Das religiöse Leben Russlands wurde am vergangenen Wochenende von zunehmenden Spannungen geprägt. Aber nicht bei der Suche nach der geistlichen Wahrheit, sondern in politischen Skandalen. Die moslemische Gemeinschaft erschüttert ein Skandal, der mit der Wahl des Muftis von Tatarstan, die am 12. April erfolgt, zusammenhängt. Zur gleichen Zeit wirft man dem Fernsehkanal unter der Ägide der Russischen orthodoxen Kirche vor, dass er sich in den propagandistischen Kampf gegen die politische Opposition eingetaktet habe.
Der Vorsitzende der Geistlichen Verwaltung der Moslems der Russischen Föderation, Mufti Rawil Gainutdin, hat ein Schreiben an den Präsidenten Tatarstans Rustam Minnikhanov gesandt, in dem er die Tätigkeit des Muftis dieser russischen Teilrepublik Kamil Samigullin kritisierte. Als Anlass diente die Herausgabe eines Tafsīr-Werkes, einer Koranexegese, das unter der Ägide der Geistlichen Verwaltung der Moslems von Tatarstan erschienen war. Gainutdin, der Anspruch auf die seelsorgerische Obhut über die Moslems von ganz Russland erhebt, hielt die Ideen, die in der tatarischen Auslegung erklangen, als den nationalen Traditionen zuwiderlaufende. Nach Meinung des Muftis, reflektiere das neue Tafsīr-Werk radikalische sufistische Anschauungen. Gainutdin bezichtigt Samigullin der Zugehörigkeit zu der „marginalen türkischen Sekte İsmail-Ağa“ und der Propagierung für unser Land „fremder“ religiöser Lehren. Er prophezeit eine Konfrontation im Wolgagebiet von radikalen Vertretern der sufistischen und der salafitischen Tradition, ähnlich der, die schon viele Jahre im Nordkaukasus erfolge. Samigullin bezeichnete die Anschuldigungen von Gainutdin als Verleumdung, rief jedoch den Moskauer Kollegen zu einer Aussöhnung am Vorabend des heiligen Monats Ramadan auf.
„Ich bedauere es aufrichtig, dass sich ungeachtet der Vielzahl an moslemischen Lehreinrichtungen in der ganzen Republik kein kompetenter religiöser Vertreter für das Amt des Vorsitzenden der Geistlichen Verwaltung der Moslems von Tatarstan gefunden hat, der sich in seinem Dienst auf die Tradition sowie den geistlichen und wissenschaftlichen Reichtum des tatarischen Volkes stützen würde“, schrieb Gainutdin. Es versteht sich, viele haben dieses Schreiben mit dem Versuch in Verbindung gebracht, Minnikhanov davon zu überzeugen, die Wahl des Muftis von Tatarstan zu beeinflussen, die am 12. April während des Kongresses der Moslems der Republik erfolgen soll. Es ist schon lange bekannt, dass Samigullin der einzige Kandidat ist, so dass seine Wahl wahrscheinlich vorentschieden ist. Er leitete die Geistliche Verwaltung der Moslems der Republik Tatarstan im Verlauf von zwei vierjährigen Amtszeiten. Im Jahr 2013 wurde er im Alter von 28 Jahren und mit einer Ausbildung in einer türkischen Medresse zum Mufti. Die Geistliche Verwaltung der Moslems der Republik Tatarstan ist 2011 vollkommen aus den Strukturen ausgetreten, die durch Gainutdin geleitet werden. Und Samigullin setzte die Linie einer Unabhängigkeit des tatarischen Muftiats von den anderen islamischen Vereinigungen des Landes fort.
Den Ausgang der Wahlen in Kasan hält man für vorentschieden. Er hat jedoch noch vor der offiziellen Bekanntgabe einen Konflikt ausgelöst. Genauso sind am vergangenen Wochenende die Leidenschaften um ein anderes zu diesem Zeitpunkt nicht stattgefundenes Ereignis aufgeflammt, um die Ausstrahlung des Autorenprogramms „Parsuna“ (eine Form der Porträtmalerei im Zarentum Russland und in der Frühphase des Russischen Kaiserreiches, deren Stil von der Ikonenmalerei abgeleitet ist und einen Zwischenschritt zu realistischeren Porträts darstellt – Anmerkung der Redaktion) des Vorsitzenden der Synodalabteilung der Russischen orthodoxen Kirche für die Beziehungen mit der Gesellschaft und den Massenmedien, Wladimir Legoida, auf dem TV-Kanal „Spas“ („Der Erlöser“). Dieses Mal war zum Gast der Sendung Maria Butina geworden. Legoida hatte in den sozialen Netzwerken seine Heldin als die (ehemalige) Gefangene eines US-amerikanischen Gefängnisses vorgestellt und mit diesem Umstand die Aktualität des Themas erklärt. „Mit einem Menschen zu sprechen, der 15 Monate in einem (amerikanischen) Gefängnis gesessen hat, dies ist wie sich mit einem nach Kriegshandlungen Zurückgekehrten zu unterhalten“, hatte er geschrieben.
In den Kommentaren stürzte ein Schwall von Kritik auf den Vertreter der Russischen orthodoxen Kirche ein. Man erinnerte ihn daran, dass Butina bereits im Herbst des Jahres 2019 freigelassen worden war. Doch in die Sendung von „Spas“ kam sie gerade nach ihrem Besuch des Straflagers, in dem der Oppositionelle Alexej Nawalny eine Strafe verbüßt. Butina hatte das Straflager in Pokrow mit einem Pionierlager verglichen. Sie weilte dort im Rahmen einer Fahrt von Vertretern der Öffentlichkeit, nachdem sich Nawalny über ein schlechtes Wohlbefinden und über das Fehlen einer Heilbehandlung beklagt hatte. „Wo ist denn bei Legoida solch ein Gespräch mit Menschen, die in einheimischen Gefängnissen gesessen haben? Warum interessieren ihn gerade die amerikanischen so? Ist es sicherer, deren Ordnung zu kritisieren?“, fragt sich Andrej Kurajew. „Und warum ist bei ihm so spät das Interesse für diese amerikanische Strafgefangene erwacht? Sie ist doch bereits anderthalb Jahre in Moskau. Aber sobald man sie als eine Kritikerin des russischen Häftlings Nawalny nutzte, stürzte auch Legoida los, um sie zu pushen. Nein, aber so stehen wir außerhalb der Politik. Und das Gegenteil: Der herzensgute Moskauer Geistliche Alexej Uminskij hat ein Video über die Notwendigkeit aufgezeichnet, Gefangenen rechtzeitige medizinische Hilfe zu gewähren (wobei er zum Anlass die entsprechende Mitteilung eben jenes Nawalny genommen hatte). Und da ist eben dieses Legoida-Fernsehen grob über Vater Alexej hergefallen, indem es eine musterhafte Sendung Hass mit einer Dauer von 15 Minuten ausstrahlte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte keiner außer Legoida den Inhalt des Gesprächs mit Butina gekannt, jedoch hat dies der lebhaften Diskussion nicht gestört. Ein analoges Interesse haben auch einige Dokumente ausgelöst, die durch die Theologie-Kommission des zwischen den Kirchenkonzilen wirkenden Gremiums der Russischen orthodoxen Kirche vorbereitet wurden, obgleich deren Inhalt bisher nicht genau bekannt ist. Für das Publikum hatten sich jedoch die Erwähnungen der Themen dieser Dokumente als ausreichend erwiesen: Exorzismus, das heißt Teufelsaustreibung, aber auch die Haltung der Kirche zu solchen Erscheinungen wie die Geschlechtsumwandlung, künstliche Intelligenz und Terrorismus.