Der Führungsstil der Russischen orthodoxen Kirche wird immer unvorhersehbarer. Es erfolgen die Tagungen der Synod – eine nach der anderen – im Online-Regime, wobei sie vorab nicht angekündigt werden, im Eilverfahren stattfinden und Entscheidungen treffen, die selbst jene verblüffen, die schon Vieles im Kirchenleben gesehen haben. Patriarch Kirill kommuniziert mit den Bischöfen online, wobei er in einem leeren Zimmer unter dem eigenen Porträt sitzt. Und dies erinnert mehr an eine Schaltkonferenz denn an ein Kollegium von Gleichen. Möglicherweise beeinflusst die Form, die durch die sanitären Einschränkungen diktiert wird, den Inhalt solcher Versammlungen, doch wahrscheinlicher ist, dass der Führungsstil die Krisensituation in der Russischen orthodoxen Kirche widerspiegelt.
Als eine der lakonischsten und hinsichtlich der Ergebnisse überraschendsten hat sich der Heilige Synod vom 8. November erwiesen. Die Synod-Teilnehmer ließen ein ganz kurzes Journal (Protokoll) aus nur einigen Paragrafen zurück. Dieses Mal haben die Bischöfe einen Teil der eigenen Vollmachten dem Patriarchen überlassen. „Der primus inter pares“ (lateinisch für „Erster unter Gleichen“) hatte den Vorschlag unterbreitet – und die Unterstellten konnten es nicht verwehren. Das Verdikt betraf die „Notwendigkeit der Vornahme einer Änderung an den Satzungen (Bestimmungen der synodalen und anderen gesamtkirchlichen Einrichtungen, wonach der Patriarch von Moskau und Ganz Russland berechtigt ist, in ausschließlich Fällen durch seinen Erlass den Leiter einer synodalen Einrichtung vom bekleideten Amt zu entbinden und einen amtierenden Leiter einer Synodaleinrichtung zu ernennen (vom Amt zu entbinden)“. Gemäß der Satzung der Russischen orthodoxen Kirche erfolgt die Leitung der Kirchen durch den Patriarchen und den Heiligen Synod. Der Patriarch leitet allein die Moskauer Patriarchie, das heißt die Kanzlei. Den größeren Teil der administrativen Strukturen verwaltet der Synod unter Leitung des Patriarchen. Solche Organisationen werden als synodale Einrichtungen bezeichnet. Sie werden „auf Beschluss der Heiligen Synod geschaffen oder aufgelöst“, sie „leiten Personen, die durch den Heiligen Synod ernannt werden“, lautet die Satzung. Eine derartige Ordnung reflektiert den „konziliaren“, den kollegialen Ansatz in der Kirche, der durch die Beschlüsse des Kirchenkonzils von 1918 verankert wurde.
„Die Daumenschrauben werden im Staat angezogen – angezogen werden sie auch in der Kirche“, kommentierte für die „NG“ der Dozent und wissenschaftliche Oberassistent Boris Knorre von der Moskauer Hochschule für Wirtschaftswissenschaften das Geschehen. „Die Nervosität der Herrschenden, der Wunsch, mögliche Proteste zu kupieren, finden einen Niederschlag im Wunsch des Patriarchen, alles zu kontrollieren und rasch, ohne eine Beratung mit den Mitgliedern der Synod Entscheidungen zu treffen. Man muss im Blick haben, dass der Patriarch in seinen Reden faktisch das sogenannte „Mobilisierungsmodell“ für die Entwicklung der Gesellschaft vermittelt, da er ständig die Notwendigkeit einer Heldentat unterstreicht, eines Opfers, einer außerordentlichen Anspannung menschlicher Kräfte nicht als einen situationsbedingten kurzzeitigen Schritt, sondern als eine Norm des Lebens. Und im Rahmen des Mobilisierungsmodells muss die Leitung eine alleinige sein. Möglicherweise hängt die mit dem Wunsch zusammen, die Rebellion von irgendwem zu neutralisieren, die passieren kann. Und der Patriarch wird ja doch älter“. „Die Menschen, die sich in Führungsämtern in der Kirche befinden, befinden sich die ganze Zeit im Zustand einer neurotischen Angst, dass man sie ersetzen wird. Derart ist die Atmosphäre, und der Patriarch ist auch von ihr angesteckt worden“, meint der Experte.
Nach Auffassung von Roman Lunkin, stellvertretender Direktor des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, „hat die Entscheidung der Synod eine Situation legalisiert, in der die Abteilungen und anderen Institutionen der Moskauer Patriarchie eine persönliche verantwortliche Regierung von Patriarch Kirill darstellen“. „Die Konzentration der exekutiven Gewalt in den Händen des Oberhauptes der Russischen orthodoxen Kirche erfolgte schrittweise im Zuge der administrativen Reformen der Diözesen und des zentralen Apparates“, erinnert der Experte die „NG“. „Man kann sagen, dass früher das System der synodalen Abteilungen mehr einer wenig steuerbaren Koalitionsregierung ähnelte, für die die verschiedenen Kirchenclans und Parteien ihre Vertreter benannten. Natürlich war dieses System nicht effektiv. Nunmehr sind der Synod die allgemeinen Fragen zur Leitung der Kirche geblieben, vor allem die Ernennungen und Ablösungen von Bischöfen unterschiedlicher Ebenen. Obgleich der Patriarch selbst – ohne den Synod – bereits schuldig gewordene Bischöfe abgelöst hat. Aber diese Entscheidungen hat dennoch später der Synod bestätigt“. Indem Lunkin den Aufbau der Kirche mit einem politischen System vergleicht, ist er der Annahme, dass „es Sinn macht, die Bildung eines neuen Ministerkabinetts von Kirill zu erwarten“. Nach Meinung des Religionswissenschaftlers „ist der Patriarch ungehalten über die Lage der Dinge und das Bild der Kirche in der Gesellschaft“.
Knorre betont, dass man die Quellen der Alleinherrschaft bereits in den ersten Jahren des Patriarchenamts von Kirill, das am 2. Februar 2009 begann, ausmachen könne. Der Religionsexperte erinnert sich daran, wobei er sich auf seine Erfahrungen aus der Arbeit in der Abteilung für religiöse Ausbildung und Katechismus stützt, dass „der Patriarch den Wunsch an den Tag legte, alles in allen Einzelheiten zu kontrollieren, ausführliche Angaben über jeden Mitarbeiter und dementsprechend das Recht, die in den synodalen Abteilungen tätigen Mitarbeiter zu bestätigen oder nicht zu bestätigen, zu haben“.
Derweil werden Versionen in Umlauf gebracht, dass man für das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche schon in baldiger Zukunft eine Ablösung vorbereite und gerade dies Kirill veranlasse, der möglichen bischöflichen Fronde (Opposition) die letzten administrativen Hebel zu nehmen. Auf die Bitte der „NG“, die Wahrscheinlichkeit solch einer Entwicklung der Ereignisse zu kommentieren, antwortete Boris Knorre, dass „man heute wohl kaum irgendetwas in Bezug auf Personalveränderungen in der Russischen orthodoxen Kirche ausschließen kann“. „Unter Berücksichtigung des Grades der Loyalität der Kirche gegenüber dem Staat und der Bereitschaft, jegliche Wünsche von oben zu erfüllen, kann man nicht ausschließen, dass auch der Wunsch nach einer Ersetzung des Patriarchen erfüllt werden kann. So etwas hat es mehrfach in der Geschichte gegeben. Der Staat hat sich auch an diese Loyalität gewöhnt. Und von der Idee her muss man, wenn die Russische orthodoxe Kirche weiter den Wunsch hat, die einen oder anderen Allianzen mit dem Staat zu entwickeln, erneut die Planke des Gehorsams anheben. Aber weiter geht es schon nicht mehr. Von daher die zusätzliche Nervosität“, meint der Experte.
Praktisch sind alle Sitzungen der Synod der letzten anderthalb Jahre, die in einer außerordentlichen Situation von Online-Schaltkonferenzen verliefen, mit Absetzungen und Umbesetzungen von Bischöfen aus der einen in eine andere Diözese sowie mit einer Auswechselung der Leiter unterschiedlicher Kirchenstrukturen zu Ende gegangen.
Ja, und am 8. November traf der Synod neben der Übergabe zusätzlicher Vollmachten an den Patriarchen wichtige Personalentscheidungen. Abgelöst wurde der Vorsitzende Finanz- und Wirtschaftsverwaltung des Moskauer Patriarchats, Archimandrit Ilija (Rudnjew). Er hörte auch auf, der amtierende Generalsekretär des Kunst- und Produktionsbetriebs „Sofrino“ (wichtigster Betrieb der Russischen orthodoxen Kirche vor den Toren Moskaus für die Herstellung von Kirchengeschirr, Kleidung und anderer Gegenstände für Gottesdienste – Anmerkung der Redaktion) zu sein. Der Archimandrit (hochrangiger Geistlicher bzw. Oberer eines orthodoxen Klosters bzw. Klosterverbands – Anmerkung der Redaktion) erhielt keinerlei neue Funktion und kehrte einfach zu sich ins Walaam-Kloster (auf der Insel Walaam im Ladogasee in der russischen Teilrepublik Karelien – Anmerkung der Redaktion) zurück. Zum neuen amtierenden Vorsitzenden der Finanz- und Wirtschaftsabteilung wurde Hieromonachos (Priestermönch) Hermogenus (Burygin), der von der Funktion des amtierenden stellvertretenden Verwaltungsleiters der Moskauer Patriarchie entbunden worden war. In seinem vorangegangenen Amt eines stellvertretenden Verwaltungsleiters war der Priestermönch gerade einmal seit dem 28. Mai gewesen.
Rudnjew war zum amtierenden Direktor von „Sofrino“ im vergangenen Juni ernannt worden und stellte einen Rekord hinsichtlich der Kürze im Amt des Leiters des Kirchenbetriebs für die Herstellung von Weihkerzen und Kirchengeschirr auf. Überhaupt ist es seit 2018 schon fünfmal zu einer Auswechselung des Leiters von „Sofrino“ gekommen, nachdem der langjährige Betriebsdirektor Jewgenij Parchajew entlassen worden war. Dieses personelle Durcheinander neben dem zu beobachtenden Wirrwarr bei den Umbesetzungen von Bischöfen aus einer Diözese in eine andere demonstriert bisher nicht auf beste Weise die Fähigkeit des Patriarchen, mit seinem „Ministerkabinett“ mittels administrativer und Befehlsmethoden fertig zu werden.
Als das gegenwärtige Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche den Patriarchenthron bestieg, war viel von den Plänen die Rede, den konziliaren Charakter, die Kollegialität in der Kirche zu entwickeln. Kirill etablierte spezielle beratende Institutionen, vor allem ein zwischen den Tagungen der Synod wirkendes Gremium. Das, was sich heute abspielt, macht scheinbar die ursprünglichen Bestrebungen des Patriarchen zunichte.
„Das zwischen den Tagungen der Synode wirkende Gremium hatte zu Beginn seiner Bildung und seines Wirkens wirklich Elemente eines konziliaren Charakters eingebracht, war ein Institut, dass die konziliaren Ansätze in der Kirche förderte“, urteilt Knorre. Zu einem gewissen Zeitpunkt waren theologisch ausgebildete Profane in dieses aufgenommen worden. Sie gibt es auch jetzt dort. Aber soweit ich weiß, hat sich in dieser Zeit eine ideologische Auswahl entsprechend dem Prinzip der Loyalität gegenüber den Herrschenden, der kirchlichen und der staatlichen, sowie gegenüber der Ideologie vollzogen“. „Die eigentlichen Reformideen von Kirill, insbesondere für eine Erweiterung der sozialen Funktionen der Kirchengemeinden, waren recht perspektivreiche und gaben Anlässe für eine Begeisterung. Im Weiteren aber haben sie sich größtenteils als ein Schirm erwiesen“, gesteht der Religionswissenschaftler ein. „Es ist nicht gelungen, die Programme zu realisieren, die der Patriarch formuliert hatte, da sich parallel zu den Versuchen einer Erweiterung der sozialen Funktion der Gemeinden Reformen vollzogen, die die Vollmachten der Bischöfe bezüglich der Bildung von Räten der Kirchengemeinden verstärkten. Es kam zu regelmäßigen Situationen, in der sich die Gemeinde als machtlos erwies, um den sie seelsorgerisch betreuenden Gemeindevorsteher vor einer direktiven Ablösung seitens des (zuständigen) Bischofs zu bewahren“. Boris Knorre nannte gleichfalls als Beispiel die Idee von Patriarch Kirill, Dienststellen für das Wirken professionell ausgebildeter Spezialisten-Religionslehrer und Sozialarbeiter in den Kirchengemeinden zu schaffen. „Dies hat sich aber fast überall als eine Fiktion erwiesen“, berichtete der Experte. Selbst die zentralen Gotteshäuser laden junge Menschen ein, um Vorträge zu halten, wie es heißt: „zum Ruhme Gottes“, wobei in der Regel ihre Arbeit nicht vergütet oder keine ständige Bezahlung garantiert wird, sondern einmalige Vergütungen ohne irgendwelche Garantien vorgenommen werden. Es ist nicht nur nichts mit dem konziliaren Charakter geworden. Und wenn von einer Professionalisierung die Rede ist, so nur auf der Ebene der synodalen Abteilungen, aber nicht auf der Gemeindeebene. Den konziliaren Charakter beeinflusst die Tatsache auf verderbliche Weise, dies, dass selbst die gebildeten Gemeindemitglieder, die die Funktionen von Katechese-Lehrern wahrnehmen, über keinen Rechtsstatus verfügen und alleinig durch den Vorsteher abgelöst werden können“, resümiert der Experte.
Die Beschneidung des konziliaren Charakters, die entweder aufgrund oder unter dem Vorwand der Coronavirus-Pandemie erfolgt, äußert sich auch noch darin, dass die Bischofsversammlung vom November auf den Mai kommenden Jahres verlegt wurde. Ja, und die erweiterte Zusammenkunft der Hierarchen wird auch nur erfolgen, wenn sich die epidemiologische Situation verbessert, erklärten Vertreter der Russischen orthodoxen Kirche. Vorerst aber wirken das Mobilisierungsregime und eine praktisch alleinige (herrschaftliche) Führung der Kirche.