Internationale Experten erwarten eine Beschleunigung des russischen Wirtschaftswachstums in der zweiten Hälfte dieses Jahres dank einer erfolgreichen Vakzinierung und dem Ausbleiben ernsthafter Quarantänerestriktionen. Diese Erwartungen können aber auch aufgrund der beinahe explosionsartigen Zunahme der Erkrankungsrate, des Impf-Boykotts und notgedrungener Quarantänemaßnahmen nicht aufgehen. Ärzte haben bestätigt, dass die Zunahme der Erkrankungen durch einen aggressiveren Stamm ausgelöst worden sei. Und die regionalen Behörden stellen schrittweise Forderungen hinsichtlich einer obligatorischen Vakzinierung. Moskau, das Moskauer Verwaltungsgebiet, der Kusbass und Sachalin haben Fristen in Bezug auf eine obligatorische Vakzinierung für Beschäftigte des Transportwesens und des Dienstleistungsbereichs gestellt.
„Wir erwarten, dass die Restriktionen im Zusammenhang mit COVID-19 äußerst moderate bleiben werden. Und ein stabiles Vakzinierungstempo wird eine weitere Unterstützung für die Aktivität leisten“, erklärte man in der Rating-Agentur Fitch.
Das Wachstum des russischen BIP werde sich laut einer Prognose der Agentur bis auf 5,5 Prozent auf das Jahr hochgerechnet im zweiten Halbjahr des Jahres 2021 beschleunigen. Wobei diese Beschleunigung ungeachtet der Arbeit der Regierung und der Zentralbank erfolgen werde, das heißt: „ungeachtet des zügelnden Faktors in Gestalt einer gemäßigten Verschärfung der Geld- und Kredit- sowie der Steuer- und Haushaltspolitik“.
Diese Prognose berücksichtigt jedoch scheinbar nicht den begonnenen explosionsartigen Anstieg der Cornavirus-Erkrankungen in Moskau, im Moskauer Gebiet, in Sankt Petersburg und mehreren anderen Regionen. Am Mittwoch bestätigten Spezialisten das Auftreten einer neuen Version des sogenannten indischen Stamms im Zentrum des Landes, der sich durch eine größere Aggressivität auszeichnet.
„Gegenwärtig bestimmen wir das Spektrum der Stämme, die in Moskau zirkulieren. Und hier gibt es bei Weitem schon nicht allein den Wuhan-Stamm. Es gibt auch einen veränderten indischen“, teilte der Direktor des Gamaleja-Forschungszentrums für Epidemiologie und Mikrobiologie Alexander Ginzburg mit.
Die Epidemie des indischen Stamms hatte in Indien an sich schwerste Folgen ausgelöst. Die Erkrankungsrate erhöhte sich etwa zwei Monate lang und vervielfachte sich dabei um ein Zig-faches im Vergleich zu den vorherigen Coronavirus-Stämmen, die in dem Land bis zum April zirkulierten. Dabei waren die indischen Behörden gezwungen gewesen, Quarantänemaßnahmen zu verhängen, da sie die Unterstützung und den Rückhalt der Bevölkerung aufgrund der Überlastung der Krankenhäuser und der geringen Effektivität bei der Epidemie-Bekämpfung zu verlieren begannen. In den Regionen Indiens wurden nicht nur ein Ausgehverbot und ein Verbot für öffentliche Veranstaltungen verhängt, sondern auch Restriktionen für den Handel und andere Arten der Wirtschaftstätigkeit.
In Russland hat die Zunahme der Erkrankungen die Behörden bisher genötigt, einige Restriktionen im Gastronomiebereich einzuführen. Aber auch eine Vakzinierung der Mitarbeiter des Dienstleistungsbereichs zu verlangen. Am Mittwoch nannten die hauptstädtischen Offiziellen die Forderungen bezüglich einer Vakzinierung der Bürger.
„Im Zeitraum bis zum 15. Juli ist die Vornahme prophylaktischer Impfungen mit der ersten Komponente oder mit einem Ein-Komponenten-Vakzin von mindestens 60 Prozent der Mitarbeiter von der gesamten Beschäftigtenzahl zu organisieren, und im Zeitraum bis zum 15. August 2021 – mit der zweiten Komponente eines Vakzins gegen die Coronavirus-Infektion, das in der Russischen Föderation eine staatliche Registrierung durchlaufen hat“, heißt es in der Anordnung der staatlichen Chefhygieneärztin der Hauptstadt, Jelena Andrejewa. Zu einer obligatorischen wird die Vakzinierung für die Beschäftigten im Bereich des Handels, der Gastronomie, des öffentlichen Nah- und Taxiverkehrs, der Dienstleistungen, des Bildungs- und Gesundheitswesens, der Sozialfürsorge und sozialen Betreuung, des kommunalen und Wohnungssektors sowie der Energiewirtschaft. Gleichfalls werden obligatorisch die Mitarbeiter von Kosmetik- und SPA-Salons, Dampfbädern und Saunen, Sportkomplexen, Fitnessclubs, Schwimmbädern, Kundenabteilungen von Finanzorganisationen und der Post, die Mitarbeiter der multifunktionalen Zentren für staatliche und kommunale Dienstleistungen geimpft. Insgesamt ist geplant, in der russischen Hauptstadt obligatorisch und im Schnellverfahren rund zwei Millionen Menschen gegen COVID-19 zu impfen. Und die städtischen Behörden versprechen, eine zusätzliche Kontrolle des Vakzinierungsverlaufs zu organisieren.
Analoge Entscheidungen über eine obligatorische Vakzinierung einzelner Kategorien von Bürgern sind auch im Moskauer Verwaltungsgebiet per Beschluss der Chefhygieneärztin des Moskauer Gebietes, Olga Michailowa, gefällt worden.
Allerdings kann sich die Wirkung der angeordneten Vakzinierung als eine recht beschränkte erweisen, da eine Immunität nach der zweiten Komponente erst bis Ende August erreicht werden kann. Außerdem ist offiziell eingestanden worden, dass die russischen Vakzine weniger effizient in Bezug auf den indischen Stamm seien. „Wenn von einer Effektivität (des Impfstoffs „Sputnik-V“ – „NG“) unter Laborbedingungen gesprochen wird, so gibt es eine Verringerung um das 1,4- bis 2,4fache im Vergleich zum Serum, das von den Wuhan-Stämmen gewonnen wurde. Dies ist überhaupt nicht kritisch“, erklärte am Mittwoch Alexander Ginzburg.
Dabei gibt die föderale Regierung von Michail Mischustin zu verstehen, dass bisher nicht geplant sei, eine obligatorische Vakzinierung der Bürger der Russischen Föderation gegen das Coronavirus in den Dimensionen des ganzen Landes durchzuführen. „Die Entscheidungen werden in Abhängigkeit von der Situation in den konkreten Regionen gefällt“, teilte eine Quelle in der russischen Regierung mit.
„Die russischen offiziellen Vertreter haben oft (und gern – „NG“) erklärt, dass das Land besser als der Westen mit dem Coronavirus fertig geworden sei. Seit Sommer letzten Jahres sind im Land keine großangelegten Quarantänemaßnahmen durchgeführt worden. Jetzt, da die westlichen Länder aus der Isolation herauskommen, riskiert Russland, unter eine neue Welle des Virus zu geraten. Und die offiziellen Vertreter beginnen einzugestehen, dass die Pandemie in der nächsten Zeit nicht aufhören werde, wenn sich nicht die Zahl der Vakzinierungen drastisch erhöhen werde“, kommentiert Timur Bajanow, Senior Personal Broker der Investitionsfirma „BKS Welt der Investitionen“.
„Es ist nicht möglich, die Dimensionen und die Dauer der neuen Welle der Ausbreitung der Coronavirus-Infektion im Land vorauszusagen. Wir wissen lediglich, dass jede weitere Welle sich insgesamt in der Welt als eine um das Mehrfache stärkere als die vorausgegangene erweist“, gesteht Anton Grinschtein, Experte des Informations- und analytischen Zentrums der Firma „Hamilton“, ein. „Russland hat es bisher nicht verstanden, wie die Statistik belegt, nicht einer der Wellen auszuweichen. Die ersten zwei verliefen entsprechend den generellen weltweiten Tendenzen. Die zweite Welle erwies sich als eine 3mal intensivere hinsichtlich der Dynamik der täglichen Erkrankungsrate. Es ist logisch, dass auch die dritte Welle eine intensivere werden wird“, meint der Experte.