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Der Hyperschall wurde in Russland zu einem Fluch für Wissenschaftler


Der leitende wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für theoretische und angewandte Mechanik der Sibirischen Filiale der Russischen Akademie der Wissenschaften, Valerij Swerginzew, wird des Landesverrats verdächtigt. Dies ist bereits der dritte wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts, den man aufgrund des Verdachts von Landesverrat festnimmt. Alle drei sind Spezialisten auf dem Gebiet der Hyperschall-Aerodynamik. Mitarbeiter-Kollegen aus dem Institut erklären, dass dies eine faktische Vernichtung der Aerodynamik als Wissenschaft in Russland heraufbeschwöre.

Swerginzew ist Gründer des Labors „Aerodynamik großer Geschwindigkeiten“, das sich mit Hyperschall-Technologien befasst. Laut einer Mitteilung der Moskauer Nachrichtenagentur „Interfax“ habe eine Quelle in der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften präzisiert, dass Swerginzew vor rund drei Wochen festgenommen worden sei und sich unter Hausarrest befinde.

„Festgenommen wurde er aufgrund einer Veröffentlichung zum Thema der Gasdynamik in einer ausländischen wissenschaftlichen Fachzeitschrift“, sagte ein Gesprächspartner der Agentur. Die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS präzisiert, dass zum Anlass für die Verdächtigungen hinsichtlich eines Landesverrates die Veröffentlichung in einer iranischen wissenschaftlichen Zeitschrift geworden sei.

Nach Aussagen eines Gesprächspartners von TASS aus dem Institut für theoretische und angewandte Mechanik hätte die Arbeit vor der Veröffentlichung zwei Gutachten bezüglich eines möglichen geheimen Charakters durchlaufen.

Nicht zufällig sind die Mitarbeiter des Nowosibirsker Instituts mit einem offenen Brief an die Öffentlichkeit getreten (http://itam.nsc.ru/about/news/2023-05-15.html), der dazu aufruft, die russische Aerodynamik-Wissenschaft „vor einem heraufziehenden Untergang“ zu retten. Er wurde bei einer Sitzung des wissenschaftlichen Rates einstimmig bestätigt und auf der Internetseite des Instituts publiziert. „Die Materialien unserer Kollegen sind mehrfach durch eine Expertenkommission unserer Organisation hinsichtlich des Vorhandenseins von Angaben für einen eingeschränkten Zugang in ihnen überprüft worden. Und solche Angaben waren in ihnen nicht festgestellt worden“, wird in dem Schreiben betont.

Der letzte Umstand veranlasst unweigerlich, die Frage zu stellen: Wenn der Artikel alle erforderlichen Abstimmungsprozeduren vor der Veröffentlichung durchlaufen hat, warum hat sich nur der Autor des Beitrags als ein Verdächtigter erwiesen? Die ironische Sentenz darüber, dass Russland eine „unberechenbare Vergangenheit“ habe, wird im wahrsten Sinne des Wortes zu einer objektiven Realität, die uns in juristischen Formulierungen vermittelt wurde. Ja, und die Mitarbeiter des Nowosibirsker Instituts stellen sich auch die Frage: Wie „soll man seine Arbeit tun“, da nach Meinung der Wissenschaftler „jeglicher Artikel oder Vortrag zur Ursache für Anklagen hinsichtlich eines Landesverrats werden kann“.

„Im Verlauf des letzten Jahres wurden drei herausragende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Aerodynamik – Anatolij Alexandrowitsch Maslow, Alexander Nikolajewitsch Schipljuk und Valerij Iwanowitsch Swerginzew – unter dem Verdacht der Verübung eines Verbrechens entsprechend dem strengsten Paragrafen des Strafgesetzbuches – „Landesverrat“ (Artikel 275 des StGB der Russischen Föderation) – festgenommen“, wird in dem veröffentlichten Brief des Kollektivs des Instituts für theoretische und angewandte Mechanik unterstrichen, den die Agentur „Interfax“ zitiert. In dem Institut leitete Alexander Schipljuk das Labor „Hyperschall-Technologien“. Anatolij Maslow befasste sich mit Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Aerogasdynamik.

Es sei daran erinnert, dass die Staatsduma (das russische Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) am 18. April im Schnelldurchlauf, in der 2. und in der 3. Lesung Änderungen am Strafgesetzbuch verabschiedete, die die Haftstrafen für die Verübung von Straftaten, die durch den Artikel 275 des StGB der Russischen Föderation vorgesehen werden, anheben. Für solch eine Straftat wie Landesverrat, das heißt die Vornahme von Spionage, der Übergabe von Angaben, die ein Staatsgeheimnis darstellen, an einen ausländischen Staat, eine internationale oder ausländische Organisation durch einen Bürger der Russischen Föderation, der Übergang auf die Seite eines Gegners oder die Gewährung finanzieller, materiell-technischer, Consulting- oder einer anderen Hilfe für einen ausländischen Staat, eine internationale oder ausländische Organisation oder an deren Vertreter bei einer Tätigkeit, die gegen die Sicherheit der Russischen Föderation gerichtet ist, wird vor allem eine lebenslange Haftstrafe zur maximal möglichen Bestrafung.

Bei Redaktionsschluss und Drucklegung für diesen Beitrag war es der Redaktion der „NG“ nicht gelungen, irgendwelche Kommentare von der Führung der Russischen Akademie der Wissenschaften zu bekommen. Im Zusammenhang damit kann man jedoch daran erinnern, dass bereits im November letzten Jahres der Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften, Gennadij Krasnikow, bei einer Tagung des Präsidiums der RAdW erklärt hatte, dass man in der Akademie alle Fälle im Zusammenhang mit den Fragen, die sich für die Rechtsschutzorgane in Bezug auf Wissenschaftler und Akademiemitglieder ergeben, aufmerksam prüfen werde. „Alle Tatsachen, die es in Bezug auf führende Wissenschaftler, besonders in Bezug auf Mitglieder der Akademie, gibt, (alle) Beanstandungen seitens der Rechtsschutzorgane, sind mir sofort mitzuteilen“, zitierte damals „Interfax“ Krasnikow. „Wir haben bereits eine Gruppe von Juristen gebildet, um solche Tatsachen aufmerksam zu behandeln“. Der Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften fügte hinzu, dass seine „Position eine prinzipiell ist: Dies sind herausragende Menschen. Ihnen gegenüber muss es ein völlig anderes Verhältnis geben, ein akkurates, unvoreingenommenes und adäquates“. „In der letzten Zeit sehe ich, dass sich hier ein unguter Trend mit Überziehungen abzeichnet“, betonte Gennadij Krasnikow.

Derweil liegt über den einheimischen Wissenschaftler für Aerodynamik und für Hyperschall-Technologie sozusagen ein Fluch. Im April des Jahres 2021 war der leitende wissenschaftliche Mitarbeiter des Zentralen aero-hydro-dynamischen Instituts (ZAHDI), der Professor aus dem Moskauer physikalisch-technischen Instituts Valerij Golubkin, ebenfalls unter dem Vorwurf eines Landesverrats festgenommen worden. In einer Jubiläumsschrift zum 100. Gründungstag des ZAHDI war beispielsweise über ihn geschrieben worden: „Er gewann eine Reihe grundlegender Ergebnisse. Er entwickelte ein Verfahren für einen äquivalenten vertikalen Durchbruch zwecks Berechnung nichtstandardgemäßer Belastungen auf Elemente von Flugapparaten beim Niedergehen von Schlagwellen. Er hat ein originelles Verfahren für ein Integrieren von Gleichungen für eine dünne räumliche Hyperschall-Schlagschicht vorgeschlagen“.

Übrigens, im einleitenden Beitrag zu der Jubiläumsschrift hatte der damalige ZAHDI-Generaldirektor, das Akademiemitglied Sergej Tschernyschjow, hervorgehoben: „In der Abteilung sind Bedingungen geschaffen worden, die für die Vornahme sowohl fundamentaler als auch angewandter Forschungsarbeiten notwendig sind. Die Abteilung hat einen großen Beitrag zur Verstärkung der Verteidigungskraft des Landes geleistet. Erforscht und vervollkommnet wurden die aerodynamischen Eigenschaften von Raketen, die von Umlaufbahnen von (Flug-) Apparaten, Flugzeugen der Luft- und Kosmos-Streitkräfte und anderen Hyperschall-Flugapparaten gestartet werden“.

Jetzt müssen die Wissenschaftler augenscheinlich rückwirkend den zuständigen Organen Erklärungen hinsichtlich dieser Leistungen geben.