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Der Westen wendet sich von Tbilissi ab


Die Offiziellen Georgiens haben Vorwürfe des Westens aufgrund des Abgehens von der Demokratie und der Änderung des außenpolitischen Kurses einstecken müssen. In Erklärungen von Washington und Brüssel ist eine Andeutung hinsichtlich einer Revision der Haltung zu Tbilissi enthalten, das angeblich die Orientierungspunkte ändert. Die plötzliche Zuspitzung ist durch das Aussteigen der regierenden Partei „Georgischer Traum“ aus dem sogenannten „Charles-Michel-Abkommen“ zur Beendigung der innenpolitischen Krise, aber auch durch die Verbrechen gegen Bürger westlicher Länder, die sich so sehr gehäuft haben, dass Verdachtsmomente hinsichtlich deren Zielgerichtetheit aufgekommen sind, ausgelöst worden.

In der Nacht zum Sonntag traf ein Mitarbeiter der Botschaft Australiens, der die Interessen seines Landes in Georgien vertritt, in Tbilissi ein. Der Grund für das kurzfristige Eintreffen ist ein tragischer. Nach mehrstündiger Suche haben Rettungskräfte den Leichnam der 31jährigen Australierin Shanae Brooke gefunden. Die junge Frau war im Freizeitpark Mtatsminda in der georgischen Hauptstadt vergewaltigt und grausam umgebracht worden.

Bereits zuvor war im Herzen Tbilissis ein Tourist aus Polen überfallen worden. Danach wurden Amerikaner und Spanier ausgeraubt. Und buchstäblich dieser Tage schlug man einen DJ aus Deutschland in Batumi zusammen. Natürlich, die rein kriminellen Versionen über einen Triebtäter, Räuber und homophobe Kräfte, die langhaarige Ausländer mit Ohrringen angreifen, hat keiner beiseitegeschoben. Das Innenministerium arbeitet in diesen Richtungen und hat scheinbar auch irgendwen erwischt. Gleichzeitig aber erfolgt ein intensiver „Informationsrummel“ über zielgerichtete Verbrechen gerade gegen Bürger aus Ländern des Westens. Nach Meinung jener, die dieses „Szenario“ propagieren, soll das Geschehen die westlichen Touristen vor Georgien abschrecken, Enttäuschung des Westens über Georgien mit den sich ergebenden Folgen auslösen und schließlich eine Wende von Georgien an sich vorausbestimmen, das, nachdem es ohne westliche Verbündete geblieben ist, durch Russland „aufgelesen“ wird. Die Opposition deutet an, dass dahinter die Herrschenden an sich stehen würden. Ihr diktatorisches Gehabe sei für die zivilisierte Welt inakzeptabel. Daher hätten die georgischen Spitzenkräfte zwecks Wahrung der Positionen mit dem Westen brechen und die Blicke gen Norden werfen müssen.

In den regierungstreuen Kreisen fügt man dem antiwestlichen Charakter der Verbrechen hinzu: Die Verringerung des Vertrauens des Westens gegenüber Georgien sei nur im Interesse der Opposition, in erster Linie der „(Vereinigten) Nationalen Bewegung“ (UNM), die sich nicht einmal genierte, sich mit dem Vorschlag zu melden, Sanktionen gegen das eigene Land zu verhängen. So oder so, das Ziel ist, wenn es solch eines gegeben hat, fast erreicht worden. Nach den pflichtgemäßen Erinnerungen an die demokratischen Werte und die Pflicht, sie zu verteidigen, hat der Westen die Entscheidung der regierenden Partei „Georgischer Traum“, aus dem „Charles-Michel-Abkommen“ auszusteigen, hart kritisiert.

Das „Charles-Michel-Abkommen“ ist ein Vertrag, der durch die Regierungspartei und die Opposition unter Vermittlung des Präsidenten des Europäischen Rates zur Beendigung der innenpolitischen Krise abgeschlossen und nach seinem Namen benannt wurde. Unterschrieben wurde die Vereinbarung am 19. April durch „Georgischer Traum“ und fast alle Oppositionsparteien. Der wichtigste Punkt des Dokuments betrifft die Wahlen zu den kommunalen Selbstverwaltungsorganen, die Anfang Oktober stattfinden sollen. Wenn entsprechend ihren Ergebnissen die Partei „Georgischer Traum“ nicht auf zumindest 43 Prozent der Stimmen kommt, erfolgen in Georgien vorgezogene Parlamentswahlen. Bemerkenswert ist, dass die führende Oppositionspartei – „(Vereinigte) Nationale Bewegung“ – das Abkommen nicht unterschrieb. Dies hatte Enttäuschung seitens ihrer westlichen Partner ausgelöst. Das damals bekundete Bedauern ist jedoch nicht mit dem Druck zu vergleichen, der jetzt auf „Georgischer Traum“ ausgeübt wird.

Der Parteivorsitzende von „Georgischer Traum“ Irakli Kobachidse, der letztlich doch nicht mehr auf einen Beitritt der UNM zum Abkommen warten wollte, erklärte, dass die Regierungspartei solch ein „beleidigendes Verhalten ihr gegenüber“ nicht zu dulden beabsichtige und den Vertrag für erfüllt halte. Kobachidse unterstrich, dass „Georgischer Traum“ alle Pflichten hinsichtlich des von Charles Michel initiierten Abkommens erfüllt hätte. Nach der faktischen Beendigung des Vertrages hing die Schlüsselfrage bezüglich der vorgezogenen Wahlen zum Parlament in der Luft. Diesbezüglich sagte Kobachidse, dass dies jetzt ganz vom guten Willen der Partei „Georgischer Traum“ abhänge. Nach seinen Worten sei die Situation solch eine, dass „Georgischer Traum“ eine Hürde von nicht einmal 43 Prozent, sondern gar von 53 Prozent festlegen könne, wobei sie nichts riskieren würde.

Die Reaktion des Westens folgte auf dem Fuße. Die Botschaft der USA in Georgien erklärte, dass Washington „sehr böse über die Partei „Georgischer Traum“ ist, die von den Prinzipien der Demokratie abgewichen ist“. Traditionsgemäß meldete sich mit einer Kritik an der Partei „Georgischer Traum“, die mit Wünschen und der Bereitschaft, Georgien zu helfen, zur Demokratie zurückzukehren, vermischt war, eine Gruppe von Kongress-Vertretern und Senatoren der USA aus beiden führenden Parteien zu Wort. Und schließlich erklärte die deutsche Abgeordnete des Europaparlaments Viola von Cramon-Taubadel (Europäische Grüne Partei), die mit einer Sondermission in Tbilissi eingetroffen war, dass „die Entscheidung von „Georgischer Traum“ nur dem Kreml Nutzen brachte“.

„Das Vertrauen ist zerstört worden. Wir können nicht zu den Tagesgeschäften zurückkehren. Nach meiner Meinung wird die EU die Beziehungen mit der Regierung Georgiens revidieren müssen“, sagte sie. Von Cramon-Taubadel erinnerte freilich nebenbei an die nichtkonstruktive Position der UNM, die zum faktischen Auslöser der Beendigung des „Charles-Michel-Abkommens“ durch die Regierungspartei geworden war. Doch eine gehörige Portion an Kritik ging dennoch über die Offiziellen nieder. Georgien habe sich nach der Entscheidung der Regierungspartei von der EU entfernt, erklärte die Europaabgeordnete. Ihren Worten zufolge sie dies nicht der erste Fall eines Abgehens von „Georgischer Traum“ von Zusagen. Und sie unterstrich, dass sie deshalb ihre Treffen im Parlament gecancelt hätte. Im georgischen Facebook-Segment betonte man: Die Sache ist dazu gekommen, dass man nun von „Georgischer Traum“ verlangen werde, die Macht den „Nationalen“ ohne Wahlen zu übergeben, und nur, weil deren Rhetorik prowestlicher und russlandfeindlicher sei, wobei man „vergesse“, dass den prowestlichen außenpolitischen Kurs gerade die Partei „Georgischer Traum“ in der Verfassung fixierte.

Zu einem anderen Anlass für den Druck wurden die in Georgien dominierenden „homophoben Stimmungen“. Sie seien nach Meinung des Westens eine Wasserscheide mit Tbilissi. Derweil löst die Hartnäckigkeit, mit der der Westen und die durch ihn finanzierten NGOs Jahr aus, Jahr ein und ungeachtet der Exzesse und gar Tragödien fordern, die Abhaltung von Aktionen der LGBT-Vertreter gerade im Zentrum von Tbilissi zu sichern, nichts außer Unverständnis aus. Als würde es keine anderen Probleme im Land geben, das durch Kriege und die langjährige Armut gepeinigt worden ist. Man kann vermuten, dass es, wenn es nicht den Druck gegeben hätte, der einen Teil der Bevölkerung reizt, möglicherweise keine so radikalen Aktionen gegen die LGBT-Gemeinschaft wie in diesem Jahr gegeben hätte. So aber ist Georgien laut einer Umfrage des International Social Survey Programme (ISSP — ein internationales, akademisches Umfrageprogramm, das seit 1985 eine jährliche Umfrage zu wechselnden sozialwissenschaftlichen Themen durchführt) als das schwulenfeindlichste Land in Europa anerkannt worden.

Ungeachtet der erhaltenen besorgniserregenden Botschaften gibt das offizielle Tbilissi den Geist nicht auf, wobei es darauf hofft, dass allein nur die Zunahme des geopolitischen Appetits der Türkei den Westen zwingen werde, enge Beziehungen mit Georgien zu unterhalten, ganz zu schweigen von anderen Faktoren. Ein russisches Szenario gebe es nicht. Georgien bleibe seinem Kurs treu und dies werde beweiskräftig den westlichen Partnern demonstriert, sagte Georgiens Außenminister David Zalkaliani, als er das Geschehen kommentierte.