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Der ukrainische Getreidekorridor riskiert geschlossen zu werden


 

Die Aussaatkampagne im Land droht, ein Flopp zu werden

Natalia Prichodk

 

Bisher haben die ukrainischen Agrarier mehr als 120mal weniger Flächen mit Getreide und Hülsenfrüchten im Vergleich zu den vorausgesagten Parametern bestellt. Experten warnten vor einem Scheitern der Aussaatkampagne. Zum heutigen Tag gestaltet sich die „Produktionsarithmetik“ offenkundig nicht zugunsten der Dorfbewohner. Dabei wurden unter anderem die Dumping-Exportpreise zu einem Problem, weshalb sowohl die Agrarerzeuger als auch der Etat weniger Mittel erhalten haben.

In der laufenden Saison, informierte man am Donnerstag im Ministerium für Agrarpolitik und Lebensmittel der Ukraine, werden die Anbauflächen für Getreide und Hülsenfrüchte auf einem Stand von 10,24 Millionen Hektar, was 1,409 Millionen Hektar weniger als im vergangenen Jahr sind. Die ausgewiesene Verringerung der Anbauflächen beeinflusst neben der zu erwartenden Verringerung der durchschnittlichen Erträge aufgrund der Verteuerung der Produktionskosten auch die Umfänge der Ernteerträge (aber auch durch die Kampfhandlungen im Rahmen der sogenannten russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine – Anmerkung der Redaktion). Der gesamte Bruttoertrag bei den Getreidekulturen und Hülsenfrüchten kann in der Saison dieses Jahres 44,3 Millionen Tonnen ausmachen (im Vergleich zu den 53,1 Millionen Tonnen des vergangenen Jahres). Zur gleichen Zeit wird eine Zunahme der Brutto-Erzeugung von Ölpflanzenkulturen bis auf 19,2 Millionen Tonnen gegenüber den 18,2 Millionen Tonnen im vergangenen Jahr angenommen, erklärte man im ukrainischen Landwirtschaftsministerium.

Freilich können in der Praxis die von ihm vorgelegten Berechnungen weitaus schlechter aussehen. Am Vorabend hatte der Ex-Premierminister der Ukraine Nikolaj Asarow, der in Russland untergetaucht ist und offensichtlich mit einem hohen Posten im Falle eines Sieges Russlands im Ukraine-Konflikt liebäugelt, unter Verweis auf das ukrainische Landwirtschaftsministerium in seinem Telegram-Kanal geschrieben, dass in der vergangenen Woche die ukrainischen Agrarier 66.600 Hektar mit Getreide und Hülsenfrüchten bestellt hätten. Und insgesamt seien seit Beginn der Kampagne 82.700 Hektar bestellt worden, präzisierte Asarow. Und bekundete die Hoffnung, dass den gegenwärtigen Führungskräften des Landes klug genug seien, „um die Ukraine nicht bis zu einem Holodomor zu bringen“.

Tatsächlich würden die realen Werte im Vergleich zu den geplanten bisher weniger als den 120. Teil ausmachen. Vor solch einem Hintergrund bezeichnete der Leiter der analytischen Abteilung des Investitionsunternehmens „Östliches Tor“, Alexander Timofejew, die ukrainische Aussaatkampagne in einem Kommentar für die „NG“ als eine gescheiterte.

Viele ukrainische Agrarier befinden sich heute in einem offenkundigen Zustand von Bestürzung und Verwirrtheit, obgleich die Getreideerzeugung traditionell auch als eine Triebkraft für die einheimische Wirtschaft angesehen wird, berichtete der „NG“ Spiridon Kilinkarow, der für die KP der Ukraine in der Werchowna Rada der 5. bis 7. Legislaturperiode als Abgeordneter saß und heute im russischen Staatsfernsehen gerngesehener Gast in Talkshows ist. „Die Dorfbewohner sind pragmatische Menschen. Und sie sehen, dass die heutige Arithmetik der Ausgaben, darunter für die um das Anderthalb- bis Zweifache und mitunter gar um das Dreifache teurer gewordenen Düngemittel (angesichts der bekannten Situation mit den russischen Lieferungen), aber auch für den Kraftstoff und die Bezahlung des Leasings von Technik oft nicht zu ihrem Gunsten ausfällt. Noch größere Probleme bestehen auf dem frontnahen Territorium. Die Kiewer Offiziellen können alles Mögliche reden, auf dem Land aber denken die Menschen, dass sie zwar alles bestellen werden. Wer wird aber die Ernte einbringen“, erläuterter Kilinkarow, der seit 2014 in Moskau lebt. Nach seinen Worten bleibe auch der Export problematisch. Die Korruption sei nirgendwohin verschwunden. Und um die Ausfuhr des eigenen Getreides zu sichern, müsse man in die nötigen Büros gelangen und notwendige Summen bezahlen, was sich auch negativ auf das Gesamtergebnis auswirke, behauptete der Ex-Kommunist. Unter solchen Bedingungen sei die Aussaatkampagne wirklich sehr fraglich.

Bemerkenswert ist, dass in Kiew sowohl Journalisten als auch gar Abgeordnete auf die entstandenen kriminellen Schmuggelschemas mit der Ausfuhr ukrainischen Getreides über den Schwarzmeer-Korridor mehrfach hingewiesen haben. Beispielsweise erklärte Daniil Getmanzew, Leiter des Steuerausschusses in der Werchowna Rada, bereits im Februar, dass über den erwähnten Korridor Getreide der Ukraine in industriemäßigen Umfängen geraubt werde. Entsprechend einem der Schemas werde das Getreide zuerst auf eine fiktive Firma überschrieben und danach über den Getreidekorridor ausgeführt. Und danach werde es auf den legalen Inhaber überschrieben. Der Staat erhalte aber durch einen derartigen illegalen Export nichts, konstatierte Getmanzew, der über die Selenskij-Partei „Diener des Volkes“ ins Parlament gelangte, aber durch seine prorussischen Ansichten bekannt ist.

Noch ein Schema beschrieb man auch im Medium „Zerkalo Nedeli“ (deutsch: „Spiegel der Woche“; Russlands Aufsichtsbehörde Roskomnadzor blockierte dieses ukrainische Massenmedium). In einem dort veröffentlichten Beitrag unter der Überschrift „Wie hat es sich ergeben, dass wir den billigsten Weizen in der Welt haben“ analysierte die Journalistin Julia Samajewa Angaben des Exports von ukrainischem Weizen und Mais ab Juli bis einschließlich November des Jahres 2022. Und sie stellte fest, dass ungeachtet des weltweiten Ansteigens der entsprechenden Preise und der zugenommenen Lebensmittel-Risiken für eine Reihe von Ländern die Hälfte des Getreides aus der Ukraine legal mit einem unwahrscheinlichen Preisnachlass von 40 Prozent exportiert werde. Oft würden Unternehmen billig ukrainisches Getreide ausführen und an sich selbst verkaufen, danach aber bereits zu Marktpreisen an die Endkunden realisieren. Im Endergebnis würden die ukrainischen Lieferanten bei einem Durchschnittspreis für Weizen von 362 Dollar je Tonne auf dem globalen Markt diesen nach Ägypten für durchschnittlich 216 Dollar je Tonnen liefern, für die Türkei – für 200 und für Griechenland – für 176 Dollar. Dieses Schema führen zur Zahlung geringerer Steuern und zu einem geringeren Rückfluss von Deviseneinnahmen ins Land. In Kiew gebe es aber Menschen, die es vorziehen würden, dies nicht zur Kenntnis zu nehmen. Beispielsweise schickte das Ministerium für Agrarpolitik als Antwort auf die Frage, warum fast die Hälfte des ukrainischen Weizens in der Welt mit einem unglaublichen Diskont verkauft werde, während selbst der russische zu Marktpreisen abgesetzt werde, einen Vortrag über die Grundlagen der Preisbildung, präzisierte Samajewa. Nach ihren Worten hätten die herabgesetzten Preise für ukrainisches Getreide begonnen, nicht nur dem Binnenmarkt zu schaden, sondern auch den ausländischen. Polen, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien hätten unter anderem die Bitte an den EU-Rat der Landwirtschaftsminister gerichtet, Zölle für ukrainisches Getreide einzuführen. Wie man dort erklärte, habe der Import von Getreide aus der Ukraine um das 3fache zugenommen, erinnerte die Autorin.

Bezeichnend ist, dass man auch in der EU die gezogenen Schlussfolgerungen bestätigte. Am Donnerstag informierten Kiewer Medien auch über die Absicht Brüssels, den Antikrisenfonds für die Landwirte der Länder zu aktivieren, die mit der Flut ukrainischen Getreides konfrontiert wurden. Laut Angaben der Nachrichtenagentur Bloomberg habe die Europäische Kommission beschlossen, 56 Millionen Euro Rumänien, Bulgarien und Polen bereitzustellen. Wie der EU-Kommissar für Landwirtschaftsfragen, der Pole Janusz Wojciechowski, erläuterte, seien zwar im vergangenen Jahr die drei Haupthäfen der Ukraine am Schwarzen Meer für einen Getreideexport geöffnet worden, doch der Handel über den Seeweg sei langsamer als gewöhnlich aufgrund der Sabotage Russlands erfolgt. Und dies hätte die Landwirte gezwungen, die Getreideausfuhr über die benachbarten Länder der EU fortzusetzen. Der hauptsächliche Getreideexport aus der Ukraine erfolge üblicherweise ab Oktober uns bis einschließlich Februar, konstatierte in diesem Zusammenhang Spiridon Kilinkarow. Was aber Kiew in der verbliebenen Zeit zu exportieren beabsichtige, sei gar nicht klar. Möglicherweise rechne man dort damit, dass der Getreide-Deal bis zur nächsten Ernte gelten werde. Freilich deutete Moskau schon an, dass ohne eine Berücksichtigung seiner Forderungen im Rahmen des Deals eine Verlängerung nach dem 18. Mai wenig wahrscheinlich sei.