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Die Arktis als ein potenzieller Kriegsschauplatz


Das Jahr 2022 hat einen fetten Schlussstrich in dem langen politologischen Streit um eine angeblich konfliktfreie Arktis gezogen. Bei einer aufmerksamen Untersuchung des arktischen Kontextes zumindest der letzten fünf Jahre wird offensichtlich, dass das Nichtvorhandensein eines offenen Konflikts im Polargebiet bei weitem nicht bedeutete, dass sich das für die Region der Zeiten des Zerfalls der UdSSR charakteristische Konfliktpotenzial des Kalten Krieges irgendwohin verflüchtigt hatte. Es hatte nur leicht geschlummert, wobei es neue Trigger erlangte.

Dieser Tage hat das Bestehen eines in der Arktis schlummernden Konfliktauslösers auch die russische Diplomatie anerkannt. „Dies ist natürlich eine sehr besorgniserregende Tendenz, die Verwandlung der arktischen Region in einen internationalen Kriegsschauplatz“, konstatierte Nikolaj Kortschunow, Sonderbotschafter des Außenministeriums der Russischen Föderation und amtierender Vorsitzender des Komitees hochrangiger Amtspersonen des Arktischen Rates. So kommentierte er die Übergabe von Anträgen für eine Aufnahme in die Allianz durch Finnland und Schweden an NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Noch deutlicher setzte die Akzente in diesem Kontext der einstige Ständige Vertreter Russlands bei der NATO in Brüssel und heutige Vizeaußenminister Alexander Gruschko: „Im Wissen darum, inwieweit die NATO bereit ist, alles zu militarisieren, was sich in der Reichweite befindet, unterschätzen wir nicht die Gefahr einer Militarisierung der Arktis und deren Verwandlung in die Arena eines militärischen Wettstreits“.

Ein markanter Beweis dafür sind die angestiegenen Gefechtsmöglichkeiten der Gruppierungen der Kräfte der Nordmeerflotte. Unter anderem das jüngst durch das strategische U-Boot „Fürst Oleg“ der K-552-Klasse demonstrierte Auftauchen im Arktiseis der Barentssee.

Zur gleichen Zeit betonte Gruschko die Überzeugung Moskaus von der Notwendigkeit einer Entwicklung solcher „friedlichen Instrumente wie der Arktische Rat, der Rat der Ostsee-Staaten und der Rat der Region der Barentssee/der Euro-Arktischen Region“ und unterstrich, dass der Bedarf der gerade erwähnten Strukturen offensichtlich nicht durch die NATO-freundliche „Wende“ der einst neutralen Länder Schweden und Finnland verstärkt werde.

Nüchterne Wertungen für die militaristischen Ambitionen Stockholms und Helsinkis gibt es übrigens auch im Westen. So hielt die Chefin des in Washington ansässigen Think Tanks Center for International Policy, Diana Ohlbaum, den Schritt Schwedens und Finnlands für einen destabilisierenden Faktor, der „ein kurzsichtiger und gefährlicher“ sei. Mit einer Stabilisierung der Welt rund um den Nordpol und deren Frieden wird sich augenscheinlich die im Arktischen Rat den Vorsitz innehabende Russische Föderation befassen müssen.

In der vergangenen Woche war Halbzeit beim zweijährigen russischen Vorsitz im Arktischen Rat. Im Mai des kommenden Jahres wird Russland feierlich oder sachlich nüchtern seinen verantwortungsvollen Posten in diesem „hochrangigen politischen Forum“ an Norwegen übergeben. Es sei daran erinnert, dass die Gesetzgeber im Arktischen Rat die Außenminister Dänemarks, Islands, Kanadas, Norwegens, Russlands, der USA, Finnlands und Schwedens sind, die umgangssprachlich als die „Arktischen Acht“ (A8) bezeichnet werden. Mit ihnen analogen Vollmachten – mit Ausnahme des Rechts auf einen Vorsitz im Arktischen Rat entsprechend dem Rotationsprinzip – ist auch eine Sechsergruppe von Organisationen indigener Völker des Polargebietes ausgestattet worden. Im Arktischen Rat hat man ihnen den Status ständiger Teilnehmer eingeräumt.

Das Ende des ersten Jahres des russischen Vorsitzes im Arktischen Rat fiel in eine außerordentlich schwierige Zeit. Als Antwort auf die militärische Sonderoperation der Russischen Föderation in der Ukraine haben unsere Partner im Arktischen Rat am 3. März offiziell eine zeitweilige Unterbrechung ihrer Teilnahme an allen offiziellen Veranstaltungen sowohl des Rates an sich als auch seiner Hilfsorgane bekanntgegeben. Abgelehnt haben sie es auch, ihrer Vertreter zu Treffen auf dem Territorium der Russischen Föderation zu delegieren. Zu Opfern dieses politischen Schritts wurden Projekte des Arktischen Rates, die mit der Untersuchung der Klimaveränderungen und der dadurch bedingten neuen Trends in der Entwicklung von Flora und Fauna in den hohen Breitengraden in Verbindung stehen. Dies tangierte unter anderem das großangelegte wissenschaftliche Projekt PAME (Protection of the Arctic Marine Environment), das dazu berufen war, die Einwirkung der Förderung von Kohlenwasserstoffen auf die Natur des Polargebietes zu analysieren. In Frage gestellt wurde gleichfalls die Fortsetzung des Vorhabens, das auf eine Messung des Umfangs der Methan-Emissionen vom Meeresgrund in den russischen arktischen Gewässern abzielte.

Derweil gelang es in der Zeit des russischen Vorsitzes, im letzten Dezember in Salechard eine Plenartagung der hochrangigen Vertreter des Arktischen Rates durchzuführen. Unter Berücksichtigung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie erfolgte die Veranstaltung in einem hybriden Format. An ihr nahmen rund 180 Delegierte aus den acht Mitgliedsländern teil.

Es sei betont, dass selbst unter den Bedingungen des gegenwärtigen Boykotts Russland, auf das etwa 30 Prozent des Territoriums der Arktis, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, die im Polargebiet lebt, und fast 70 Prozent der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in der Region entfallen, die Implementierung seines Programms für den Vorsitz im Arktischen Rat auf die arktische Zone der Russischen Föderation umorientierte, wobei es keine Alternative zum Imperativ einer stabilen bzw. nachhaltigen Entwicklung des Polargebietes sieht. Gemeldet wurde auch dessen Bereitschaft, bei der Realisierung des Strategischen Planes des Arktischen Rates alle interessierten Subjekte der Arktis-Region zu unterstützen. Wie Kortschunow mehrfach unterstrich würden mit Ausnahme der offiziellen Veranstaltungen des Arktischen Rates alle geplanten Aktionen des russischen Vorsitzes in strikter Übereinstimmung mit dem Zeitplan erfolgen. „In den Gründungs- und Strategiedokumenten des Rates ist eindeutig die Notwendigkeit einer Bewahrung der Arktis als ein Territorium des Friedens, der Stabilität und einer konstruktiven Zusammenarbeit verankert worden. Und im Zusammenhang damit ist es wichtig, dieses einmalige Format für ein Zusammenwirken vor einem Einbringen außerregionaler Themen zu bewahren, damit es nicht zu deren Geisel wird“, betonte er.

Es macht Sinn zu betonen, dass gerade Russland die Ehre zuteilwurde, als erstes Land sich der Realisierung des im vergangenen Jahr durch das XII. Ministertreffen des Arktischen Rates verabschiedeten Strategischen Plans anzunehmen, der für die Jahre 2021-2030 konzipiert worden ist. Die in dem Dokument vorgesehenen sieben strategischen Ziele des Arktischen Rates kann man bedingt in drei Blöcke untergliedern – „Umweltschutz“, „Nachhaltige sozial-ökonomische Entwicklung“ und „Stärkung des Arktischen Rates“. Dabei werden für jedes strategisches Ziel „strategische Handlungen“ vorgesehen, die einerseits die traditionellen örtlichen Kenntnisse berücksichtigen, andererseits sich auf wissenschaftliche Empfehlungen stützen. Ein Zwischenbericht zum Strategischen Plan ist für das Jahr 2025 geplant. Die abschließende Beurteilung seiner Umsetzung – für das Jahr 2030.

Es schien, dass angesichts der im Strategischen Plan abgesteckten Ziele es wie nie zuvor wichtig ist, durch gemeinsame Anstrengungen die Arktis vor einem Klima-Chaos zu bewahren, das zu einem globalen Kollaps führen kann. Schließlich erwärmt sie sich dreimal schneller im Vergleich zu den übrigen Regionen der Welt. Überdies hängt sie eng mit den Temperaturregimes des gesamten Planeten zusammen. Zu sehen sind aber kurzsichtige Versuche der Partner aus dem Arktischen Rat, die sich zugespitzte außenpolitische Situation auszunutzen und, ohne sich um ein gemeinsames Vorgehen gegen die globalen Kataklysmen zu sorgen, sich zu bemühen, Russland aus dem Arktischen Rat zu verdrängen, womit der Rat aus dem A8-Format in ein A7-Format umgewandelt wird.

Übrigens kann hier die Bestimmung des Strategischen Plans übel mitspielen, die den Arktischen Rat vor einer Stagnation bewahrt. Sie lässt „bei Bedarf eine Erneuerung“ seiner Struktur sowie der Arbeits- und der Organisationsmethoden zu. Überdies weitet der Strategische Plan die regionalen Rahmen des Arktischen Rates aus, wobei er den Rat darauf orientiert, dass in seinen Kontakten mit internationalen und Regierungsinstituten sowie Initiativen die „Wechselbeziehung zwischen der Arktis und der übrigen Welt“ reflektiert wird.

Ein erfolgloser Versuch, dem Arktischen Rat die Führungsrolle auf dem arktischen Track abzunehmen, wurde bereits bei dem in der 1. Maidekade erfolgten Forum „Arktische Weiten“ im norwegischen Tromsø (deutsch: Tromsö) unternommen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die internationale Vollversammlung „Arktischer Kreis“ versuchen wird, ihre Positionen zum Schaden des Arktischen Rates zu verstärken. Auf jeden Fall hat sich bereits die Mitgründerin des „Arktischen Kreises“ und die Vorsitzende seines Konsultativrates, die Chefredakteurin und Herausgeberin der Medien-Ressource „Arctic Today“, Alice Rogoff, zugunsten eines neuen Formats für den Arktischen Rat – für einen Arktischen Rat 2.0 – ausgesprochen.

Freilich ist nicht ganz klar, inwieweit überhaupt solch eine Neuformatierung bei dem im Arktischen Rat geltenden Konsens-Regime möglich ist. Wird es erforderlich werden, im 26. Jahr des Bestehens des Arktischen Rates dessen traditionelle Agenda, die auf den Umweltschutz, den Kampf gegen die Klimaveränderungen, die Wirtschaft und eine nachhaltige Entwicklung der indigenen Völker orientiert ist, zugunsten von Problemen einer „harten Sicherheit“ aufzugeben? Wird das neue Format der Europäischen Union und der NATO erlauben, an die Hebel für eine Verwaltung des internationalen Polargebiets zu gelangen, zumal sie schon lange davon träumen, aber von Moskau nach wie vor hart daran gehindert werden? Wird sich das Institut der Beobachter des Arktischen Rates verändern? Schließlich hat in dem Vierteljahrhundert des Wirkens des Arktischen Rates deren Anzahl (13 nichtarktische Staaten, 13 Regierungs- und interparlamentarische Organisationen, zwölf Nichtregierungsorganisationen) begonnen, offenkundig über den Mitgliedern und ständigen Teilnehmern des Rates zu dominieren. Veränderungen sind auch in den Reihen der eigentlichen Mitglieder des Arktischen Rates nicht ausgeschlossen, darunter bedingt durch eine mögliche Umverteilung in ihren arktischen Kompetenzen. Unter anderem sind die arktischen Perspektiven von Kopenhagen nebulös, die lediglich dank dem guten Willen der Bürger des dänischen Königsreiches, die in seinen großen Autonomien im Polargebiet – auf Grönland und den Faröer-Inseln – leben, erhalten geblieben sind.

Es macht Sinn zu betonen, dass Versuche einer Möchtegernpolitik auf dem arktischen Track auch früher unternommen wurden. Beispielsweise hatte im Jahr 2014 Kanada, das zu jener Zeit den Vorsitz im Arktischen Rat geführt hatte, als Antwort auf den Beitritt der Krim zu Russland Moskauer Sitzung der Zielgruppe des Arktischen Rates zu Problemen der Fragen von Methan und Ruß ignoriert. Damals waren auch die alljährlichen Konsultationsbegegnungen der Generalstabschefs des Arktischen Rates eingestellt worden, deren Wiederaufnahme auf der Tagesordnung des gegenwärtigen russischen Vorsitzes steht.

Allerdings wird ohne eine Zusammenarbeit mit Russland wohl kaum eine Lösung für die drängenden Probleme der Arktis möglich sein.

  1. S.

Am 1. Juni meldete sich der Kommandierende der russischen Nordmeerflotte Alexander Moisejew zu Wort. Er kündigte an, dass die Zusammensetzung der Küstentruppen verstärkt und diese mit modernen Waffen ausgerüstet werden sollen. Allein in diesem Jahr sollen 530 moderne Waffensysteme in Dienst gestellt werden, womit der Anteil dieser Waffen bis zum Jahresende 63,5 Prozent ausmachen werde. Als Grund für diese Anstrengungen nannte der Militär den Konfrontationskurs der USA in der Arktis-Region. „Die Vereinigten Staaten gehen offenkundig in Richtung einer Konfrontation mit Russland, indem sie die Absichten für eine Erweiterung der Allianz durch einen NATO-Beitritt von Finnland und Schweden realisieren. All dies kann uns nicht unbesorgt lassen. Wir müssen adäquate Maßnahmen ergreifen. Und es bestehen keine Zweifel, dass sie ergriffen werden“.