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Der Widerstand gegen QR-Codes in Russlands Kirche nimmt zu


In der Russischen orthodoxen Kirche erstarkt der Widerstand gegen eine Unterteilung der Bürger entsprechend dem Vorhandensein von QR-Codes über einer Vakzinierung und Immunisierung. Während dieser Protest früher einen irrationalen Charakter und den einer Verschwörungstheorie getragen hatte, so hat er heute seine Tribune erlangt, die mit einer hinreichend rationalen Argumentation auftreten. Der Anführer der an eine Verschwörungstheorie glaubenden Anti-Vaxxer Sergij Romanow ist zu 3,5 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Ihn erwartet noch ein Prozess entsprechend einer Extremismus-Anklage. Die nächsten Mitstreiter Romanows sind über Klöster zerstreut worden, der eine oder andere ist auch in eine U-Haft geraten. Die „Widerstandsbewegung“ ist jedoch ganz und gar nicht zerschlagen worden, wie möglicherweise die politischen Kuratoren des Kirchenlebens erhofft hatten.

Der Metropolit von Jekaterinburg und Werchoturje Jewgenij (Kulberg) ist mit einem gewissen Manifest aufgetreten, in dem er erklärte, dass die Digitalisierung im Bereich des Gesundheitswesens den Charakter einer Quasi-Religion erlangt hätte. Somit ist der Hierarch, in dessen Diözese sich vor nicht allzu langer Zeit das Drama des gegen die Vakzinierung gerichteten „Sergij-Kults“ abgespielt hatte, indirekt in eine Polemik mit dem Vorsitzenden der Abteilung für auswärtige Kirchenbeziehungen der Russischen orthodoxen Kirche, mit Metropolit Hilarion (Alfejew) getreten. Alfejew betreut die Kirchendiplomatie, führt mit der Gesellschaft einen allwöchentlichen Dialog in einer Sendung der wichtigsten staatlichen Fernsehgesellschaft, leitet die theologische Ausbildung und komponiert Musik. Vom Wesen her ist er der zweite Mann in der Russischen orthodoxen Kirche nach Patriarch Kirill. Der 55jährige Hilarion zieht regelmäßig über die Anti-Vaxxer her. Und vor ganz kurzer Zeit warf er den Impfgegnern vor, dass sie den Bösewichten aus dem Ausland Wasser auf die Mühlen gießen würden. „Außerhalb unseres Vaterlands gibt es solche Kräfte, die daran interessiert sind, dass wir alle allmählich aussterben und man unser Land ergreifen kann“, sagte Hilarion Anfang Dezember. Und eben solch einen Mann hat der Hierarch aus dem Ural herausgefordert, der gerade einmal ein Jahr die Diözese von Jekaterinburg leitet. Allerdings bekleidet Kulberg ebenfalls das Amt des Leiters der Synodalabteilung für religiöse Ausbildung und Katechismus. Jewgenij gehört auch noch wie Hilarion dem Obersten Kirchenrat der Russischen orthodoxen Kirche an.

„Wir beobachten, wie sich das, was in den Grenzen der Medizin, Wissenschaft und des Administrierens bleiben muss, in eine Quasi-Religion zu verwandeln beginnt“, schrieb Metropolit Jewgenij in seinem Telegram-Kanal. „Man sagt uns, dass der Widerstand gegen die Vakzinierung den Charakter von Okkultismus erlangt habe. Aber auf genau solchen völlig religiösen und nicht wissenschaftlichen Postulaten beruht auch die Verwendung von QR-Codes“. Er schreibt darüber, dass sich die Wissenschaft die ganze Zeit auf einer Suche befinde. Und man dürfe nicht jene, die an ihre Schlussfolgerungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt zweifeln, pauschal zu Feinden des gesunden Menschenverstands erklären. „Die Beamten des Gesundheitsministeriums und von Rospotrebnadzor (Verbraucherschutzbehörde Russlands – Anmerkung der Redaktion) sind keine heiligen Väter. Allein die Autorität ist wenig. Man muss die Arbeit auf sich nehmen und erklären“, meint der 49jährige Kirchenmann.

„Man macht aber aus den QR-Codes eine neue Quasi-Religion. Der Code ist zu einem Analogon des Kreuzes für den Christen und der Beschneidung für einen Juden geworden, zu einem Symbol des Testaments, der Zugehörigkeit zu einem auserwählten Volk. Seine Verwendung ist völlig ritual. Die eigentliche Form ist bequem und würde keine Angst suggerieren, wenn sie sich auf eine transparente, verständliche und wissenschaftliche Logik stützen würde. Aber ist dem so? Bedeutet ein QR-Code, dass sein Inhaber vakziniert ist? Nein. Und bei weitem nicht alle Vakzine geben ein Recht auf seinen Erhalt. Der Inhaber eines Codes ist nicht gefährlich oder geschützt? Nein. Vakzinierte können erkranken und das Virus übertragen? Elf von 16 durch den Omikron-Stamm Infizierten in unserem Land waren vakziniert gewesen. Gibt es Antikörper? Nein. Und hinsichtlich der Antikörper streiten die Wissenschaftler nach wie vor“, urteilt Kulberg.

Er beklagt, dass auf dem Boden der Vakzinierung und Digitalisierung in der Gesellschaft eine Trennung und Aggression zunehmen würden. „Die Gesellschaft ist gespalten. Und sie ist wohl erstmals seit den Zeiten des Bürgerkriegs richtig gespalten. Nachdem die Herrschenden mit der Quasi-Religion der „Anti-Vaxxer“ konfrontiert wurden, haben sie nicht die Wissenschaft, sondern eine dagegenhaltende QReligion ins Feld geführt. … Ich bin nicht gegen Vakzine oder technische Neuerungen. Vakzine können lebensspendend und Codes sicher sein. Ich bin dagegen, dass diese Erscheinungen in religiöse Gewänder gesteckt werden“, resümiert Kulberg.

Es sei daran erinnert: Der Metropolit von Jekaterinburg trotzt dem „COVID-Wahnsinn“, wie die radikalsten COVID-Dissidenten den Komplex von Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie bezeichnen, die weiland in der Jekaterinburger Diözese nicht nur durch Worte, sondern auch Taten für Aufsehen und Trouble gesorgt hatten. Am 8. Juli, als es in Russland zu einem erneuten Ausbruch der Erkrankung gekommen war, hatte der Gouverneur des Swerdlowsker Verwaltungsgebietes Jewgenij Kuiwaschew die Absage der traditionellen Prozession von Gläubigen an den sogenannten Zaren-Tagen, die der Erschießung von Nikolai II. gewidmet sind, verkündet. Metropolit Jewgenij erklärte als Antwort: „Die Tradition der Volksprozession von der Kathedrale auf dem Blut bis Ganina Jama (hier, ungefähr 15 Kilometer nordwestlich von Jekaterinburg entfernt, wurden die Leichen des letzten russischen Zaren Nikolaus II., seiner Ehefrau Alexandra Fjodorowna und ihrer fünf Kinder in die stillgelegte Grube geworfen, nachdem sie im Verlauf des russischen Bürgerkriegs im Ipatjew-Haus in der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 ermordet worden waren – Anmerkung der Redaktion) ist über den Rahmen sogenannter Veranstaltungen hinausgewachsen und ist für zehntausende Menschen zu einer heiligen geworden. Und heute werden die Menschen diesen heiligen Weg zurücklegen. Dies ist offensichtlich. In der gegenwärtigen epidemischen Situation kann es keine idealen Entscheidungen geben. Jeder findet selbständig eine Balance zwischen Mut und Angst, Verantwortungsgefühl und Tapferkeit, Vorsichtigkeit und Kühnheit. Ich werde eindeutig kommen!“. Die Prozession hat stattgefunden. An ihr hat der Metropolit teilgenommen. Die Offiziellen haben es jedoch vorgezogen, den Anschein zu erwecken, dass es nichts gegeben habe. Die Demarche von Jewgenij zeigte, dass die Russische orthodoxe Kirche versucht, an der Grenze von Loyalismus und Eigenständigkeit zu balancieren.

Ja, und da bedeutet auch der jetzige Auftritt von Kulberg ganz und gar nicht, dass sein Schritt nicht durchdacht und nicht mit der obersten Führung der Russischen orthodoxen Kirche abgestimmt wurde. Wie bereits gesagt wurde, steht Jewgenij zwar vom Gewicht im (Kirchen-) Apparat her Alfejew nach, aber nicht so sehr, dass seine Meinung nicht vernommen wird. Sie ist bereits vom Kirchenvolk erhört worden und wird in den sozialen Netzwerken umfangreich verbreitet.

Wenn wir den Blick noch etwas höher werfen, so überrascht die Meinung von Patriarch Kirill zum Problem der QReligion durch eine gewisse Widersprüchlichkeit, die man als einen nicht ganz erfolgreichen Versuch des Balancierens am Rand der administrativen Grenze und des Erlangens von Popularität bei den einfachen Gläubigen, die negativ zur Vakzinierung und zum Verleihen von Codes, zur „Codierung“ eingestellt sind, ansehen kann. Beleg dafür sind die letzten Erklärungen des Patriarchen: Man müsse sich nicht fürchten, in der Kirche angesteckt zu werden. Dort wirke der Gnade Gottes und würden sanitäre Schutzmaßnahmen ergriffen. Doch schließlich hatte im Frühjahr des vergangenen Jahres das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche mit der gleichen Überzeugtheit gesagt, dass eine Rettung der Seele auch außerhalb der Kirche möglich sei. Und im Frühjahr bereits dieses Jahres versicherte der Patriarch, dass das Virus durch das Reichen des Abendmahls nicht übertragen werde. Alles in allem können sich die Vertreter der unterschiedlichen Überzeugungen in Bezug auf COVID-19 aus der ganzen Masse der Äußerungen und Erklärungen von Patriarch Kirill jedes Beliebige nach ihrem Geschmack auswählen.

Einerseits ist in dieser Widersprüchlichkeit der Wunsch der geistlichen Führer auszumachen, die Mission zu verwirklichen, die sie selbst im Verlauf vieler Jahre vertreten und verteidigen: Die Kirche müsse vereinen und nicht trennen. Sie würde überparteilich sein und Menschen unterschiedlichster Anschauungen in ihrem Schoß aufnehmen. Früher betraf dies die Parteizugehörigkeit. Heute aber, da sich das Problem der Vakzinierung und Digitalisierung in einen politischen und teilweise gar in einen weltanschaulichen Faktor verwandelte, ist es besonders wichtig, das Über-der-Welt-stehen der Kirche zu bewahren.

Andererseits ähnelt der verbale Streit der beiden Metropoliten ganz gehörig einer gewissen Spaltung. Wenn selbst geistliche Würdenträger von einem gewissen Bürgerkrieg, vorerst einem kalten, in der russischen Gesellschaft sprechen, so gibt es keinerlei Garantien dafür, dass diese Konfrontation, die eine Vielzahl von Herzen verhärtet, nicht die Russische orthodoxe Kirche an sich erfassen wird.