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Der westliche Lukaschenko-Boykott wird Russland 5 Milliarden Dollar kosten


Das schlimmste Szenario für Minsk ist ein Sich-Anschließen der Europäischen Union an die US-amerikanischen Sanktionen gegen die weißrussische Petrolchemie mit einer Ausdehnung des internationalen Boykotts auf andere weißrussische Exportwaren. Russland wird in diesem Fall bereits nicht alle Verluste des weißrussischen Exports – von Düngemitteln und Erdölprodukten bis Maschinen, Anlagen und Ausrüstungen sowie Lebensmitteln – kompensieren können. Die Unterstützung für das Lukaschenko-Regime im Falle eines Boykotts weißrussischer Waren erfordert vom russischen Haushalt Ausgaben von rund fünf Milliarden Dollar ohne Berücksichtigung neuer Anleihen für eine Neuausstattung der alten Schulden mit Krediten.

Litauen hält sektorale Sanktionen gegenüber Weißrussland für ein wirksames Instrument zur Einflussnahme auf Minsk. Dabei hält man es in Vilnius für erforderlich, unverzüglich zum nächsten Paket von Restriktionen überzugehen. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis betonte, dass „im Rahmen der Diskussion zum fünften Sanktionspaket gegen Weißrussland die Europäische Union Sanktionsmaßnahmen in Bezug auf bestimmte Wirtschaftssektoren verhängen könnte, die einen umfangreichen Handel in der gesamten EU betreiben“. Unter solchen möglichen Zielen nannte der Außenminister den Erdölsektor, den Bereich der Erdölprodukte. Der stellvertretende litauische Außenamtschef Mantas Adomenas präzisierte in einer Sendung des Hörfunksenders „Echo Moskaus“, dass es „neue Pakete geben wird, dass es Restriktionen für jegliche Art des Exports geben wird“. Der Diplomat unterstrich, dass dies nicht nur den Erdölbereich betreffen könne, sondern auch die Düngemittel und Erzeugnisse des Maschinenbaus inkl. „Technologien, die aus Europa nach Weißrussland gelangen, und eine Einschränkung der Finanzmechanismen“.

Freilich, noch lange vor dem Zwischenfall mit der erzwungenen Landung des Passagierflugzeuges in Minsk hatten die USA Sanktionen gegen weißrussische Unternehmen bekanntgegeben. Diese Sanktionen treten nach einer 45-tägigen Übergangsperiode bereits in der ersten Juni-Dekade in Kraft. Auf die amerikanische Sanktionsliste kamen die größten Unternehmen der Petrolchemie – „Naftan“, „Belneftjechim“, „Belneftjechim USA“, das „Weißrussische Erdölhandelshaus“, „Grodno Stickstoff“, „Grodno Chimvolokno“, „Lakokraska“ und „Polozk Steklovolokno“.

Die Dimensionen der potenziellen Verluste des Lukaschenko-Regimes durch den Boykott weißrussischer Waren kann man leicht anhand der Exportstruktur der Bruderrepublik und des Bündnisstaates begreifen. Vor Beginn der Coronavirus-Pandemie machten ein Fünftel des weißrussischen Exports (fast sieben Milliarden Dollar) Erdölverarbeitungsprodukte aus. Weitere rund zehn Prozent (über drei Milliarden Dollar) machten Düngemittel aus. Wichtige Positionen des weißrussischen Exports waren die Erzeugnisse der Landwirtschaft (rund eine Milliarde Dollar). Somit befindet sich der weißrussische Export in einem Umfang von bis zu 20 Milliarden Dollar in der einen oder anderen Weise unter der Einwirkung möglicher westlicher Sanktionen. Freilich, dieser Schlag wird durch die Tatsache abgeschwächt, dass die Europäische Union nicht der größte Käufer weißrussischer Waren ist.

„Ein Beitritt der EU zu den amerikanischen Sanktionen stellt für die weißrussische Petrolchemie-Branche eine Gefahr dar. Aber noch gefährlicher ist das Risiko eines Beitritts durch Großbritannien zu ihnen. Laut Angaben der weißrussischen Seite machte der Export von Erdöl und Erdölprodukten in die Länder der EU-28 im Jahr 2019 vier Milliarden Dollar aus, darunter nach Großbritannien – 2,2 Milliarden Dollar“, erläutert Anastasia Prikladowa, Senior-Hochschullehrerin der Russischen G.-V.-Plechanow-Wirtschaftsuniversität.

„Die Struktur des weißrussischen Düngemittelexports ist stark diversifiziert. Die wichtigsten Partnerländer sind Brasilien (18 Prozent), China und Indien (jeweils elf Prozent) und die Ukraine (neun Prozent). Der Gesamtanteil der EU-27 beläuft sich auf rund 14 Prozent, dabei entfallen auf einzelne Länder weniger als fünf Prozent. Und der spezifische Anteil der USA beträgt weniger als vier Prozent. Daher kann man sagen, dass der Düngemittelexport weniger durch die Sanktionsandrohungen als der Sektor der Erdölprodukte gefährdet ist“, meint Prikladowa. Entsprechend ihrer Prognosen könne man einen Rückgang der Deviseneinnahmen Weißrusslands aus dem Export von Erdölprodukten und Düngemitteln von 1,5 bis 6 Milliarden Dollar erwarten. „Die möglichen Probleme der Zahlungsbilanz Weißrusslands können wohl kaum durch eine Umleitung der Warenströme auf den Markt der Eurasischen Wirtschaftsunion gelöst werden, da ein erheblicher Teil der gegenseitigen Zahlungen im Rahmen der Union in den nationalen Währungen vorgenommen wird“, meint die Expertin.

„Fast 30 Prozent des weißrussischen Exports von Maschinen sowie Anlagen und Ausrüstungen gehen nach Russland. Doch bereits auf dem zweiten Platz unter den Käufern befindet sich Deutschland (mit einem Anteil von rund zehn Prozent). Und Polens Anteil macht 8,5 Prozent aus, Litauens — 7,3 Prozent und Italiens – 5,4 Prozent. Folglich hängt Weißrussland auch hinsichtlich des Exports von Maschinen sowie Anlagen und Ausrüstungen erheblich von den europäischen Käufern ab“, sagt Jelena Roschanskaja, Dozentin an der Plechanow-Universität. Sie betont, dass beinahe 72 Prozent des gesamten weißrussischen Exports nach Russland, in die Ukraine, nach Kasachstan, China, Brasilien und Indien gehen würden.

„Ungeachtet der unterschiedlichen Skandale mit Lukaschenko hat es faktisch keine richtig harten Maßnahmen gegen die weißrussische Wirtschaft gegeben. Harte Maßnahmen seitens des Westens treiben Lukaschenko unweigerlich in die Arme Moskaus, das sofort an den Wunsch des Unterzeichnens verbindlicher Dokumente zur russisch-weißrussischen Integration erinnert. Russland könnte Weißrussland (wie auch im Jahr 2020) Kredite gewähren, könnte den Erwerb weißrussischer Waren inkl. Erdölprodukte erweitern, obgleich es nicht gelingen wird, eine vollständige Kompensierung zu erreichen“, meint der führende Experte der Stiftung für nationale Energiesicherheit und Lehrer der Finanzuniversität bei der Regierung der Russischen Föderation, Stanislaw Mitrachowitsch. Nach seinen Worten werde im Falle einer Reduzierung des Exports nach Europa der Zufluss von Devisen nach Weißrussland stark versiegen, und es würde zu einer Abwertung des weißrussischen Rubels kommen.

„Die amerikanischen Sanktionen gegen die weißrussische Petrolchemie werden für die Exporteinnahmen von Minsk keine empfindlichen sein. Zu gering sind die Umsätze, die fast bis auf den Nullpunkt bereits nach der ersten Verhängung solcher Restriktionen im Jahr 2006 zurückgegangen sind. Die Staatsunternehmen von Weißrussland haben seitdem genug alternative Varianten gefunden. Jedoch sind die Chancen, dass sich dieses Mal die EU den Sanktionen anschließen wird, außerordentlich groß“, warnt der Chefanalytiker der Firma TeleTrade Pjotr Puschkarjow. Nachdem Minsk die für die zivilisierte Welt sensiblen roten Linienüberschritten hat, könnten eine Reihe europäischer Unternehmen aus Image-Erwägungen die Zusammenarbeit mit den staatlichen Unternehmen von Weißrussland eigenständig einstellen, ohne einmal abgestimmte politische Entscheidungen abzuwarten. Etwa genauso war es auch gewesen, als sich Werbekunden kategorisch geweigert hatten, die Eishockey-Weltmeisterschaft zu sponsern. Dabei hält der Wirtschaftsexperte die Gefahr künftiger sekundärer Sanktionen der USA gegen die Unternehmen für durchaus real, die Brenn- und Kraftstoffe, Maschinen oder Düngemittel von weißrussischen Staatsunternehmen erwerben.

„Selbst wenn die Sanktionen den Export von Weißrussland nur halbieren, wird dies zu direkten Verlusten um die drei bis vier Milliarden Dollar führen. Eine Bedienung der bestehenden Devisenschulden wird praktisch zu einer unmöglichen“, prognostiziert der Experte.

In diesem Falle würden die russischen Politiker Lukaschenko davon überzeugen, dass eine Übergabe der Macht an irgendwen von seinen Nachfolgern immer mehr den weißrussischen nationalen Interessen entsprechen würde. „Russland kann doch nicht auf regulärer Grundlage die Auszahlung der Löhne und Gehälter an die Arbeitnehmer der aufgrund von Sanktionen stillstehenden Unternehmen mit Krediten absichern“, nimmt Puschkarjow an.