Laut der Passagierliste des Flugzeugs, das am Mittwoch unweit des Dorfs Kuschenkino im Verwaltungsgebiet Twer abgestürzt ist, war der Gründer der Söldnerfirma „Wagner“, Jewgenij Prigoschin, an Bord. Das teilte am späten Abend die russische Aufsichtsbehörde für die zivile Luftfahrt Rosaviazia mit. Zusammen mit dem harten Kritiker der Führung des russischen Verteidigungsministeriums kamen sein Stellvertreter Dmitrij Utkin sowie Vitalij Tschekalow (war zuständig für die logistische Infrastruktur der Prigoschin-Firma) ums Leben (alles in allem fanden zehn Menschen – neun Männer und einer Frau – den Tod). Der „Wagner“-Firma nahestehende Telegram-Kanäle erklärten, dass das Flugzeug durch Kräfte der russischen Luftabwehr abgeschossen worden sei. Augenzeugen berichteten, dass sie vor dem Absturz eine Explosion in der Luft gesehen hätten (andere sprachen gar von zwei Explosionen). Die Meldungen über den Tod Prigoschins haben unter seinen Anhängern einen Schock ausgelöst, spontane Gedenkstätten entstanden am Hauptquartier des Unternehmens in Sankt Petersburg, aber auch in anderen Städten Russlands.
Erste Informationen über den Absturz des privaten Jets tauchten gegen 20 Uhr Moskauer Zeit auf, und praktisch sofort ermittelten die Medien anhand von Flugzeug-Datenbanken, dass der „Embraer“-Jet mit Jewgenij Prigoschin verbunden ist. Und laut Angaben des Services „Flightradar“ habe die Maschine vor dem Absturz ihre Flughöhe von etwa 8500 Metern nicht verlassen. Dies veranlasste letztlich zu der Annahme, dass zum Grund des Absturzes irgendein äußerer Faktor geworden war. Überdies wurde das Heckteil in einer Entfernung von ca. 3,5 Kilometern von den anderen Trümmerteilen gefunden worden.
Der Telegram-Kanal „Grey Zone“, der der Firma „Wagner“ nahesteht, meldete, dass das Flugzeug „durch das Feuer der Luftabwehr“ abgeschossen worden sei, wobei das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation als Schuldiger für das Geschehen ausgewiesen wurde. Immerhin hatte es einen harten Konflikt Prigoschins mit dem von Sergej Schoigu angeführten Verteidigungsministerium gegeben. Diese Konfrontation entlud sich in der „Prigoschin-Meuterei“ Ende Juni und führte zur „Verbannung“ der „Wagner“-Firma und ihres Chefs nach Weißrussland, wo man schnell Fuß fasste und sich für die weißrussische Armee nützlich machten.
Die Meldungen rund um den Absturz und den Tod von Jewgenij Prigoschin fanden natürlich in den Internetmedien und Telegram-Kanälen ein starkes Echo. Die Autoren letzterer sind in ihren Kommentaren vorsichtig, obgleich in Abhängigkeit von ihrer Haltung zu Prigoschin sowohl Trauer als auch eine gewisse Freude zu spüren sind. Sie alle stellen aber auch Vermutungen an, wer den „Wagner“-Chef ausschalten konnte bzw. daran ein Interesse hatte. Die Anhänger der Söldnerfirma sehen in dem Unglück vor allem eine Schuld der Militärs (dies sei zum Beispiel eine Vergeltung für im Verlauf der Meuterei abgeschossenen Hubschrauber und Flugzeuge). Michail Rostowskij von der hauptstädtischen Boulevardzeitung „Moskowskij Komsomolez“ zitiert sarkastisch den Berater des englischen Hofs aus dem 17. Jahrhundert, John Harrington: „Eine Meuterei kann nicht mit einem Erfolg enden“. Und es wird die Prognose formuliert, dass der Kreml im Ergebnis der Aufklärungsarbeiten auf eine Rolle Kiews oder gar des Westens bei dem Geschehen verweisen werde. Böse Zungen sind der Auffassung, dass Unterstellte Prigoschins, die mit dessen Politik nicht einverstanden gewesen waren, den Absturz organisiert haben können. Oder gar ausländische Geheimdienste.
Auffällig ist aber eines in der Berichterstattung russischer Medien über den Prigoschin-Tod. Erinnert wird sowohl an dessen markante Lebensgeschichte (u. a. mit Inhaftierungen und seiner Arbeit als sogenannter „Putin-Koch“ sowie den mehrfachen staatlichen Auszeichnungen) als auch an die Rolle der Söldnerfirma in der laufenden militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine. Über 60.000 „Wagner“-Kämpfer leisteten einen spürbaren Beitrag zu den russischen militärischen Erfolgen im Ukraine-Krieg (erinnert sei an die Kämpfe um Bachmut und zuvor um „Asowstahl“ in Mariupol).
Erinnert sei aber auch, dass Meldungen über einen Tod Prigoschins auch früher schon in Umlauf gesetzt wurden. Als im Oktober 2019 in der Demokratischen Republik Kongo ein militärisches An-72-Transportflugzeug mit acht Personen an Bord abstürzte, tauchten Informationen auf, dass unter ihnen auch der Gründer der privaten Militärfirma „Wagner“ gewesen sein sollte. Später wurde aber bekannt, dass dem nicht so ist. Im vergangenen Jahr meldeten Medien und Telegram-Kanäle, dass Prigoschin im Lugansker Gebiet gefallen sei. Und damals hatte sich dies ebenfalls als eine Falschmeldung erwiesen.
Die Situation um Prigoschin soll in der letzten Zeit zu einer angespannten geworden sein. Es tauchten Informationen auf, dass ein Teil einstiger „Wagner“-Spitzenvertreter Ex-Gefährten für alternative Unternehmen abzuwerben suchten. Die Positionen seiner Feinde im Verteidigungsministerium hatten sich als unerschütterliche erwiesen, so dass deren Aussöhnung mit den Meuterern nicht zu erwarten ist. Laut Angaben ausländischer Medien hatte Großbritannien geplant, die Söldnerfirma „Wagner“ als eine terroristische Organisation einzustufen.
Nachdem Prigoschin nach Weißrussland gegangen war, war er lange nicht in der Öffentlichkeit aufgetaucht. Doch buchstäblich in dieser Woche veröffentlichte sein Pressedienst ein neues Video, in dem der Milliardär die Wiederaufnahme der Arbeiten zur Gewinnung von Kämpfern für einen Einsatz in Afrika bekanntgab. Hervorgehoben sei gleichfalls, dass zwischen der Meuterei von „Wagner“-Kämpfern mit Prigoschin an der Spitze, die ca. 200 Kilometer vor Moskau gestoppt wurde, und dem Flugzeugabsturz genau zwei Monate liegen.
Die Untersuchungen der Umstände und Ursachen des „Embraer“-Aircrashs haben gerade erst begonnen, wobei unterschiedliche Versionen abgeklopft werden – ein Pilotenfehler, technische Ursachen oder ein Terrorakt. Offizielle Kommentare sind bisher nicht aufgetaucht. Selbst die Parlamentsparteien halten sich bedeckt. Und der Rat der Kommandeure der Firma hüllt sich bisher in Schweigen. Derweil steht eine Frage besonders im Mittelpunkt: Was wird weiter mit dem internationalen Engagement der „Wagner“-Firma? Der als kremltreu geltende Telegram-Kanal „Rybar“ mit mehr als einer Million Abonnenten schreibt am Donnerstag unter anderem Folgendes: „Was wird mit den afrikanischen Projekten der privaten Militärfirma „Wagner“? … Vieles wird von der Initiative der an den Angelegenheiten auf dem Kontinent beteiligten Spitzenvertreter inklusive der Staatschefs der Region abhängen. Im Fall von Mali und Burkina Faso, die die öffentlichen Bande mit den westlichen Staaten gekappt haben, gibt es bisher keine Befürchtungen. Was man beispielsweise über die Offiziellen der Zentralafrikanischen Republik nicht sagen kann“.
Offen ist auch die Zukunft für das Engagement der Prigoschin-Firma in Russland selbst. Es ist nicht auszuschließen, dass das Unternehmen mit neuen Führungskräften einen Teil seiner Positionen bewahren kann. Andere werden eventuell verloren gehen. Ein Nutznießer des Todes des Geschäftsmanns ist sicherlich auch die Führung des russischen Verteidigungsministeriums. Im Verlauf der Militäroperation in der Ukraine wurde sie mehrfach scharf von Prigoschin kritisiert, scheinbar berechtigt. Und die russische Justiz wird aufatmen können. Schließlich waren viele Aktivitäten der „Wagner“-Firma und ihres Chefs aus der Sicht des Rechts nicht ganz gesetzeskonform. Daher hatte sich zwangsläufig die Frage ergeben, warum man dies nicht ahndet (Experten ermittelten, dass der Geschäftsmann für seine widerrechtlichen Handlungen bis zu 30 Jahre Freiheitsentzug hätte bekommen können), während andere Bürger Russlands, die beispielsweise offen Kritik am Vorgehen Russlands in der Ukraine übten und dies verurteilten, hohe Haftstrafen erhielten und erhalten.
Mit dem Tod von Jewgenij Prigoschin haben vor allem die Ultra-Patrioten Russlands eine Ikone verloren. Ihre Anstrengungen für eine Konsolidierung werden nur mühsam vorankommen oder gar scheitern, da markante Führungskräfte fehlen. Schließlich befindet sich beispielsweise Igor Strelkow (Girkin) aufgrund angeblicher extremistischer Aktivitäten in U-Haft. Nicht vergessen darf ebenfalls, dass ihre soziale Basis keine bedeutende ist. Und Meinungsumfragen nach der „Wagner“-Meuterei vom 23. und 24. Juni zeigten bereits, dass es wenig Rückhalt für die politischen Ambitionen des Petersburger Geschäftsmanns Prigoschin gab, den die Ultra-Patrioten als ihren Mann angesehen hatten.