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Die Absage Russlands an den EGMR hat sich als ein politisches Spiel erwiesen


Wie die „NG“ erfahren hat, beabsichtigen die Anwälte, die sich auf die Arbeit mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) spezialisiert haben, die neuen Gesetze über den von Russland initiierten Ausstieg aus der Jurisdiktion von Strasburg zu ignorieren, und bis Mitte September werden sie weiterhin Klagen von Bürgern Russlands dorthin senden. Dieser Flashmob basiert nicht auf einem leeren Protest, sondern auf dem Verständnis dessen, dass Russland formal die europäische Konvention über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht aufgekündigt hat. Dabei halten viele Experten die Entscheidung über eine Nichterfüllung der Beschlüsse des EGMR, die nach dem 16. März 2022 gefällt worden sind, für juristisch haltlos und sogar verfassungswidrig. Die Sache besteht jedoch wahrscheinlich darin, dass die russischen Offiziellen einerseits stolz, mit erhobenem Haupt Europa verlassen und von dort keine vertriebenen bzw. ausgeschlossenen sein wollen. Andererseits aber wollen sie ungern selbst eine Aufhebung des internationalen Menschenrechtsstandards initiieren.

Eine der am meisten verbreiteten Expertenmeinungen besteht darin, wie die „NG“ erfuhr, dass man zuerst ein Gesetz über die Aufkündigung der Europäischen Konvention hätte annehmen müssen. Und erst danach hätte man die Gesetze über die Aufhebung der einen oder anderen Bestimmungen der nationalen Gesetzgebung verabschieden dürfen, die sowohl dieses Dokument als auch die Jurisdiktion des EGMR betreffen. Dies ist scheinbar eine elementare Regel, die beispielsweise in der Wiener Konvention von 1969 über das Recht internationaler Verträge festgeschrieben wurde. Es ist jedoch offensichtlich, dass für unsere Herrschenden die politischen Motive wichtiger waren.

Wie das Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe Ilja Schablinskij der „NG“ sagte, habe der EGMR ohnehin beschlossen, dass Russland ab dem 16. September aufhört, Teilnehmer der Europäischen Konvention zu sein. Wozu also musste man diesen Prozess um ein halbes Jahr beschleunigen, fragt er und betont selbst, dass das Dokument ja nicht durch Russland aufgekündigt worden sei. „Diese Frage erklang auch bei einer Tagung der Staatsduma (des russischen Unterhauses – Anmerkung der Redaktion). Meines Erachtens ist die Antwort auf sie klar. Dies ist eine politische Geste, die zeigen soll, dass der gegenwärtige russische Staat mit Verachtung dem Strasburger Gericht gegenübersteht und nicht bereit ist, auf seine Entscheidungen zu warten oder sich mit ihnen abzufinden“, erklärte Schablinskij. Und die Tatsache, dass die Konvention nicht aufgekündigt worden ist, sei für den Staat auch nicht wichtig. „Er nimmt auch so dieses Dokument nicht zur Kenntnis“.

Der Anwalt Dmitrij Agranowskij erläuterte derweil der „NG“, dass sich zwischen den neuen Gesetzen der Russischen Föderation und ihren internationalen Pflichten ein offenkundiger Konflikt ergeben habe. Gemäß Artikel 58 der Europäischen Konvention ist Russland „verpflichtet, die Entscheidungen von Strasburg zu den Klagen aufgrund von Verletzungen, die noch im Verlauf eines halben Jahres nach Beendigung dessen Mitgliedschaft zugelassen wurden, zu erfüllen“. Und daher würden russische Anwälte beabsichtigen, weiterhin Klagen gegen die Russische Föderation beim EGMR bis Mitte September einzureichen. Einerseits sei dies eine prinzipielle Haltung hinsichtlich des Geschehens und andererseits ein Setzen darauf, dass der langsame (Arbeits-) Rhythmus des EGMR diese Klagen gerade zum Zeitpunkt einer Rückkehr Russlands unter die Jurisdiktion von Strasburg zu Entscheidungen bringen werde. „Dies ist jetzt das Bestreben, alles Porzellan zu zerschlagen. Aber in der überschaubaren Perspektive werden sich die Beziehungen mit Europa verbessern. Und dies wird eine Gegenbewegung sein“, ist Agranowskij überzeugt.

Nach Meinung des Seniorpartners aus dem Anwaltskollegium Pen & Paper, Konstantin Dobrynin, sei das übereilt verabschiedete Gesetz über die Nichterfüllung von Beschlüssen des EGMR unter mehreren Aspekten nicht tadellos. Verderblich sei bereits das eigentliche Prozedere seiner Annahme, denn gemäß Teil 1 des Artikels 37 des Gesetzes „Über internationale Verträge der Russischen Föderation“ erfolgt eine Beendigung (darunter eine Aufkündigung) deren Geltung entsprechend den Bedingungen des eigentlichen Vertrags und gemäß den Normen des internationalen Rechts. Dabei kann aufgrund von Artikel 58 der Europäischen Konvention ihre Geltung nicht vor Ablauf eines halben Jahres nach Zusendung einer Benachrichtigung darüber an den Generalsekretär des Europarates oder nach Beendigung der Mitgliedschaft des Teilnehmerstaates in ihm beendet werden. „Folglich muss die Konvention die Gültigkeit in Bezug auf die Russische Föderation bis zum 16. September bewahren. Aber das Ignorieren dieses Umstands bedeutete eine bewusste Missachtung der imperativen Normen des russischen und des internationalen Rechts“, ist sich Dobrynin sicher. Es gibt auch, wie er meint, Beanstandungen hinsichtlich der inhaltlichen Seite der Gesetze über das Abgehen vom EGMR. „Man kann sie nicht als Gesetze über eine Aufkündigung ansehen, da sie die Beendigung der Gültigkeit nicht der gesamten Konvention betreffen, sondern nur eines Teils ihrer Bestimmungen. Und gemäß der für die Russische Föderation verbindlichen Wiener Konvention über das Recht internationaler Verträge von 1969 (Artikel 44) kann das Recht eines Vertragsteilnehmer, das Abkommen aufzukündigen, hinsichtlich nur des gesamten Dokuments in Anspruch genommen werden“.

Der Schlüsselaspekt sei aber laut Aussagen Dobrynins, dass diesen Gesetzen eine rückwirkende Geltung hinsichtlich jener Beschlüsse verliehen werde, die bis zum Ausschluss Russlands aus dem Europarat gefasst wurden, aber nach diesem Moment in Kraft getreten sind. „Wenn man den politischen und geopolitischen Kontext beachtet, in dem das ausgewiesene Gesetz ausgearbeitet und verabschiedet wurde, so kann man annehmen, dass seine formellen und inhaltlichen Mängel nicht mehr als einen juristischen Fehler oder eine nachlässige Technik der Gesetzgebung darstellen“, beschrieb der Experte die Situation. Und danach konstatierte er, dass dies ein „durchaus bewusstes und konsequentes Durchsetzen der Linie durch die Autoren des Gesetzes auf eine Stärkung der staatlichen Souveränität in ihrem Verständnis durch eine Abschwächung der Garantien für einen Rechtsschutz für die Personen, die sich unter der russischen Jurisdiktion befinden“ war. Was natürlich „unbedingt fehlerhaft und traurig ist und was den russischen Anwälten mehr schwierige Arbeit zur Verteidigung der Rechte der Menschen beschert“.

Der Direktor des Zentrums für praktische Konsultationen, der Jurist Sergej Ochotin, bestätigte der „NG“, dass das Gesetz Nr. 54-FG „Über die Ratifizierung der Konvention über den Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten und der Protokolle zu ihr“ von 1998 bis zum heutigen Zeitpunkt ein geltendes sei. Das Prozedere der Aufkündigung des Vertrages sei nicht abgeschlossen worden. Folglich habe Russland nach wie vor gemäß der Verfassung Verpflichtungen hinsichtlich einer Einhaltung der Europäischen Konvention. Somit sei die Verabschiedung von Gesetzen über eine Nichtumsetzung von Beschlüssen des EGMR „nicht einfach ein juristischer Fehler, sondern die Verhängung eines rechtlichen Ausnahmezustands, der den Bürgern die grundlegenden Verfassungsrechte nimmt und den Glauben an die Redlichkeit und Kompetenz sowohl der legislativen als auch der exekutiven Gewalt untergräbt“. Diese Neuerungen würden nach Meinung des Experten auf retroaktive Art und Weise den Zugang zu einem internationalen Rechtsschutz für die 18.000 russischen Bürger nehmen, deren Klagen sich derzeit zur Behandlung im EGMR befinden. „Diese Menschen unterliegen entsprechend der Absicht der Abgeordneten einer Aberkennung des Rechts auf eine Wiedergutmachung und auf eine Revision von unter Verletzung der Europäischen Konvention gefällten Gerichtsentscheidungen“. Dabei ist Ochotin davon überzeugt, dass nach Verabschiedung dieser Gesetze das Verfassungsgericht der Russischen Föderation die Widersprüche zwischen ihnen und dem Grundgesetz des Landes deuten und auslegen müsse. Da die Ablehnung der Beschlüsse von Strasburg, die nach dem 15. März 2022 in Kraft getreten sind, direkt Teil 2 des Artikels 55, Teil 4 des Artikels 15 und Teil 3 des Artikels 46 der Verfassung widerspreche. Folglich sei wahrscheinlich, merkte Ochotin an, dass dies Gesetze einer „sehr kurzen Geltungsdauer“ seien. In den nächsten Tagen sei, wie er betonte, eine Pressemitteilung des EGMR zu erwarten. Bisher aber gebe es von seiner Seite aus keinerlei Voraussetzungen dafür, dass die Klagen von Bürgern Russlands nicht angenommen und behandelt werden. Freilich mit der Behandlung gebe es auch eine andere Variante. Nicht ausgeschlossen sei die Möglichkeit, dass eine Aussetzung für irgendeinen Zeitraum verkündet werde, wahrscheinlich bis zu einer Normalisierung der politischen Situation und Rückkehr der Russischen Föderation zu den Grundlagen eines Rechtsstaates. „Auf jeden Fall werden die Klagen über eine Verletzung der Konvention in den Grenzen ihrer Geltungsdauer durch den EGMR angenommen und früher oder später behandelt. Eine Frage wird hinsichtlich deren Umsetzung in Russland bleiben“, unterstrich Ochotin.

Der geschäftsführende Partner des Anwaltsbüros „Borodin & Partner“, Sergej Borodin, äußerte gegenüber der „NG“ eine entgegengesetzte Meinung. Nach seinen Worten sehe Russlands Ausscheiden aus dem Europarat eine gleichzeitige Aufkündigung der Konvention vor. So höre Russland entsprechend der Resolution CM/Res (20222) 3 auf, am 16. September eine Seite der Konvention zu sein, was den Forderungen hinsichtlich einer sechsmonatigen Geltungsdauer nach Benachrichtigung über eine Aufkündigung entspreche. Die hastige Annahme der Gesetze aber, die eine Ablehnung der Jurisdiktion von Strasburg vorsehen, sei ohne eine Berücksichtigung einer Aufkündigung der Konvention „von dem Wunsch des Staates diktiert, sich von der Notwendigkeit einer Erfüllung der Entscheidungen des EGMR zu befreien“. Denn in dem Fall, dass man sich mit einer Aufkündigung übereilt hätte, wäre faktisch die Situation entstanden, in der sich die russischen Bürger nicht an den EGMR wenden könnten, der Staat aber verpflichtet wäre, alle bis zum 16. März gefällten Entscheidungen hinsichtlich der Klagen zu erfüllen. Ein zusätzliches Risiko sei auch die Möglichkeit des EGMR gewesen, die Annahme von Klagen zwecks Behandlung wiederaufzunehmen. Die entsprechenden Gesetzesvorlagen, die schnell bestätigt wurden hätten Russland aber erlaubt, sich vollkommen von Strasburg zu distanzieren. Folglich sei in der sich herausgebildeten Situation die gesetzgeberische Bestätigung der Aufkündigung der Europäischen Konvention eine juristische Formalität, ist sich Borodin sicher.

Derweil bedeute nach Aussagen des föderalen Richters im Ruhestand, Sergej Paschin, eine Nichtteilnahme an internationalen Mechanismus überhaupt nicht eine Missachtung gegenüber den Bürgerrechten, die in Akten mit einer Beteiligung Russlands fixiert wurden. „Wir können nicht gegen das Recht auf Leben, auf eine gerechte Rechtsprechung sein. Folglich wie kann man dies alles aufkündigen? Sie hat uns doch nicht Europa aufgezwungen. Wir haben sie selbst gewählt“, erklärte er gegenüber der „NG“. Paschin ist der Annahme, dass man den Bürgern verbieten könne, sich an den EGMR zu wenden. Aber seine Praxis müsse man doch „für eine adäquate Auslegung der Bestimmung der Konvention“ nutzen. Letzten Endes, „wenn die Hysterie nachlässt, die mit den Sanktionen und der Sonderoperation verbunden ist, wird man den Status quo ante bellum wiederherstellen müssen“, unterstrich er.