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Die dritte Coronavirus-Welle hat die Offiziellen überrascht


Die russischen Behörden sind gezwungen, Hals über Kopf unpopuläre Maßnahmen zur Eindämmung der neuen Coronavirus-Welle zu ergreifen. Die rasante Ausbreitung der Erkrankung in Verbindung mit deren schwereren Verlauf lässt keine andere Wahl. Der Taktikwechsel veranlasst jedoch, einige Frage dahingehend zu stellen, wodurch er ausgelöst worden ist – durch das operative Reagieren auf die sich veränderten Umstände oder durch eine mangelnde Voraussicht?

Im vergangenen Jahr hatten die Offiziellen und Behörden eine effiziente Antwort auf die Pandemie gegeben – man hatte schnell eine medizinische Infrastruktur aufgebaut, die Gewährung der notwendigen Hilfe für alle Erkrankten gesichert sowie in kürzester Frist wirksame Vakzine entwickelt und registriert. Solch eine Reaktion auf die Gefahr war auf dem besten internationalen Niveau. Hinsichtlich der wichtigsten Richtung im Kampf gegen das Coronavirus – der Immunisierung der Bevölkerung – bleibt die Russische Föderation jedoch sehr ernsthaft hinter den meisten Ländern zurück.

Die Probleme wurden bereits zu Jahresbeginn offensichtlich. Damals konnte man sie noch der Beispiellosigkeit der Situation zuschreiben. Doch die Kapazitäten zur Herstellung von Impfstoffen, die logistischen Abläufe und die Informationskampagne sind bereits lange organisiert worden. Die Vakzinierung erfolgt aber mehr schlecht als recht. Anfang Juni war das Tempo ein solches, dass ein Jahr erforderlich gewesen wäre, um 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung zu impfen. In der letzten Woche hat es etwas zugenommen. Es bleibt aber immer noch ein äußerst geringes.

Die Offiziellen machen für alles die unbewussten Bürger Russlands verantwortlich. Angeblich hätten ihre Vorurteile und Selbstzufriedenheit zu der traurigen Situation geführt, in der die dritte Coronavirus-Welle zur stärksten und schlimmsten in der gesamten Pandemiezeit geworden ist. In dieser Position steckt ein Anteil von Schalkheit (neben dem Ignorieren des Misstrauens der Bevölkerung gegenüber den Herrschenden). Letztlich ist der indische bzw. Delta-Stamm des Coronavirus, der gegenwärtig in Russland grassiert, auch nicht gestern aufgetaucht. Wer hat denn den Moment verpasst, als er zum dominierenden wurde, in die Russische Föderation gelangte und sich auszubreiten begann?

Als Hauptprinzip der Vakzinierung hatte die Offiziellen anfangs deren freiwilligen Charakter genannt. Dies konnte man mit dem Unwillen erklären, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen. Die obligatorische Vakzinierung hat viele Gegner. Jetzt aber muss dieses Prinzip revidiert werden. Die Impfung wurde faktisch zu einer freiwillig-erzwungenen in vielen Regionen. Bereits offen eingestanden wird, dass die einen oder anderen Formen einer Diskriminierung Ungeimpfter unumgänglich seien. Wobei dies zum für die Herrschenden ungeeignetsten Zeitpunkt erfolgt, da die Wahlkampagne startet. Solch eine Inkonsequenz wird wohl kaum positiv aufgenommen werden. Jetzt müssen die Bürger Russlands zur Vakzinierung gescheucht werden, wobei ein Ausfall der Arbeitseinkommen (im Falle einer Weigerung) angedroht wird. Wozu hatte man dann aber so viele Monate sie davon zu überzeugen gesucht (und überzeugt), dass die Impfung eine freiwillige Angelegenheit ist?

Nun stempelt man diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, alle zusammen und pauschal zu Impfgegner ab. Angeblich führe ihre schlummernde Ignoranz zu einer Zunahme der Coronavirus-Todesfälle. Dabei hatte man in den staatlichen Medien vor kurzem noch mit einer gewissen merkwürdigen Schadenfreude die Probleme ausgekostet, mit denen ausländische Impfstoffhersteller konfrontiert wurden, wobei besonders das Augenmerk auf die letalen Fälle nach den Impfungen gelenkt wurde. Und dabei waren die ausländischen Präparate nicht einmal direkte Konkurrenten für die einheimischen Entwicklungen in Russland (wohl aber auf dem internationalen Markt, der Riesengewinne verspricht). Aber das Schüren der Besorgnis hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen und Komplikationen förderte das Erstarken der Meinung (natürlich einer fehlerhaften), dass mit den Vakzinen überhaupt nicht alles in Ordnung sei und es besser sie, sich weiter weg von ihnen zu halten.

Letztlich ergibt sich der Eindruck, dass die Offiziellen einfach das Ergreifen entschiedener Maßnahmen umgehen wollten. Man hatte darauf gehofft, dass sich die neuen Coronavirus-Wellen als keine solch starken erweisen würden. Dass die Pandemie nachlasse. Dies führte aber dazu, dass jetzt solche unpopulären Maßnahmen doch Hals über Kopf ergriffen werden müssen. Aber nur den Bürgern Russlands daraus einen Vorwurf zu machen, ist nicht ganz ehrlich. Und ehrlich wäre es gewesen, schon lange und offen (wenn nicht das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Offiziellen) so doch das einzugestehen, dass in der Hochzeit der weltweiten Corona-Pandemie unpopuläre Maßnahmen unumgänglich sind, und dies, ohne sich der öffentlichen Meinung anzupassen.