfall verübt. Die Logik all dieser „Experten“ reduziert sich darauf, dass Putin angreifen wollte und nun unter dem Druck des Westens gezwungen sei, vorerst zurückzuweichen, er müsse aber „das Gesicht wahren“.

Natürlich, wenn man vom wahren Ziel aller abgehaltenen Manöver ausgeht, und zwar einen Überfall der ukrainischen Streitkräfte auf die nichtanerkannten Republiken zu verhindern, so hat Putin vorerst sein Ziel erreicht. Ein Überfall hat sich nicht ereignet. Die von der Staatsduma (dem Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) verabschiedeten Empfehlungen zur Anerkennung der selbstausgerufenen Republiken im Osten der Ukraine wirken derzeit für diese Version. Diese Empfehlungen haben die Hitzköpfe der Kiewer Strategen abgekühlt, die laut Angaben des Chefs der russischen Auslandsaufklärung Sergej Naryschkin an deren Grenzen erhebliche Streitkräfte konzentriert hätten. Folglich hat Putin bisher das Gesicht gewahrt, da er keine bewaffnete Einnahme des Donbass und von Lugansk zugelassen hat.

Ein anderes Ziel alle dieser Truppenbewegungen unweit der ukrainischen Grenze, das Politologen mit den von ihm ausgewiesenen „roten Linien“ in Verbindung bringen, ist vom Prinzip her auch erreicht worden. Der Westen ist gezwungen, zu diesem Thema Verhandlungen zu beginnen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist aber die Gefahr der Verhängung neuer Sanktionen gegen Russland bisher nicht von der Agenda. Die ganze Sache liegt daran, dass es doch nicht so einfach ist, die entwickelte Fake-Konzeption von einer russischen Bedrohung in Europa aufzugeben.

Der nichtadäquate Charakter all dieser Propheten, sei dies nun Jens Stoltenberg, der noch NATO-Generalsekretär ist, oder irgendwer von den gegenwärtigen deutschen Politikern, läuft darauf hinaus, dass sie Beweise für einen Abzug der russischen Truppen von der Grenze mit der Ukraine brauchen. Die von Russland vorgelegten Beweise in Form von Foto- und Videomaterialien werden von vornherein zurückgewiesen. Satellitenaufnahmen, mit deren Hilfe die russische Bedrohung geschaffen worden war, befriedigen schon keinen mehr. Augenscheinlich bleibt den russischen Generälen nur, dem Westen völlig geheime, vom Wesen der Sache her Mobilmachungspläne und – befehle vorzulegen. Andernfalls werden sie es nicht glauben wollen.

Die Logik derjenigen, die an die aggressiven Pläne des Kremls geglaubt hatten, reduzierte sich auf die folgende Message: Die Situation für Putin im Land sei eine instabile. Und um sich im Präsidentensessel zu halten, müsse er die Daumenschrauben bis zum Anschlag unter Einsatz militärischer Hebel anziehen. Der CIA und die anderen zahlreichen Geheimdienste der USA werden wohl kaum im Kreml so gut getarnte Spione besitzen, um ganz genau über alle geheimen Kremlstrategien Bescheid zu wissen. Wenn dem so wäre, so würde es keinen Sinn machen, diese Spione preiszugeben. Auf jeden Fall ist die Verwahrung gestohlener Geheimnisse unter sieben Siegeln eine ungeschriebene Regel aller Geheimdienste der Welt.

Wahrscheinlich werden solche „geheimen“ Informationen aus Erklärungen von Politologen im Kremlumfeld oder offenkundigen Akteuren der Anti-Putin-Opposition sowohl rechts als auch links gewonnen. Denn bei Nichtvorhandensein glaubwürdiger Informationen werden jegliche Tatsachen und Fakten entsprechend dem Entwicklungsstand oder der Aufgaben, die vor den Deutern stehen, interpretiert.

Im Fall von Putin wurden die Geheimnisse aber offengelegt. Und dies auf aller höchster Ebene. Der US-Präsident Joseph Biden selbst hat sie preisgegeben. Ihn beeinflussten dabei aber weder die Zweifel des nächsten Verbündeten Großbritannien, der versucht hatte, die Einwände vorzubringen, dass das MI-6 keine solchen Angaben hat, noch die zurückhaltende Position des deutschen Kanzlers Olaf Scholz in Bezug auf Waffenlieferungen an Kiew oder des endgültigen Zu-Grabe-tragens der Gaspipeline „Nord Stream 2“.

Tatsächlich war das Ziel der lautstarken amerikanischen Statements über die Aggressivität Moskaus, wie angenommen werden kann, kein anderer als der neue deutsche Kanzler Olaf Scholz. Allem nach zu urteilen, passt er dem gegenwärtigen Hausherrn im White House nicht sehr. Nicht zufällig hat die amerikanische Presse gerade Deutschland noch vor kurzem als „schwächstes Glied der NATO“ bezeichnet. Als ein umsichtiger und vorsichtiger Politiker habe er sich im Verlauf des gesamten entsprechend dem US-amerikanischen Szenario begonnenen Spektakels als ein zu zurückhaltender Staatsmann nach dem Geschmack einiger proatlantischer Politiker verhalten. Selbst am Vorabend des von Washington angekündigten Einmarschs in die Ukraine wich der Kanzler Zusagen bezüglich von Waffenlieferungen an Kiew aus. Und schließlich hatte man von ihm nicht nur Panzerabwehrsysteme gefordert, sondern auch neueste Kampfschiffe, ganz zu schweigen von solchen Entwicklungen für künftige Kriege wie „Mikrowellen-Waffen“.

Es ist kein Geheimnis, dass gerade die NATO das hauptsächliche strategische Instrument für eine US-amerikanische Kontrolle Europas ist. In diesem Zusammenhang macht es Sinn, an die Worte des ersten NATO-Generalsekretärs Baron Hastings Ismay zu erinnern. Seine Formel für die Aufgaben, die vor der NATO stehen, lief Mitte der 1950er auf die drei Postulate in Bezug auf die damalige Sowjetunion hinaus: „to keep the Russians out (aus Westeuropa – Anmerkung der Redaktion), the Americans in, and the Germans down“.

Im Grunde genommen hat sich heute wenig verändert, obgleich an die Stelle der UdSSR in dieser Äußerung Russland getreten ist. Nun, und an Stelle Westeuropas hat man es mit ganz Europa zu tun.

Die größten Kopfschmerzen für Washington bereitet heute die noch nicht in Betrieb genommene Gaspipeline „Nord Stream 2“. Es handelt sich dabei um einen reinen Konkurrenzkampf. Denn gerade das Erdgas wird unter den Bedingungen des sich zuspitzenden Kampfes für den Klimaschutz zu jenem rettenden Zauberstab, das dazu berufen ist, die europäische und in erster Linie die deutsche Industrie vor dem Kollaps zu bewahren, der mit dem Mangel an Energieträgern aufgrund des gleichzeitigen Ausstiegs der Stromerzeugung sowohl aus der Kohle als auch der Kernenergie verbunden ist. Und die erneuerbaren Energiequellen sind bisher nicht in der Lage, alle Bedürfnisse der Industrie zu befriedigen. Ungeachtet der Versicherungen von Biden hinsichtlich eines Festhaltens am Pariser Klima-Abkommen beeilt er sich nicht, die Förderung von Schiefergas einzustellen. Und die Gastanker mit verflüssigtem Gas (LNG), das aus den Schiefergasschichten per Hydrofracking gewonnen wird, befahren weiterhin die Weltmeere auf der Suche nach lukrativen Abnehmern.

Der Gaskrieg gegen Russland weist in Europa zwei deutlich ausgeprägte Aspekte auf. Der erste ist ein rein wirtschaftlicher, da das russische Pipelinegas ein Konkurrent für das LNG ist. Zumal es vor allem auf der Grundlage langfristiger Verträge und zu günstigeren Preise verkauft wird. LNG wird dagegen an entsprechenden Hubs vermarktet und reagiert empfindlich auf kurzfristige konjunkturelle Schwankungen. Und derzeit klettern die Preise an den Hubs in die Höhe.

Der zweite Aspekt ist ein politischer, denn die erste Aufgabe der NATO besteht darin, Russland weiter von Europa fernzuhalten. Und da ist diese Gasleitung, die Europa fest und für lange Jahre an Russland bindet.