Die am 24. Februar begonnene militärische Sonderoperation hat zu einer Zunahme der propagandistischen Konfrontation des Westens und Russlands geführt. Die hurrapatriotischen Stimmungen sowie die Bewertungen und Prognosen zahlreicher Experten auf beiden Seiten des Konflikts sind vor allem auf das „eigene“ Auditorium ausgerichtet. Das „eigene“ Auditorium unterscheidet sich auch dadurch vom gewöhnlichen, dass es ein Ausgangsbedürfnis an Optimismus, Propaganda und Zuversicht und nicht an Enttäuschung, Diskussion und der Wahrheit ausprägt. Unter diesen Bedingungen ist es außerordentlich schwierig, eine realistische Vorstellung über die wahre Lage der Dinge in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu gewinnen. Und das Wichtigste – darüber, wohin sich alles bewegt und mit was für einem Tempo.
Die Opponenten vermitteln wie ein Spiegel eigenen Optimismus und Prognosen hinsichtlich eines baldigen und – was das Wichtigste ist – bedingungslosen Sieg an allen Fronten. Man streitet sich vehement. Sowohl bei uns als auch bei ihnen.
Der Vorsitzende des Ausschusses des Föderationsrates (des Oberhauses des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) für Verfassungsgesetzgebung und Staatsaufbau Andrej Klischas (Kremlpartei „Einiges Russland“) hatte erklärt, dass die Importsubstitution in Russland nur in den bravourösen Berichten der Ressortministerien existiere, in der Realität aber sei das Programm vollkommen gescheitert. Klischas ist ein angesehener Senator. Erinnert sei nur zumindest an seine Rolle im Verfassungsprozess. Folglich ist er es scheinbar nicht gewohnt, einfach so die Worte um sich zu werfen. Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten, hat jedoch sehr schnell Klischas zurückgepfiffen: „Zu sagen, dass alles gefloppt sei… Dem wird man wohl kaum zustimmen können. Dass es nichtrealisierte Pläne gibt, nun ja, sicherlich. Wir leben und arbeiten nicht unter idealen Bedingungen mit Ihnen zusammen, im Gegenteil. Es sind aggressive“. Peskow fügte hinzu, dass Vieles nicht im gewohnten Regime, sondern unter einem großen Zeitdruck zu tun sei. Extreme Bedingungen sind doch als eine Realität anerkannt worden.
Ein anderes Beispiel: Vor einigen Wochen hatten sich die Vorsitzende des Föderationsrates Valentina Matwijenko (Kremlpartei „Einiges Russland“) darüber öffentlich erstaunt gezeigt, dass Russland als ein großer Hersteller und Exporteur von Metallen gezwungen sei, Nägel zu importieren. Das Industrie- und Handelsministerium erwiderte ihr schnell, dass Russland ausreichend Nägel für den Inlandsbedarf herstelle und sie auch noch in Länder der GUS liefere. Die „zurückgepfiffenen“ Klischas und Matwijenko haben nicht darauf bestanden, dass sie Recht gehabt hätten.
Während der Begegnung mit dem Präsidenten per Videokonferenzschaltung hatte am vergangenen Freitag der Gouverneur des Verwaltungsgebietes Kaliningrad Anton Alichanow (Kremlpartei „Einiges Russland“ den Rückgang der Parameter im Bauwesen mit Problemen bei den Lieferungen erklärt, die sich wiederum aufgrund der Sanktionen nach Beginn der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine ergeben hätten. „Auf unsere militärische Sonderoperation sollte in diesem Fall nicht verwiesen werden“, sagte Putin. „Sie haben dies getan. Doch man darf dies nicht tun, denn bei Ihnen hatte es bereits in den Jahren 2020-2021 einen Rückgang gegeben. Einen spürbaren Rückgang gab es im Bauwesen. Dabei hat die militärische Sonderoperation im Donbass hier überhaupt keine Rolle gespielt“.
Das Staatsoberhaupt wies darauf hin, dass solch ein „Verweis – sagen wir es einmal frank und frei – nicht sehr angebracht war“. „Gegenwärtig ergeben sich natürlich zusätzliche Schwierigkeiten. Dies ist alles verständlich. Wie ich aber bereits gesagt habe: Es gab (im Verwaltungsgebiet Kaliningrad – „NG“) einen Rückgang um 48,9 Prozent im Bauwesen in den Jahren 2020-2022“, resümierte der Präsident.
Es ist offensichtlich, dass der Kreml der Ausprägung eines im Land dominierenden Narrativs bezüglich der sozial-ökonomischen Probleme gewaltige Aufmerksamkeit schenkt, die durch die militärische Sonderoperation ausgelöst oder zeitlich mit ihr festgestellt wurden oder zusammengefallen sind. Und durch seine rasche und harte Reaktion auf die Überlegungen von Klischas und Alichanow hat er der gesamten Machtvertikale das Signal gesandt: Es muss gearbeitet und nicht in der militärischen Sonderoperation nach Rechtfertigungen für die eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler sowie Misserfolge gesucht werden. Umso mehr unter Berücksichtigung der persönlichen Rolle Putins bei der Annahme der Entscheidung vom 24. Februar.
Es ist klar, dass der Durchschnittsbürger vorerst nicht die Wahrheit darüber erfährt, wie es gerade sowohl um die Importsubstitution als auch um den Rückgang im Bauwesen bestellt ist. Denn man dürfe ja nicht durch Jammern und Skepsis die moralische Einheit und den Kampfgeist der Nation untergraben. Es scheint, dass gerade aus diesen Erwägungen uns keine regelmäßigen Informationen über die Verluste an Menschen und Technik vorgelegt werden. Dies sei nicht die Zeit dafür…
Die Bereitstellung von 40 Milliarden Dollar Hilfe für die Ukraine im Rahmen eines Lend-Lease durch die Amerikaner, 18,7 Milliarden Euro durch die Europäische Union und 1,3 Milliarden Pfunds durch Großbritannien für militärische Hilfe für Kiew lösen bei den Gegnern Moskaus eine optimistische Stimmung aus. Mit solchen Geldern werde alles bald ganz anders verlaufen. In Moskau aber sprechen unsere Quellen darüber, dass die Frage nach der territorialen Demontage des kommunistischen Erbes der Ukraine keiner von der Agenda genommen habe. Und nach den Lenin-Denkmälern würden alle am Schwarzen Meer gelegenen Territorien aus der Jurisdiktion Kiews herausgelöst werden. Dies verheißt keinen schnellen Abschluss des Konflikts und erhöht den Grad der systembedingten Unbestimmtheit.
Die USA und Großbritannien, der Chef der europäischen Diplomatie Josep Borrell und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg – sie dürsten nach einem Sieg der Ukraine nur auf dem Schlachtfeld. Da gibt es keinerlei Platz für eine Diplomatie, für Vereinbarungen und irgendwelche Konzessionen. Heute entsteht der Eindruck, dass Wladimir Selenskij eindeutig gerade auf solch einer Position steht. Und ihm gefallen nicht die Vorschläge der Italiener und der Franzosen auf höchster Ebene hinsichtlich der Notwendigkeit, irgendwelche Kompromisse mit Moskau zu suchen.
Es ist klar, dass die unterschiedlichen Elite-Gruppen in der Welt, in Russland eigene Ziele verfolgen und ihre Vorstellungen über die endgültigen und erwünschten Ergebnisse der militärischen Sonderoperation haben. Die Informationen werden oft durch Propaganda ersetzt, die geduldige Diskussion – durch Voreingenommenheit und Hass. Die Massen folgen bisher gehorsam dem dominierenden Narrativ von Gut und Böse. Die Herrschenden haben beim Bestehen auf ihrer Interpretation dieser Kollision freie Hand.
Der strategische Ausgang und die Konsequenzen der militärischen Sonderoperation sind weder in den Details noch im Allgemeinen klar. Die Konfrontation der Eliten des Westens mit Russland trägt ganz offenkundig einen existentiellen Charakter- Einen kompromisslosen.
Und dies löst Besorgnis aus.