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Die Butscha-Geschichte wird nicht bis auf das Niveau von Srebrenica gepusht


Russland versucht weiterhin, im UN-Sicherheitsrat eine Behandlung der Situation im Kiewer Vorort Butscha zu erreichen. Dort sind Zivilisten umgebracht worden. Die ukrainischen Offiziellen werfen dies den russischen Militärs vor, die seit dem 24. Februar auf Befehl von Präsident Wladimir eine „Sonderoperation zur Entmilitarisierung und Denazifizierung der Ukraine“ durchführen. Vor dem Hintergrund dieses Zwischenfalls haben Beobachter die Möglichkeit eines Scheiterns der Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew eingeräumt. Die Gräueltaten von Butscha bis auf das Niveau der Geschichte in Srebrenica (als sich im Juli 1995 dort ein Kriegsverbrechen ereignete, bei dem mehr als 8000 Bosnier umgebracht wurden – Anmerkung der Redaktion) aufzupushen, wird wohl kaum gelingen.

Als eine „Fake-Attacke“ bezeichnete der russische Außenminister Sergej Lawrow die Geschichte rund um die angeblich von Militärs der Russischen Föderation vorgenommene Ermordung von Zivilisten der ukrainischen Stadt Butscha. Wie Lawrow am Montag bei Gesprächen mit dem stellvertretenden UN-Generalsekretär und Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen Martin Griffiths präzisierte, sei, nachdem die Militärangehörigen der Russischen Föderation entsprechend von Vereinbarungen die Stadt verlassen hatten, „dort einige Tage später eine Inszenierung besorgt worden, die die ukrainischen Vertreter über alle Kanäle und sozialen Netzwerke verbreiten“.

Es sei daran erinnert, dass die russischen Militärs einen Tag später, nachdem bei den russisch-ukrainischen Verhandlungen in Istanbul am 29. März im Präsenzformat die Vertreter der Russischen Föderation die Absicht erklärt hatten, die militärischen Aktivitäten in den Richtungen Kiew und Tschernigow zu verringern, Butscha verließen. Dieser Schritt war damit verknüpft worden, dass die ukrainischen Unterhändler erste konkrete Vorschläge vorgestellt hatten. Und daher hatte die russische Seite im Gegenzug eine Kompromissentscheidung getroffen, die auch auf jene Personen orientiert war, die in Kiew Entscheidungen treffen. Und vom Prinzip her wurde schon allein daher offensichtlich, dass man in Moskau in keiner Weise an einer weiteren Zuspitzung der Ereignisse in der aufgegebenen Ortschaft hätte interessiert sein können. Am Samstag begann man jedoch aktiv Videos aus Butscha zu verbreiten, die entlang einer Straße liegende Leichen dortiger Zivilisten zeigten, die angeblich von russischen Armeeangehörigen ermordet wurden.

Die aufgekommenen Anschuldigungen dementierte das russische Verteidigungsministerium am Sonntag. Wie man im Ministerium erinnerte, hätten die Streitkräfte der Russischen Föderation bereits am 30. März Butscha vollkommen verlassen. Doch die „Belege für die Verbrechen“ seien erst am vierten Tag aufgetaucht, als Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Ukraine in der Stadt eintrafen. Dabei hätte, wie man im russischen Verteidigungsministerium unterstrich, Butschas Bürgermeister Anatolij Fjodoruk am 31. März in seiner Videobotschaft bestätigt, dass es in der Stadt keine russischen Militärs gebe. Und er hatte auch keinerlei auf den Straßen erschossene Einheimische erwähnt.

Aber ungeachtet dieses Videos mit dem freudig lächelnden Bürgermeister hat man das Vorgefallene in Butscha bereits als „Blutbad von Butscha“ bezeichnet. Auf jeden Fall hatte solch eine Definition am gleichen Tag der ukrainische Unterhändler und Berater des Leiters des ukrainischen Präsidenten-Office, Michail Podoljak, auf Telegram verwendet. Wobei aufgrund der Duldung der europäischen Partner „die Welt einen totalen nichtwiederzugebenden Horror von Unmenschlichkeit in Butscha, Irpen und Gostomel erhalten hat“ – mit hunderten und tausenden Getöteten, Gepeinigten und Vergewaltigten, berichtete Podoljak. Und verglich das Vorgefallene in Butscha mit den Ereignissen von Srebrenica, wo im Juli 1995 mehrere tausend bosnische Moslems durch die Armee der Serbischen Republik umgebracht worden waren.

Derweil würden „die Faktenlage und die kalendarische Abfolge“ der beschriebenen Ereignisse, wie am Montag Dmitrij Peskow, Pressesekretär des russischen Präsidenten, erklärte, auch nicht den Wahrheitsgehalt derartiger Behauptungen bestätigen. Nach seinen Worten sei man in Moskau der Auffassung, dass man dieses Thema auf höchster Ebene erörtern müsse, und schlug daher vor, es bei einer Tagung des UN-Sicherheitsrates zu behandeln. Und obgleich diese Initiative der Russischen Föderation am Montag blockiert wurde, versuchen die russischen Diplomaten weiterhin, diese Frage auf die Tagesordnung des UN-Sicherheitsrates zu bringen, was auch Peskow betonte. Dabei enthielt er sich Kommentare darüber, wie diese Situation den Verlauf der Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew beeinflussen könne.

Übrigens, am Vorabend hatte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in einem seiner Interviews erklärt, dass die Seiten schon einer Abstimmung von Vereinbarungen nahe seien und dass Kiew bereit sei, einem neutralen und kernwaffenfreien Status der Ukraine unter der Bedingung ihres Beitritts zur EU zuzustimmen. Zur gleichen Zeit hatte der Leiter der russischen Verhandlungsdelegation, der Berater des russischen Präsidenten und Ex-Kulturminister Wladimir Medinskij ebenfalls betont, dass die ukrainische Seite begonnen hätte, realistischer an die Fragen heranzugehen, die mit einem neutralen und kernwaffenfreien Status der Ukraine zusammenhängen. Laut seinen Worten seien die in Istanbul abgestimmten Fragen – zum neutralen, blockfreien und kernwaffenfreien Status der Ukraine und zum Verzicht einer Stationierung ausländischer Truppen, Stützpunkte sowie jeglicher Angriffswaffen, aber auch zum Verzicht auf eine Entwicklung und Herstellung von Massenvernichtungswaffen, zur Abhaltung von Manövern unter Beteiligung ausländischer Streitkräfte nur mit Genehmigung von Garantiestaaten (einschließlich Russlands), aber auch die Schaffung eines Systems internationaler Sicherheitsgarantien – das, was Russland seit 2014 konsequent zu erreichen suchte. Dabei bleibe Moskaus Haltung zur Krim und zum Donbass eine unveränderte, wiederholte Medinskij. Und er betonte, dass die erforderlichen Entwürfe von Vereinbarungen für ein voraussichtliches Gipfeltreffen bisher nicht fertig seien.

Vor dem Hintergrund der sich in den westlichen Ländern drastisch gehäuften Aufrufe zu noch mehr antirussischen Sanktionen und zur Verstärkung des Drucks auf die Russische Föderation haben allerdings einige Beobachter bereits die Möglichkeit einer weiteren Fortsetzung der Verhandlungen angezweifelt (freilich aber bisher nicht recht damit gehabt).

Auf die Frage der „NG“, ob es den interessierten Akteuren gelingen werde, den Zwischenfall in Butscha letztlich bis auf das Niveau von Srebrenica zu bringen, betonte Iwan Timofejew, Programmdirektor des Russischen Rates für internationale Angelegenheiten, dass sich der dort ereignete Zwischenfall die Wahrscheinlich des Erreichens eines Kompromisses im russisch-ukrainischen Verhandlungsprozess verringere. Dabei erinnerte der Experte bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit für die Klärung der Frage zu einem EU-Beitritt der Ukraine daran, dass dies alles doch ein langer Prozess sei. Und selbst wenn er beschleunigt werde, werde er zu keinem leichten Spaziergang. Überdies sie die Frage zur EU nicht die hauptsächliche. Die Schlüsselfragen seien doch die zur Sicherheit, zum neutralen Status der Ukraine, aber auch zum Status des Donbass und eventuell zu anderen Territorien, präzisierte Timofejew. Er merkte an, dass er in der heutigen Situation die Möglichkeit für die Unterzeichnung eines abschließenden dauerhaften Abkommens, das nicht zu einer leeren Hülse werde und weiter durch die Seiten umgesetzt werden würde, skeptisch bewerte.

Die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Ukraine seien ein Problem dieser beiden Seiten und hätten keine ernsthafte militärische Relevanz, sagte der „NG“ der Dekan der Fakultät für internationale Politik der Moskauer staatlichen Universität, Andrej Sidorow. Was aber die Fortsetzung des russisch-ukrainischen Verhandlungsprozesses angehe, so würden die Vertreter Kiews den Zwischenfall in Butscha für ein Canceln irgendwelcher (Verhandlungs-) Runden möglicherweise ausnutzen. Dabei sei es aber nicht schlecht, sich darüber Gedanken zu machen: Solang sie die Verhandlungen vertagen, wohin können dabei die russischen Militärs gehen? Wahrscheinlich werde man versuchen, fuhr Sidorow fort, den Vorfall in Butscha für eine Verschlechterung des generellen moralisch-psychologischen Backgrounds auszunutzen. Es werde jedoch wohl kaum gelingen, ihn bis zum Niveau der Geschichte von Srebrenica zu pushen. Seit der Zeit der 90er Jahre sei der Fortschritt weit vorangekommen. Unter anderem gebe es jetzt Mobiltelefone. Und daher würden wohl augenscheinlich bald irgendwelche neue Videos mit Beteiligten des erwähnten Zwischenfalls auftauchen. Überdies müsse man auch verstehen, dass Russland nicht Serbien sei. Heute sei dies eine Großmacht, die imstande sei, den Westen zu vernichten, konstatierte Sidorow.

Und er bekundete die Hoffnung, dass es Moskau dennoch gelingen werde, seine Position zu dieser Frage im UN-Sicherheitsrat zu formulieren. Eine andere Sache sei, dass dies wohl kaum helfen werde, den generellen Trend zu ändern, der auf eine weitere Verstärkung des Drucks gegen Russland abziele. Und um ihm Paroli zu bieten, müsse die russische Seite offensichtlich erfolgreich (aus Moskauer Sicht – Anmerkung der Redaktion) die am 24. Februar begonnene Militäroperation beenden und gleichzeitig die Verhandlungen über die Etablierung eines neuen globalen Systems finanzieller und Handelsbeziehungen fortsetzen, resümierte Andrej Sidorow, Dekan der Fakultät für internationale Politik der Moskauer Lomonossow-Universität.