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Der Rückgang der Bevölkerungszahl und Verlust der Einnahmen aus den Rohstoff-Exporten verstärken Russlands Abhängigkeit von China


Zu den hauptsächlichen Gefahren für die russische Wirtschaft werden in den nächsten Jahren die negativen Trends in der demografischen Entwicklung (Rückgang der Bevölkerungszahl) und die Alterung der Bevölkerung, das Sich-erschöpfen der Rohstoff-Rente, das technologische Zurückbleiben und der hohe Stand der „sozialen Schulden“ (eine große Anzahl der Russen, die vor der Armutsgrenze stehen, und die starke soziale Differenzierung). Diese Probleme würden den Platz der Russischen Föderation in der Welt bis hin zum Jahr 2050 beeinflussen, meinen Wissenschaftler. Russland habe ein hinreichendes Potenzial, um Umgestaltungen vorzunehmen und Antworten auf die langfristigen Herausforderungen zu finden, hoffen einheimische Wirtschaftsfachleute. Russlands Bevölkerungszahl könne bis zum Jahr 2030 um etwa 3,2 Millionen im Vergleich zum laufenden Jahr schrumpfen, wenn man nicht die „neuen Regionen“ berücksichtigt. Solch eine Prognose hat das Statistikamt Rosstat abgegeben. Zu Beginn des Jahres 2023 belief sich die Zahl der ständigen Bevölkerung des Landes auf 146,4 Millionen Menschen. Folglich würden bis zum Ende des gegenwärtigen Jahrzehnts im Land 143,2 Menschen bleiben, wenn es nicht die neuen Territorien geben würde. Laut Angaben des Wirtschaftsmediums RBC werde Rosstat eine aktualisierte Variante für die demografische Prognose bis Ende Oktober veröffentlichen.

Der Rückgang und die Alterung der Bevölkerung seien eine der Gefahren für die russische Wirtschaft in der überschaubaren Perspektive, meinen die Autoren des gemeinsamen Berichts „Wirtschaft-2050: Konturen einer merkwürdigen Zukunft“ des Instituts für volkswirtschaftliche Prognostizierung der Russischen Akademie der Wissenschaften und des Zentrums für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognostizierung.

Außer der Depopulation (Entvölkerung) werden zu den langfristigen Gefahren das Sich-erschöpfen der Rohstoff-Rente, das technologische Zurückbleiben sowie der hohe Stand der „sozialen Schulden“, worunter den Wissenschaftler eine erhebliche Anzahl von Menschen am Rande einer Armut und den hohen Grad an sozialer Differenzierung verstehen, gerechnet.

In den kommenden 20-30 Jahren müsse Russlands Wirtschaft in einer qualitativ neuen Situation sowohl aus globaler als auch einer rein innenpolitischen Sicht funktionieren, sagen die Wirtschaftsexperten voraus, die gleich mehrere mögliche Entwicklungsszenarios für den weltweiten Wettbewerb beschreiben.

Eines der Szenarios nimmt unter anderem das Aufkommen einer neuen Monopolarität an, wenn die USA durch irgendeine „spektakuläre Technologie“ von der Art einer starken künstlichen Intelligenz oder einer kommerziellen thermonuklearen Synthese einen technologischen Vorsprung erzielen. Es gibt auch ein Szenario für eine Neuauflage der miteinander verbundenen Volkswirtschaften China und der Vereinigten Staaten.

Als wahrscheinlichstes wird aber bisher das Szenario des Entstehens mehrere Machtzentren mit entwickelten Infrastrukturen für eine Kooperation angesehen. Es ist offensichtlich, dass dies für die Russische Föderation das attraktivste Szenario ist. Die Aufgabe besteht nur darin, zu einem dieser Zentren mit einem Umfeld aus freundlich gesinnten Ländern zu werden und nicht unter dem riesigen chinesischen Wirtschaftsengagement verlorenzugehen.

Für die Russische Föderation hat sich das alte Modell für eine Integration in die Weltwirtschaft, das auf einer aktiven Produktions- und technologischen Kooperation mit den aus technologischer Sicht führenden Ländern, aber auch auf einer Nutzung der abzuschöpfenden natürlichen Rente zwecks Gewährleistung einer makroökonomischen und sozialen Stabilisierung sowie zwecks Realisierung von Infrastruktur- und technologischen Projekten basierte, erschöpft. Im Zusammenhang damit ergibt sich auch das Problem eines Sich-erschöpfen der Rohstoffrente. Laut Prognosen der Wissenschaftler werden ab diesem Jahr bis zum Jahr 2030 die Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl. Gas und Erdölprodukten keine 176 Milliarden Dollar im Jahr übersteigen. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 erhielt die Russische Föderation durch solch einen Rohstoffexport 226 Milliarden Dollar.

Freilich, bisher erlaubt der Export von Rohstoffen Russland, die Bedürfnisse hinsichtlich des Imports abzusichern. (Laut Angaben der Internationalen Energie-Agentur, die Anfang Oktober veröffentlicht wurden, hat Russland im September dieses Jahres durch den Erdölexport 18,8 Milliarden Dollar erhalten. Dies ist der größte Erlös seit Juli des Jahres vergangenen Jahres.)

Die neuen Entwicklungsbedingungen sind das Wirken der systematischen Sanktionen sowie die Zunahme der Belastung im sozialen Bereich und durch die Verteidigungsanstrengungen. Und diese Bedingungen bedeuten die Notwendigkeit einer Beibehaltung eines hohes Wachstumstempos für die Russische Föderation, schreiben die Autoren des Berichts. Nach ihrer Meinung bedeute die Situation, in der die russische Wirtschaft ein stabil geringes Wachstumstempo selbst in einer Trägheitsvariante – weniger als zwei Prozent im Jahr – demonstriert, das Auftreten kritischer Risiken für die Reproduktion der russischen Wirtschaft und die Gesamtheit der Gesellschaft. Schon ganz zu schweigen von nicht zu kontrollierenden Risiken eines Abrutschens zu einem Tempo von etwa einem Prozent und weniger. (Und dies ist bei einem Zusammentreffen gegenseitig bedingter geopolitischer Konflikte, den wahrscheinlichen Schrumpfungsprozessen auf den Energiemärkten sowie einer strukturellen Krise möglich.)

Laut einer Prognose, die der Minister für Wirtschaftsentwicklung Maxim Reschetnikow abgab, werde das Wachstum von Russlands BIP in diesem Jahr 2,8 Prozent ausmachen, im Jahr 2024 – 2,3 Prozent. Im Weiteren – lt. Prognose – etwas mehr als zwei Prozent im Jahr.

„Es ist schwierig, eine glaubwürdige Prognose für 20 bis 30 Jahre im Voraus zu stellen, dies bedeutet aber nicht, dass man nicht versuchen muss, dies zu tun“, sagte der „NG“ Igor Nikolajew vom Wirtschaftsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften. „Derzeit beschreiben die meisten Branchenstrategien, die von der Regierung ausgearbeitet wurden, Zeiträume bis zu den Jahren 2030-2035. Jedoch ist in der Russischen Föderation immer noch keine Gesamtstrategie für die sozial-ökonomische Entwicklung vorbereitet worden, deren notwendige Ausarbeitung durch ein spezielles Gesetz bereits im Jahr 2014 bestimmt worden war“.

Fragen des Personalmangels würden in der mittelfristigen Perspektive für unser Land wahrscheinlich zu einem sehr signifikanten Problem werden, sagt der Experte. „Im August kamen bei uns auf 100 offene Stellen ganze 28 Bewerber. Zum Vergleich: Noch zu Beginn des Jahres 2021 bewarben sich um 100 offene Stellen 163 Menschen. Und selbst vor zwei Jahren war es schwierig gewesen, solch eine Entwicklung der Ereignisse vorauszusagen“, sagt er.

„Was das Verschwinden der Rohstoff-Rente angeht, so wird dies wohl kaum das Hauptproblem sein. Schon jetzt wird die Wirtschaft umstrukturiert. Folglich wird Russland in der Zukunft durchaus die Einnahmen aus den Kohlenwasserstoffen ersetzen können, indem es Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse, medizinische Anlagen und Ausrüstungen sowie medizinische Dienstleistungen und Pharmaka exportiert. Zumal sich solche Erzeugnisse nicht unter den Sanktionen befinden und auch in der Perspektive nicht unter solche geraten werden“, sagt Nikolajew.

Ein Tempo des Wirtschaftswachstums von drei Prozent erscheine dabei vorerst als ein unerreichbares, sagt der Experte. „Aber selbst wenn das Tempo zwei Prozent im Jahr erreichen wird, wie dies das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung in der konservativen Prognose-Variante für die nächsten drei Jahre plant, wird auch dies ausreichend sein, damit sich die Russische Föderation normal entwickelt, da sie ihre eigenen Wettbewerbsvorteile, ihre Nischen auf den Weltmärkten hat, wo wir ausreichende Einnahmen erhalten können“, meint Nikolajew.

„Die russische Wirtschaft wird schon jetzt mit dem Problem eines demografischen Defizits und technologischen Zurückbleibens konfrontiert. In der überschaubaren Zukunft können zu diesen Problemen Fragen der sozialen Ungleichheit in der Gesellschaft hinzukommen, aber auch das Risiko eines Erschöpfens der Naturressourcen, sagte der „NG“ Dozentin Jekaterina Nowikowa vom Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität. „Dabei werden in der Weltwirtschaft schrittweise die Länder der asiatisch-pazifischen Region an die erste Stelle treten, in erster Linie China, das nach Indien das zweite Land hinsichtlich der Bevölkerungszahl zum heutigen Tag ist. Mehr noch, China erhebt Anspruch auf den Rang einer führenden Volkswirtschaft aus der Sicht der technologischen Entwicklung und der Spitzenergebnissen in den modernen Technologien inklusive der Herstellung von Mikroprozessoren (Mikrochips), der Entwicklung einer eigenen Software, aber auch eines progressiven Maschinenbaus in verschiedenen Wirtschaftsbereichen. Im Zusammenhang damit ist es für Russland wichtig, nicht bloß seine Wirtschaft vom Westen gen Osten neuauszurichten, sondern auch maximale Ergebnisse auf dem Gebiet der Politik der Importsubstitution inklusive der Elektronik in erster Linie zu erreichen“.

Die große Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von China oder anderen asiatischen Ländern auf dem Gebiet der Technologien werde zu einem zusätzlichen, sehr schwierigen Testfall für das Land, meint der Experte. „Mehr noch, jegliche solche Abhängigkeit verschafft keine Möglichkeit, alle übrigen Probleme einschließlich der Fragen der Demografie in der Wirtschaft zu lösen. Im Zusammenhang damit macht es Sinn, die aktuelle angespannte Situation aus der Sicht des Sanktionskrieges gegen Russland mehr als eine Möglichkeit zur Forcierung des eigenen inneren Potenzials für die Zukunft anzusehen“, sagt Nowikowa.