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Der „Donbass-Konsens“ als Ergänzung zum „Krim-Konsens“


Das Regime der militärischen Sonderoperation in der Ukraine beeinflusst ohne jegliche Zweifel das innenpolitische Leben Russlands, unterteilt es in die Zeiten „bis“ und „danach“. In den Massenmedien tauchen bereits Informationen – bisher unbestätigte – über den Wunsch einiger Regionen auf, auf direkte Wahlen der Gouverneure aufgrund der schwierigen Wirtschaftssituation zu verzichten. Wenn so etwas wirklich geschieht, wird sich wohl kaum irgendwer darüber erstaunt zeigen. Die direkten Wahlen der regionalen Oberhäupter waren auf der Protestwelle von 2011/2012 zurückgekehrt. Die Herrschenden hatten beschlossen, die Wahlgesetzgebung zu liberalisieren. Heutzutage ist dies für sie bereits nicht mehr aktuell. Folglich erscheint die Rückkehr – zumindest eine teilweise – der alten Praktiken als eine durchaus logische.

Es wird schwer werden, die Deliberalisierung der innenpolitischen Normen und Praktiken aufzuhalten. Die für die neueste russische Geschichte beispiellose Abkühlung der Beziehungen mit dem Westen hat die „Schaufenster“-Demokratie, das heißt die Bewahrung andersdenkender Medien und politischer Strukturen zu einer sinnlosen gemacht. Die nicht zum System gehörende, die außerparlamentarische Opposition war noch vor den Ereignissen in der Ukraine vom Wesen her in die Illegalität getrieben worden. Heutzutage ist es aber ganz und gar schwierig sich vorzustellen, wie sie funktionieren soll, ohne gegen die zahlreichen Verbote zu verstoßen. Selbst im Internet hat man sie in eine halblegale Nische gedrängt, fast in ein Naturschutzgebiet. Jegliche Internetressource wird nach einem entsprechenden Fingerschnipsen blockiert. Die besondere Zeit verlangt beschleunigte und abgespeckte Prozeduren.

Allerdings tangieren die Veränderungen nicht nur die Vertreter der außerparlamentarischen Opposition. Die Staatsduma (das russische Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) arbeitet derzeit selbst im Regime einer Sonderoperation. Die Abgeordneten sprudeln förmlich vor Ideen, wobei sie versuchen, dem Kontext zu entsprechen und nicht aus dem Rhythmus der Exekutiven herauszufallen. Was wird aber sein, wenn die Operation zu Ende ist, ein Vertrag mit Kiew unterzeichnet sowie eine gewisse neue Realität – eine geopolitische, wirtschaftliche und soziale – geschaffen wird?

Im Jahr 2014 war der Begriff „Krim-Konsens“ aufgekommen. Er bedeutete unter anderem, dass alle systemkonformen politischen Kräfte des Landes hinsichtlich jeglicher Fragen den Offiziellen opponieren können, aber nicht die Rückkehr der Krim bestreiten. Im Jahr 2022 ist scheinbar ein neuer Konsens zu erwarten, ein „Donbass“-Konsens beispielsweise.

Dieser Konsens wird sich wahrscheinlich als ein härterer erweisen. Der Rahmen der Gesetzgebung zur Bekämpfung von Fakes wird erweitert. Und es ist ganz und gar keine Tatsache, dass sich ihre Wirkungsdauer auf den Zeitraum der Durchführung der Sonderoperation beschränken wird. Die Worte von Wladimir Putin über „Nationalverräter“, von denen sich die Gesellschaft reinigen müsse, machen einen hellhörig. Selbst die durchaus loyale Duma-Opposition muss von der Idee mit den Herrschenden streiten. Gestern aber war noch klar, worüber sie streiten kann. Heute aber – nicht. Es ist verständlich, dass es hinsichtlich des Hauptthemas des Jahres, das heißt der Sonderoperation an sich, keinerlei Diskussionen geben wird. Jedoch selbst bei der Erörterung der Sanktionen ist es offensichtlich, dass man nicht mit Fähnchen auf die Straßen kommen kann, wobei beispielsweise zu Zugeständnissen oder gar zu einem Dialog mit dem Westen aufgerufen wird. Das Label eines „Verräters“ in der nicht einfachen Zeit zu bekommen, ist sehr leicht.

Die aktuelle innenpolitische Agenda wird allem Anschein nach nationalisiert werden. Die Widersprüche zwischen den Liberalen und Verfechtern der Marktwirtschaft einerseits und den Linken, den Sozialisten andererseits werden bei solch einer Situation gewahrt bleiben. Die ersten werden beispielsweise anfangen aufzurufen, dem Business mehr zu helfen, welches die Nische ausfüllen soll, die durch die Ausländer geräumt wurde (bisher ist unklar, für lange Zeit?). Die zweiten werden dagegen darauf pochen, dass der Staat in der schwierigen Zeit die sozialen Pflichten verstärken müsse. Bei allen Vorbehalten kann man dies als Konturen für eine relativ normale politische Diskussion ansehen, bei der alle punkten können.

Ein weniger nützliches, obgleich auch recht wahrscheinliches Szenario für das eigentliche System ist eine ungeahnte Verstärkung des Populismus, des Wetteiferns beim Suchen nach Feinden, das Setzen auf die Außenpolitik und die Erfindung repressiver Instrumente. Anders gesagt: Dies ist ein Regime, bei dem jede politische Kraft versuchen wird, den Kriterien der herrschenden Partei zu entsprechen, wobei sie darin einen Weg zur Bewahrung oder gar zur Vermehrung der Mandate sieht. Viele haben sich daran gewöhnt, solch einem Weg zu folgen. Und in der schwierigen Zeit wird man ihn wohl kaum ändern wollen.