Russland und die Ukraine – sie hatten gemeinsam vor 77 Jahren im Schulterschluss mit den anderen Völkern der einstigen Sowjetunion, aber auch mit den westlichen Alliierten einen kollektiven Sieg über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg errungen. Und sie alle haben dafür einen hohen Preis gezahlt, der nach wie vor nicht vergessen werden kann. Freilich hat die Nachkriegsentwicklung nicht zu einer weiteren Einheit und Geschlossenheit, sondern zu einer Spaltung, zu einer tiefen Kluft geführt. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen, angefangen von weltanschaulichen bis hin zum Streben nach einer gewissen Vormachtstellung in der Welt. Begleitet wurde und wird dies in Russland von einem anhaltenden Bedauern über den Zerfall der UdSSR, aber auch von der Auffassung, dass auf dem postsowjetischen Raum russische Interessen die erste Geige spielen. Die Folge: unterschiedliche eingeschlagene Entwicklungswege, Diskrepanzen, die Wahl von mitunter drastisch einander widersprechenden Weltanschauungen und eine Entfremdung, die verblüfft und Unverständnis auslöst.
Vor diesem Hintergrund – einschließlich der am 24. Februar begonnenen sogenannten militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine – begeht man den Tag des Sieges in der einstigen Sowjetunion auf unterschiedliche Weise. In Kasachstans Hauptstadt wurde eine Siegesparade gänzlich abgesagt, in den früheren baltischen Sowjetrepubliken versucht man den Tag gänzlich zu verdrängen, in Moldawiens Hauptstadt gab es lediglich einen „Marsch des Sieges (trotz Verbote). In Moskau und Kiew haben sich die Präsidenten beider Länder zum 77. Jahrestag des Sieges geäußert. Wladimir Putin – auf dem Roten Platz von Moskau, Wladimir Selenskij – im Internet. Die Redaktion „NG Deutschland“ veröffentlicht nachfolgend eine Übersetzung beider Auftritte.
Ansprache von Präsident Wladimir Putin am 9. Mai auf dem Moskauer Roten Platz
Sehr geehrte Bürger Russlands! Liebe Veteranen! Genossen Soldaten und Matrosen, Unteroffiziere und Hauptfeldwebel, Maate und Fähnriche! Genossen Offiziere, Generäle und Admirale!
Ich gratuliere Ihnen zum Tag des Großen Sieges! Die Verteidigung der Heimat, als ihr Schicksal entschieden wurde, war stets eine heilige. Mit solchen Gefühlen eines wahrhaftigen Patriotismus hatten sich die Bürgerwehrkräfte von Minin und Poscharskij für das Vaterland erhoben, sind auf dem Borodino-Feld zur Attacke übergegangen, kämpften gegen den Feind vor Moskau und Leningrad, Kiew und Minsk, Stalingrad und Kursk, Sewastopol und Charkow.
So kämpfen Sie auch jetzt, in diesen Tagen für unsere Menschen im Donbass. Für die Sicherheit unserer Heimat – Russlands.
Der 9. Mai 1945 ist für ewig in die Weltgeschichte als ein Triumph unseres ganzen Sowjetvolkes, dessen Geschlossenheit und geistigen Stärke sowie der beispiellosen Heldentat an der Front und im Hinterland eingegangen.
Der Tag des Sieges ist für jeden von uns nahe und teuer. In Russland gibt es keine Familie, die der Große Vaterländische Krieg nicht gebrannt hat. Die Erinnerungen an ihn verblassen nicht. An diesem Tag sind in dem nicht endenden Strom (der Aktion) des „Unsterblichen Regiments“ Kinder, Enkel und Urenkel der Helden des Großen Vaterländischen Krieges. Sie tragen Fotografien ihrer Verwandten, gefallener Soldaten, die für ewig junge geblieben sind, und von bereits von uns gegangenen Veteranen.
Wir sind stolz auf die unbezwungene, glänzende Generation der Sieger, auf das, dass wir ihre Erben sind. Und es ist unsere Pflicht, die Erinnerungen an jene zu bewahren, die den Nazismus vernichteten, die uns hinterlassen haben, wachsame zu sein und alles zu tun, damit sich der Schrecken eines globalen Krieges nicht wiederholt.
Und daher, ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten in den internationalen Beziehungen, trat Russland stets für die Schaffung eines Systems einer gleichen und unteilbaren Sicherheit ein, eines Systems, das für die gesamte internationale Staatengemeinschaft lebensnotwendig ist.
Im Dezember vergangenen Jahres haben wir vorgeschlagen, einen Vertrag über Sicherheitsgarantien abzuschließen. Russland rief den Westen zu einem ehrlichen Dialog auf, zur Suche nach vernünftigen, nach Kompromisslösungen, zu einer Berücksichtigung der gegenseitigen Interessen. Alles ist vergeblich gewesen. Die NATO-Länder wollten uns nicht erhören. Und dies bedeutet, dass sie tatsächlich ganz andere Pläne hatten. Und wir haben dies gesehen.
Offen erfolgte die Vorbereitung zu einer erneuten Strafoperation im Donbass, zu einem Vordringen in unsere historischen Gebiete inkl. der Krim. In Kiew signalisierte man den möglichen Erwerb von Kernwaffen. Der NATO-Block hatte eine aktive militärische Erschließung der an uns grenzenden Territorien begonnen.
Somit wurde planmäßig eine für uns absolut inakzeptable Bedrohung geschaffen, wobei unmittelbar an unseren Grenzen. Alles zeugte davon, dass eine Konfrontation mit Neonazis, Bandera-Leute, auf die die USA und ihre Junior-Partner gesetzt hatten, zu einer unausweichlichen wird.
Ich wiederhole: Wir hatten gesehen, wie eine militärische Infrastruktur entfaltet wurde, wie hunderte ausländische Berater zu arbeiten begannen, regelmäßige Lieferungen modernster Waffen aus den NATO-Ländern erfolgten. Die Bedrohung nahm mit jedem Tag zu.
Russland hat der Aggression eine präventive Abfuhr erteilt. Dies war eine erzwungene, eine rechtzeitige und die einzig richtige Entscheidung. Die Entscheidung eines souveränen, starken und selbständigen Landes.
Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten besonders nach dem Zerfall der Sowjetunion begonnen, von ihrer Ausschließlichkeit zu sprechen, wobei sie damit nicht nur die ganze Welt erniedrigen, sondern auch ihre Satelliten, die den Anschein erwecken, dass sie nichts bemerken, und all dies unterwürfig schlucken müssen.
Aber wir sind ein anderes Land. Russland hat einen anderen Charakter. Wir werden nie die Liebe zur Heimat aufgeben, den Glauben und die traditionellen Werte, die Bräuche der Vorfahren und die Achtung gegenüber allen Völkern und Kulturen.
Im Westen aber hat man – allem nach zu urteilen – beschlossen, diese 1000jährigen Werte zu aufzuheben. Solch eine moralische Degradierung wurde zur Grundlage zynischer Fälschungen der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, für das Schüren einer Russophobie und Lobpreisung von Verrätern, für eine Verhöhnung der Erinnerungen an ihre Opfer sowie für ein Verleugnen des Mutes jener, die den Sieg errungen und dafür gelitten hatten.
Uns ist bekannt, dass man amerikanischen Veteranen, die zur Parade nach Moskau kommen wollten, faktisch verboten hat, dies zu tun. Ich möchte aber, dass sie wissen: Wir sind stolz auf Ihre Heldentaten, Ihren Beitrag zum gemeinsamen Sieg.
Wir ehren alle Kämpfer der alliierten Armeen – die Amerikaner, Engländer, Franzosen, die Teilnehmer der Widerstandsbewegung, die tapferen Soldaten und Partisanen Chinas – alle, die den Nazismus und Militarismus zerschlagen haben.
Sehr geehrte Kameraden!
Heute kämpfen die Bürgerwehrkräfte des Donbass zusammen mit den Kämpfern der Armee Russlands auf ihrem Boden, wo die Gefolgsmänner von Swjatoslaw und Wladimir Monomach, die Soldaten Rumjanzews und Potjomkins, Suworows und Brusilows den Feind bezwangen, wo die Helden des Großen Vaterländisches Krieges Nikolaj Watutin, Sidor Kowpak und Ludmilla Pawlitschenko bis zum Tode standen.
Ich wende mich jetzt an unsere Streitkräfte und an die Bürgerwehrkräfte des Donbass. Sie kämpfen für die Heimat, für ihre Zukunft, dafür, damit keiner die Lehren des Zweiten Weltkrieges vergisst. Damit es in der Welt keinen Platz für Henker, Bestrafer und Nazis gibt.
Heute verneigen wir die Häupter vor den lichten Erinnerungen an alle, deren Leben der Große Vaterländische Krieg genommen hat, vor dem Andenken an die Söhne, Töchter, Väter, Mütter, Großväter, Ehemänner und Ehefrauen, Brüder, Schwestern, Verwandten und Freunde.
Wir verneigen die Häupter vor den Erinnerungen an die Märtyrer von Odessa, die im Haus der Gewerkschaften im Mai des Jahres 2014 bei lebendigem Leibe verbrannten. Vor den Erinnerungen an die Alten, Frauen und Kinder des Donbass, die friedlichen Einwohner, die durch den gnadenlosen Beschuss, die barbarischen Schläge der Nazis ums Leben gekommen sind. Wir verneigen die Häupter vor unseren Kampfgefährten, die den Tod der Tapferen in einem gerechten Kampf für Russland gefunden haben.
Erklärt sei eine Schweigeminute.
(Schweigeminute)
Der Tod eines jeden unserer Soldaten und Offiziere, dies ist Schmerz für uns alle und ein unersetzlicher Verlust für die Verwandten und Nächsten. Der Staat, die Regionen, die Unternehmen und gesellschaftlichen Organisationen werden alles tun, um solche Familien mit Fürsorge zu umgeben, um ihnen zu helfen. Besondere Unterstützung werden wir den Kindern der gefallenen und verwundeten Kampfgefährten gewähren. Ein Präsidentenerlass ist dazu heute unterzeichnet worden.
Ich wünsche den verwundeten Soldaten und Offizieren schnellste Genesung. Und ich danke den Ärzten, Arzthelfern, Krankenschwestern, dem medizinischen Personal der Militärhospitale für die selbstlose Arbeit. Ihnen dafür eine tiefe Verneigung, dass sie um jedes Leben kämpfen – oft unter einem Beschuss, an der vordersten Frontlinie, ohne sich zu schonen.
Sehr geehrte Genossen!
Jetzt stehen hier, auf dem Roten Platz, im Schulterschluss Soldaten und Offiziere aus vielen Regionen unserer riesigen Heimat, darunter sind jene, die direkt aus dem Donbass gekommen sind, unmittelbar aus der Zone der Kampfhandlungen.
Wir erinnern uns, wie Russlands Feinde versuchten, Banden internationaler Terroristen gegen uns auszunutzen, anstrebten, nationale und religiöse Feindschaft zu säen, um uns von Innen her zu schwächen, zu spalten. Nichts ist gelungen.
Heute sind unsere Kämpfer unterschiedlicher Nationalitäten zusammen im Gefecht, decken sich gegenseitig wie Brüder vor Kugeln und Splittern.
Und darin besteht die Stärke Russlands, die große, unbezwingbare Stärke unseres geschlossenen multinationalen Volkes.
Heute verteidigen Sie das, wofür die Väter und Großväter, die Urgroßväter gekämpft hatten. Für sie waren der höchste Sinn des Lebens stets das Wohlergehen und die Sicherheit Russlands. Und für uns, deren Nachfahren, ist die Treue gegenüber dem Vaterland der wichtigste Wert, eine zuverlässige Stütze für die Unabhängigkeit Russlands.
Diejenigen, die den Nazismus in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges vernichteten, haben uns ein Beispiel an Heroismus für alle Zeiten demonstriert. Dies ist eine Generation der Sieger. Und wir werden uns stets an ihnen messen.
Ruhm unseren tapferen Streitkräften! Für Russland! Für den Sieg! Hurra!“
Grußbotschaft des Präsidenten der Ukraine Wladimir Selenskij aus Anlass des Tages des Sieges über den Nazismus im Zweiten Weltkrieg
„Großes Volk der großen Ukraine!
Am 24. August 2021 haben wir als ganzes Land den 30. Jahrestag unserer Unabhängigkeit gefeiert. Über den Krestschatik (Hauptstraße in der ukrainischen Hauptstadt Kiew – Anmerkung der Redaktion) zogen unsere Militärs, unsere Verteidiger, unsere Technik. Am Himmel flog unsere „Mrija“!
„Es gibt nichts Gefährlicheres als einen heimtückischen Feind, aber es gibt nichts Giftigeres als einen heuchelnden Freund“. Dies sind Worte des großen ukrainischen Philosophen Grigorij Skoworoda. Am 24. Februar haben wir diese Wahrheit begriffen, als ein heuchelnder, ein falscher Freund gegen die Ukraine einen Krieg begann.
Dies ist ein Krieg nicht von zwei Armeen. Dies ist ein Krieg von zwei Weltanschauungen. Von Barbaren, die das Skoworoda-Museum beschießen und glauben, dass ihre Raketen unsere Philosophie vernichten können. Sie reizt sie. Sie ist ihnen fremd. Sie macht ihnen Angst. Sie besteht darin, dass wir freie Menschen sind, die ihren Weg gehen. Auf diesem Weg führen wir heute einen Krieg. Und wir werden niemandem nicht ein Stückchen unseres Bodens hergeben.
Heute begehen wir den Tag des Sieges über den Nazismus. Und wir werden niemandem nicht ein Stückchen unserer Geschichte hergeben. Wir sind stolz auf unsere Vorfahren, die zusammen mit den anderen Völkern innerhalb der Antihitler-Koalition den Nazismus besiegten. Und wir werden niemandem erlauben, diesen Sieg zu annektieren, wir werden nicht erlauben, ihn sich anzueignen.
Unser Feind hatte geträumt, dass wir verzichten werden, den 9. Mai und den Sieg über den Nazismus zu begehen. Damit das Wort „Entnazifizierung“ eine Chance erhält. Millionen Ukrainer kämpften gegen den Nazismus und legten einen schweren und langen Weg zurück. Sie haben die Nazis aus Lugansk vertrieben, sie haben die Nazis aus Donezk vertrieben, Cherson, Melitopol und Berdjansk von den Okkupanten befreit.
Die Nazis wurden aus Jalta, Simferopol, Kertsch und von der ganzen Krim vertrieben. Von den Nazis befreit hatte man Mariupol. Sie haben die Nazis aus der ganzen Ukraine vertrieben. Doch die von mir genannten Städte inspirieren uns heute besonders. Sie vermitteln den Glauben, dass wir die Okkupanten von unserem Boden verjagen werden.
Am Tag des Sieges über den Nazismus kämpfen wir für einen neuen Sieg. Der Weg zu ihm ist ein schwerer, aber wir bezweifeln nicht, dass wir siegen werden. Worin besteht unsere Überlegenheit über den Feind? Wir sind um ein Buch klüger. Dies ist das Lehrbuch zur Geschichte der Ukraine. Wir hätten kein Leid gekannt, wenn all unsere Feinde es verstanden hätten, zu lesen und richtige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Am 24. Februar begann Russland eine Offensive. Und hat erneut die gleichen Fehler gemacht. Sie macht ein jeder Okkupant, der auf unseren Boden kommt. Wir haben unterschiedliche Kriege überstanden. Sie alle haben aber ein Finale gehabt.
Unseren Boden hat mit Kugeln und Geschossen übersät. Aber nicht ein einziger Feind vermochte, hier Wurzeln zu schlagen. Über unsere Felder rollten feindliche Streitwagen und Panzer. Keinem hat dies aber Früchte eingebracht. Durch unseren Himmel flogen feindliche Pfeile und Raketen, aber es ist keinem gegeben, unser Himmelsblau zu verdunkeln.
Es gibt keine Fesseln, die unseren freien Geist anketten können. Es gibt keinen Okkupanten, der auf unserem freien Boden einleben kann. Es gibt keinen Eroberer, der über unser freies Volk gebieten kann. Früher oder später siegen wir. Ob nun die Horde oder der Nazismus oder ein Gemisch aus dem ersten und dem zweiten, den unser derzeitiger Feind darstellt. Wir siegen, da dies unser Land ist.
Denn irgendwer kämpft für Väterchen Zar, den Führer, die Partei und den Anführer, wir aber für die Heimat. Wir haben nie gegen irgendwen gekämpft. Wir kämpfen stets für uns selbst. Für unsere Freiheit, für unsere Unabhängigkeit. Damit der Sieg unserer Vorfahren kein vergeblicher war. Sie kämpften um die Freiheit für uns und siegten. Wir ringen um die Freiheit für unsere Kinder und werden folglich siegen. Wir werden nie vergessen, was unsere Vorfahren im Zweiten Weltkrieg getan haben. In dem über acht Millionen Ukrainer ums Leben kamen und jeder fünfte Ukrainer nicht heimgekehrt ist. Insgesamt aber hat der Krieg mindestens 50 Millionen Menschenleben gekostet. Wir sagen nicht „wir können es wiederholen“ (Putin-Zitat aus einem TASS-Interview vom März 2020 – Anmerkung der Redaktion). Schließlich kann nur ein Wahnsinniger es wollen, die 2194 Tage des Krieges zu wiederholen. Derjenige, der bereits heute die schrecklichen Verbrechen des Hitler-Regimes wiederholt, die nazistische Philosophie nachahmt, alles kopiert, was sie getan hatten… Der ist zum Untergang verdammt, weil er durch Millionen von Vorfahren verdammt worden war, als er begann, deren Mörder nachzuahmen. Und daher verliert er alles.
Und schon sehr bald wird es in der Ukraine zwei Tage des Sieges geben. Und für irgendwen wird nicht ein einziger bleiben.
Wir haben damals gesiegt, und wir werden auch jetzt siegen!
Und der Krestschatik wird eine Parade des Sieges erleben, des Sieges der Ukraine!
Zum Tag des Tages über den Nazismus!
Ruhm der Ukraine!“