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Der Druck auf Russlands Anwaltschaft wird weiterhin verstärkt


Der Anwalt Iwan Pawlow, der in Russland als „ausländischer Agent“ eingestuft wurde und daher das Land verlassen hat, ist durch das Innenministerium in die Datenbank der Personen aufgenommen wurde, die gesucht werden. Wie die „NG“ erfuhr, wird in der Juristen-Community ein kollektives Schreiben an die Föderale Anwaltskammer und an Behörden verbreitet, dessen Unterzeichner fordern, die Aufnahme von Kollegen in Register unerwünschter Personen einzustellen. Man kann jeglichen unliebsamen Verteidiger einer Politisierung (der von ihn bearbeiteten Fälle) bezichtigen oder mit Hilfe von Strafverfahren aus dem Beruf verdrängen.

In der Datenkarte Pawlows heißt es, dass sein Auftauchen in der Fahndungsdatenbank mit einer gewissen Strafsache zusammenhänge. Er hatte früher erläutert, dass man ihn im Rahmen einer Untersuchung in Bezug auf einer Preisgabe des Untersuchungsgeheimnisses suche.

Dem vom russischen Staat gelabelten „ausländischen Agenten“ Iwan Pawlow fiel es aber schwer, genau zu sagen, in welchem Prozess er ein Geheimnis verletzt habe. Und er wusste gleichfalls nicht, auf welcher Fahndungsliste er stehe – der föderalen, einer zwischenstaatlichen oder der internationalen. Es sei jedoch daran erinnert, dass man im April 2021 Pawlow der Preisgabe von Materialien zum Fall seines Mandanten, des Beraters des Rsokosmos-Chefs, Iwan Safronow, bezichtigt hatte, dem wiederum Landesverrat vorgeworfen wird (und der bereits fast anderthalb Jahre in U-Haft sitzt – Anmerkung der Redaktion).

Die Autoren des eingangs erwähnten kollektiven Schreibens bezeichneten das Labeln jener Juristen, die mit Pawlow liiert gewesen waren, als „ausländische Agenten“ als einen „gefährlichen Präzedenzfall“. Sie befürchten, dass bald dies zu einer Praxis ausarten könne, die „nicht mit der Suche nach im Interesse anderer Staaten handelnder Agenten zusammenhängt, sondern ausschließlich zwecks Ausübung von Druck auf missliebige Verteidiger angewandt wird“. Auf die Liste des russischen Justizministeriums könne überhaupt jeglicher Anwalt geraten, der beispielsweise ein Honorar von einem ausländischen Klienten erhielt oder einfach für einen Auftritt bei einer internationalen Konferenz. Danach drohen solchen Juristen ernsthafte Verluste aufgrund dessen, dass „Mandanten bzw. Klienten und Arbeitgeber Kontakte mit ihnen vermeiden werden“.

Fraglich wird auch die Legitimität von Gerichtsprozessen unter Beteiligung eines Verteidigers aus den Reihen der „ausländischen Agenten“. Schließlich verlangt die Aufnahme in dieses Register, eine Rechtsperson des „ausländischen Agenten“ zu registrieren, die auch Rechenschaft über die Tätigkeit ablegen muss. „Ein Anwalt ist zwar auch berechtigt, eine Rechtsperson zu etablieren, er kann aber nicht ihr Generaldirektor sein. Und folglich führt man einen Anwalt aus dem Register der ausländischen Agenten automatisch zu einer Verletzung des Gesetzes über die Anwaltschaft“, wird in dem Appell ausgewiesen.

„Unabhängige starke Anwälte, die sich mit der Verteidigung von Angeklagten entsprechend „politischer“ Paragrafen befassen, riskieren jetzt noch stärker, in die Ungnade des Staates zu geraten“, merkte Wladimir Kusnezow, Vizepräsident der Vereinigung der Juristen für die Registrierung, Liquidierung, Insolvenzen und gerichtliche Untersuchungen, gegenüber der „NG“ an. Wenn es nicht klappt, prozessual solch einen Anwalt zu stoppen, oder die Offiziellen die Risiken aufgrund einer Veröffentlichung für sie unliebsamer Informationen begreifen, so ist es klar, dass es „die leichteste Art und Weise ist, ihn zu einer Persona non grata zu erklären oder in seiner Tätigkeit eine politische Komponente auszumachen“. Wie Kusnezow erinnerte, „befindet sich die Anwaltschaft im Zuständigkeitsbereich des Justizministeriums. Und dort dominieren oft politische Entscheidungen über den Rechtsnormen“, und daher „ist die Tatsache des Erhalts von Geldmitteln von einem ausländischen Mandanten, dem politische Paragrafen angelastet werden, eine direkte Grundlage für eine Aufnahme des Anwalts ins Register der ausländischen Agenten“.

Insgesamt sei, unterstrich der Experte, eine Verstärkung des Drucks auf die Anwaltschaft in verschiedenen Richtungen zu beobachten. Und in der Tat, allein in der vergangenen Woche wurden Fälle bekannt, in denen man beispielsweise verweigert hatte, Anwälte ohne einen QR-Code in Straflager zu lassen, und verlangte, die Aktentaschen am Eingang in die U-Haftanstalten abzugeben. Mehr noch, Verteidiger nimmt man jetzt angeblich wegen der Vornahme von Aufnahmen in Abteilungen des Innern (Polizeirevieren – Anmerkung der Redaktion) fest. Und einen der Anwälte hatte man auch ganz und gar wegen der Weigerung bestraft, sich vor den Polizeibeamten vollkommen auszuziehen, die aus irgendeinem Grunde entschieden hatten, das Vorhandensein extremistischer Tattoos auf seinem Körper zu überprüfen. Kusnezow ist der Auffassung, dass alles Geschehene eine Folge der gewachsenen Rolle und des Professionalismus der Anwaltschaft sei, die „mit jedem Jahr das Potenzial forciert“. Dieses Institut sei zu einem starken Instrument zum Schutz der Bürgerrechte geworden. Ja, aber die Offiziellen würden den Versuch unternehmen, dem auf jegliche Art und Weise Widerstand zu leisten.

„Unter Berücksichtigung der Praxis der Anerkennung sowohl von Rechts- als auch jetzt von natürlichen Personen als ausländische Agenten denke ich, dass in der nächsten Zeit dieser Trend nur noch mehr an Stärke gewinnen wird“, sagte der „NG“ der geschäftsführende Partner des Anwaltsunternehmens AVG Legal, Alexej Gawrischew. Nach seiner Meinung sei das Prozedere der Einstufung als „ausländische Agenten“ ein „offenkundiges politisches Instrument“, obgleich eben jene Anwaltscommunity außerhalb der Politik funktioniere. Freilich, erläuterte Gawrischew, „der Gerechtigkeit halber muss betont werden, dass hinsichtlich von Anwälten, die ins Register aufgenommen wurden, Tatsachen einer Verletzung der geltenden Gesetzgebung ermittelt wurden. Folglich sei es bisher verfrüht, von einer Ausdehnung dieses Mechanismus auf allen übrigen zu sprechen, nimmt er an. Was aber die übrigen Fälle einer Verletzung der Rechte von Verteidigern angehe, so wirke diese verderbliche Praxis nicht das erste Jahr. „Anwälte werden oft seitens Vertreter verschiedener Staatsorgane kategorischen Handlungen ausgesetzt. Und dem nach zu urteilen, dass die Anzahl solcher Tatsachen nicht geringer wird, kann angenommen werden, dass diese Praxis durch die übergeordneten Leiter dieser Organe gebilligt wird“.

Dabei ist der Vorsitzende des Anwaltskollegiums „Ihr Juristischer Bevollmächtigter“ Konstantin Trapaidse der Auffassung, dass das Justizministerium vorerst „den Boden abtastet“. Bald werde seine Liste schnell aufgefüllt werden, da „die Anwaltschaft die letzte Grenze bleibt, die das Land vor einer vollkommenen Verstaatlichung trennt“. „Die Verteidiger sind heute das einzige Gegengewicht im System der Rechtsprechung. Die Staatsanwaltschaft, die von der Idee her die Einhaltung der Gesetze kontrollieren soll, ist zu einer zahnlosen und selektiven geworden. Die Interessen der einzelnen Bürger geraten bei ihr selten an die erste Stelle“. Nach seinen Worten werde die Anbindung an eine „politische Tätigkeit“ selektiv angewandt werden, hinsichtlich jener Anwälte, die sich nicht in das System einfügen und sich ihm nicht unterordnen wollen. Und obgleich sich die Anwaltschaft außerhalb der Politik befinde, seien die Juristen dennoch gezwungen, Erklärungen abzugeben, wobei sie sich auf Verstöße gegen das Gesetz sowohl durch einzelne Vertreter staatlicher Strukturen als auch systematische Verletzungen der Bürgerrechte insgesamt durch die Rechtsschutzinstitutionen stützen. Trapaidse stimmt zu, dass einzelne gewissenlose Verteidiger mitunter versuchen würden, bei spektakulären Themen einen Hype auszulösen. Aber als „ausländische Agenten“ werde man wahrscheinlich nicht die abstempeln, sondern jene, die das System kritisieren, das heißt die unverträglichen und zu aktiven Anwälte. Einige von ihnen, die sich mit der Verteidigung bei spektakulären Fällen befasst hatten, sind bereits gezwungen worden, erinnerte Trapaidse, das Land aufgrund der Vorwürfe hinsichtlich einer Politisierung und der Auftritte gegen das existierende System zu verlassen.

Der Expert ist sich sicher, dass bald aufgrund dieser Situation doch eine Reaktion der Föderalen Anwaltskammer formuliert werde, die seiner Meinung nach „solche Handlungen nicht ohne eine Antwort belässt“. „Die Föderale Anwaltskammer zeichnet sich durch einen reifen Konservatismus aus. Dort tritt man erst mit Anmerkungen auf, nachdem man zuerst die Situation nüchtern beurteilt und eine Pause für ein Durchdenken des Geschehens einlegt“. Er unterstrich, dass sich die wiederholenden Verletzungen der Rechte der Anwälte; das heißt eben jene Durchsuchungen, das Nichtzulassen zu den Mandanten oder gar die Vorschläge, sich vollkommen zu entkleiden – dies seien Glieder eines Prozesses. Die Experten rätseln schon seit langem herum, welchen Weg die Reform der gegenwärtigen Anwaltschaft gehen wird – zur sowjetischen Vergangenheit oder zur weißrussischen Gegenwart. Tatsächlich aber „werden wir zur schlechtesten Formel gelangen“, erklärte Trapaidse gegenüber der „NG“. Die Versuche, die Anwaltschaft in strenge Rahmenbedingungen zu bringen, seien der banale Wunsch jeglicher bürokratischen Struktur, den Oberen ihre Tätigkeit vorzuführen. Dort aber „hat jeder Staatsbeamter hohen Ranges seine Sichtweise auf den Staatsaufbau. Jeder von ihnen versucht in seinem Sektor, Ordnung zu schaffen. Leider entsprechend Vorstellungen, die nichts mit der Gesetzlichkeit gemein haben“. Von daher ergebe sich auch das breite Spektrum an sinnlosen Einschränkungen und Verboten. „Wenn es eine Rotation der Zusammensetzungen zwischen den Staatsanwälten, Richtern und Anwälten geben würde, wie dies in vielen Ländern der Fall ist, würden sich die Bürokraten der Justiz toleranter gegenüber der Verteidigung verhalten. So aber sind wir für sie ein regulierbares Feld sind, das man jedes Mal so tief wie möglich bearbeiten muss, damit es dann weniger Arbeit gibt. Und das Wichtigste – weniger Opponenten“, unterstrich der Experte.

Wie Irina Kalinina, Friedensbotschafterin der Universal Peace Federation der UNO und Beraterin eines Experten des Antikorruptionsausschusses beim Präsidenten der Russischen Föderation, der „NG“ erläuterte, „bedroht die Gefahr einer Aufnahme eines jeden beliebigen Anwalts oder Juristen ins Register der ausländischen Agenten aufgrund seiner Berufstätigkeit, aufgrund der Verteidigung der Interessen von Mandanten mit allen, nicht durch das Gesetz verbotenen Mitteln – einschließlich der Preisgabe von Informationen über erfolgende Verstöße gegen die Gesetzlichkeit – ernsthaft die Unabhängigkeit der Anwaltscommunity“. Denn, wenn ein Anwalt gewissenhaft arbeite, so äußere er keine persönliche Meinung, sondern vermittele die Meinung des Mandanten. Folglich könne er keine Verantwortung für dessen politische Ansichten und Überzeugungen tragen. Und selbst wenn ein Anwalt beginne, eine persönliche Position zu bekunden, die nicht mit der Anwaltskammer abgestimmt worden ist, so müsse man diese Frage der Qualifikationskommission zur Behandlung vorlegen, aber ihn nicht in die Listen der ausländischen Agenten aufnehmen. „Viele Anwälte arbeiten mit Bürgern, die eine doppelte Staatsbürgerschaft haben, und bekommen dafür Geldmittel, um Steuern oder die Kosten eines Notars zu begleichen. Und wenn man sich an diese Logik hält, so muss man sie alle als ausländische Agenten anerkennen, was nicht richtig ist“, unterstrich Irina Kalinina. Schon ganz zu schweigen davon, dass dies die Realisierung des Rechts auf eine gerichtliche Verteidigung der Rechte und Freiheiten behindert, worüber im Verfassungsartikel 46 die Rede ist.

Die Liste der „ausländischen Agenten“ könne für die Ausübung von Druck auf die Anwälte ausgenutzt werden, die hinsichtlich von Fällen mit einem politischen Hintergrund arbeiten, meint auch Jekaterina Arestowa, Dozentin am Lehrstuhl für staatsrechtliche und strafrechtliche Disziplinen der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität. Nach ihren Worten seien die Grundlagen für die Einstufung einer natürlichen Person als ein „ausländischer Agent“ derzeit „übermäßig breit und formell unbestimmt formuliert, was deren willkürliche Auslegung in der Praxis nicht ausschließt“. Wie es im Gesetz heißt, seien Formen einer „politischen Tätigkeit“ beispielsweise die Teilnahme an der Durchführung von Versammlungen, Meetings und anderen öffentlichen Veranstaltungen. Es ist aber „nicht konkretisiert worden, um welche öffentlichen Aktionen es gerade geht – sanktionierte oder nichtsanktionierte. Folglich hat dies keine juristische Bedeutung“. Als noch eine Form der politischen Tätigkeit sind im Gesetz öffentliche Appelle an staatliche Organe ausgewiesen worden. „Da ergibt sich, dass ein Anwalt, der sich beispielsweise an die Staatsanwaltschaft über Massenmedien mit einer Erklärung über eine Verletzung der Rechte und legitimen Interessen seines ausländischen Mandanten gewandt hat, den Status eines ausländischen Agenten erhalten kann“. Ein gesondertes Problem ist solch eine gesetzgeberische Begründung für die Anerkennung eines Anwalts als ausländischer Agent, dessen Arbeit eine ausländische Quelle bezahlt, wie die Verbreitung von Meinungen über durch staatliche Organe, darunter durch Untersuchungs- und Gerichtsorgane getroffene Entscheidungen. Das heißt: Jeglicher Auftritt in den Medien oder ein Post auf Facebook, die wertende Überlegungen eines Anwalts über den Fall, den er betreut, enthalten, kann als Grundlage für seine Einstufung als ausländischer Agent gewertet werden.

Der Jurist Wadim Tkatschenko, Gründer und CEO der Consulting-Gruppe vvCube, merkte gegenüber der „NG“ an, dass insgesamt die Anerkennung nicht einmal von konkreten Anwälten, sondern jener, die dem einen oder anderen Kollegium angehören, als „ausländische Agenten“ ein schlechtes Zeichen sei. Da sich ergebe, dass man ein Kollegium aufgrund des Erhalts von Mitteln für die Verteidigung der Interessen von Mandanten als einen „ausländischen Agenten“ einstufen könne. „Es ergibt sich sofort die Frage, wird ein Anwalt automatisch zu einem ausländischen Agenten, wenn er eine ausländische Person verteidigt? Solange es keine entsprechenden Erläuterungen vom Justizministerium und keine Annahme von Gesetzesänderungen bezüglich der „ausländischen Agenten“ gibt, bleibt diese Frage so auch eine hypothetische und folglich eine weit interpretierbare“, unterstrich der Experte.