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Der Stopp des ukrainischen Gastransits wird Russland die letzten Verbündeten in Europa nehmen


Die erneute ukrainische Attacke gegen die Krim-Brücke hat eine durchaus verständliche Gereiztheit in den russischen Machtstrukturen und den Wunsch einer Reihe von Politikern, schnell Vergeltung zu üben, ausgelöst. Da Moskau wenig Varianten für eine Vergeltung gegenüber Kiew bleiben, haben einige die Aufmerksamkeit auf die noch geltenden – ungeachtet der blutigen Kämpfe an der Frontlinie mit einer Länge von mehr als 1000 Kilometern – russisch-ukrainischen Vereinbarungen gelenkt. Die Rede ist beispielsweise vom Abkommen über den Transit russischen Erdgases nach Europa über das Territorium der Ukraine. Dieses Dokument wurde im Jahr 2019 in Vielem auf Drängen europäischer Politiker – und vor allem der einstigen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel – abgeschlossen. Für sie war es eine der Hauptbedingungen für das Inkrafttreten des Vertrages über die Gaspipeline „Nord Stream 2“ und den Beginn der Lieferungen russischen Gases durch sie gewesen. Der Transitvertrag läuft im kommenden Jahr aus, kann aber noch um zehn Jahre verlängert werden. „Gazprom“ dessen Brennstoffe durch diese Leitung geliefert werden sollten, beabsichtigte bereits im Jahr 2019, zu kurzfristigen Auktionen überzugehen, das heißt, sich mit einer kurzfristigen Reservierung von Kapazitäten ausgehend von der tatsächlichen Dynamik der Lieferungen zu befassen. Zum Beispiel für den Zeitraum von einem Monat oder gar für einen Tag im Voraus. Ja, und auch Kiew an sich hatte angestrebt, die Beziehungen mit „Gazprom“ entsprechend dem europäischen Modell zu gestalten.

Jetzt jedoch steht auf der Tagesordnung eine vollständige Einstellung des ukrainischen Transits – aufgrund geopolitischer und militärischer Motive. Die Ukrainer an sich hatte im Zusammenhang mit dem Beginn der Kampfhandlungen solch eine Variante selbst zum Preis eines Verzichts auf die an sie fließenden Transitgebühren (laut einigen Angaben rund 2,9 Milliarden Dollar im Jahr) nicht ausgeschlossen. Der geltende Vertrag sieht einen jährlichen Transit von 40 Milliarden Kubikmeter Gas in den Jahren 2021-2024 vor. Im Jahr 2020 machte die Transitmenge 65 Milliarden Kubikmeter Gas aus. Der Vertrag sieht eine Nutzung des Prinzips „pumpe oder zahle“ vor, wobei die Bezahlung für den Transit unabhängig von den Mengen — ausgehend von den reservierten Kapazitäten – erfolgt, selbst wenn die faktische durchgepumpte Menge geringer wird.

Unter Berücksichtigung des Bestrebens einiger russischer Politiker nach einer Vergeltung mittels eines Zudrehens des Gashahns wird es wohl richtig sein, sich die Frage zu stellen: Wie sehr braucht denn Russland solch eine Zusammenarbeit mit der Ukraine?

Das deutsche Internetportal www.finanzmarktwelt.de hat nachgerechnet, dass im Falle einer Einstellung des Transits russischen Gases über das Territorium der Ukraine sowohl Russland als auch die Ukraine und Europa verlieren würden. Der Verlust Russlands werde unter Berücksichtigung der aktuellen Gaspreise vier bis fünf Milliarden Dollar im Jahr ausmachen. Europa werde einen Ersatz für die wegfallenden 15 Milliarden Kubikmeter Gas suchen müssen. Derzeit ist dies ein unersetzlicher Verlust, da es schlicht und einfach keinen gibt, der solch eine Menge ersetzen könne. Wie im Zusammenhang damit der Experte Damien Ernst von der belgischen Universität Lüttich betont, „wird dies ein Schock sein“. Nach seinen Berechnungen sei es vorerst unmöglich, das Pipeline-Gas durch LNG zu ersetzen. Zum gegenwärtigen Moment kaufe Europa rund 50 Milliarden Kubikmeter russischen Erdgases. Ein Teil davon fließt über die Ukraine, und ein Teil wird über die Türkei geliefert.

Es gibt da jedoch ein wichtiges Detail: Die Hauptabnehmer dieses russischen Erdgases sind gegenwärtig Serbien, Österreich, die Slowakei und Ungarn. Die politischen Konsequenzen eines Zudrehens des Gasventils durch Moskau sind für diese Länder durchaus voraussagbar. Eine Einstellung der Lieferungen ist imstande, zu einem Fall der in ihnen agierenden Regierungen führen. Zu besonders schmerzhaften würden für die russische Außenpolitik die politischen Veränderungen in Serbien und Ungarn werden. Letzteres bleibt derzeit das einzige Land in der EU, das versucht, die harte Politik der Führung dieser Organisation auszubremsen, und das sich auf eine breite Wirtschaftskooperation mit Russland einlässt. Und Serbien ist gegenwärtig das einzige europäische Land, das es abgelehnt hatte, Sanktionen gegen die Russische Föderation zu verhängen. Anders gesagt: Diese beiden Staaten bleiben für Moskau vorerst ein „Fenster nach Europa“. Und dieses aufgrund des Wunsches zu schließen, Vergeltung gegenüber der Ukraine zu üben, wäre eine riskante Sache und würde Russland nicht zum Nutzen gereichen.