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Die elektoralen Prozesse in Armenien sind den europäischen analog


Die armenische Opposition hat erklärt, dass die Regierung von Nikol Paschinjan anstrebe, mit Aserbaidschan einen „Kapitulationsvertrag“ zu unterschreiben. Dabei sind sich die Gegner des Premierministers sicher, dass ihm nichts gelingen werde. Anstelle dessen würden die Mitglieder des Paschinjan-Teams nach den nächsten Parlamentswahlen angeblich nach Baku umziehen. Derweil ist aber die Partei des armenischen Regierungschefs immer noch die populärste im Land. Und die Unterstützung für die oppositionellen Organisation liege nur ein wenig im Bereich eines statistischen Fehlers. Zum Anlass für eine neue Welle von Kritik waren die Erklärungen von Nikol Paschinjan und Armeniens Parlamentschef Alen Simonjan geworden. So hatte sich der Premierminister an die Mitbürger aus Anlass des Tages der ersten Republik gewandt und erklärt, dass die Armenier keinerlei andere Heimat außer der, die sie bereits haben und durch die internationale Staatengemeinschaft anerkannt wurde, brauchen würden. „Seit dem Jahr 2020 haben wir, indem wir schwere Prüfungen durchgemacht haben, mit dem Preis des Lebens unserer gefallenen Helden die historische Möglichkeit erhalten, unsere Souveränität zu entwickeln, unsere Staatlichkeit zu realisieren und sie zu einer ewigen zu machen. Heute sind wir mehr als ein Staat als je zuvor, heute sind wir souveräner als je zuvor, heute sind wir unabhängiger als je zuvor“, unterstrich Paschinjan. Dabei erinnerte er daran, dass Jerewan der Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit Aserbaidschan nahe sei, mit der Türkei Beziehungen anbahne sowie eine strategische Partnerschaft mit Russland, China, dem Iran, der EU und den USA entwickle. „Frieden und Sicherheit werden zu langfristigen Begleitern der Republik Armenien. Es wird keinen Krieg geben, es wird Frieden geben“, resümierte Paschinjan. Simonjan berichtete seinerseits, dass der Friedensvertrag mit Aserbaidschan den Armeniern erlauben werde, in Baku zu leben und mit den Aserbaidschanern Handel zu treiben. Dafür müssten sie aber die revanchistischen Einstellungen aufgeben. „Hören Sie auf, in der eigenen Welt zu leben, der von Lehrbüchern über die Geschichte Armenien, so, als würden alle übrigen unwichtige Völker sein, denn als wir, die Armenier, die Duduk hatten und wir Aprikosen anbauten, lebten die anderen Völker auf Bäumen. Geben Sie solch eine Herangehensweise auf, vernichten Sie nicht Armenien und seine Zukunft… Wenn der Friedensvertrag abgeschlossen wird, werden die Armenier in Baku leben können. Die anderen werden in jene Dörfer auf dem Territorium Armeniens zurückkehren können, in denen sie einst gelebt hatten. Wie leben heutzutage die Armenier in Georgien? Entsprechend der gleichen Logik“, sagte der Parlamentsvorsitzende. Als Antwort hat jener Teil der Opposition begonnen, der sich um die früheren Präsidenten Armeniens Sersch Sargsjan und Robert Kotscharjan zusammengeschlossen hat, der Regierung einen neuen Akt von Nationalverrat vorzuwerfen. Der Abgeordnete vom Block „Armenien“, Ischkhan Sagateljan, erklärte beispielsweise, dass Simonjan nicht über alle Armenier gesprochen hätte, sondern über sich persönlich. „Nach dem Machtwechsel ist der einzige Ort, an dem Simonjan leben kann, Baku“, sagte der Politiker. Derweil zeigen öffentliche Meinungsumfragen, dass Paschinjan und seine Partei „Bürgervertrag“ (BV) die populärste politische Kraft des Landes bleiben. So erklärt das Kaukasus-Zentrum für Forschungsressourcen, dass BV im Jahr 2019 eine unbedingte Unterstützung von 35 Prozent der Wähler genoss, im Jahr 2021 – von 22 Prozent und im Jahr 2024 – von 15 Prozent. Somit hat sich innerhalb von fünf Jahren das Rating der Partei beinahe halbiert. Aber unter Berücksichtigung der erfolgten Ereignisse kann man dies noch immer als ein nicht schlechtes Ergebnis ansehen. Zum Vergleich: Für die Opposition ist die Lage weitaus schlechter. Im Jahr 2021, auf der Welle der Niederlage im Zweiten Bergkarabach-Krieg hatte der Block „Armenien“ von Robert Kotscharjan eine Unterstützung von acht Prozent der Wähler. Und im vergangenen Jahr vertrauten ihm nur noch vier Prozent. An dritte Stelle liegt die Partei „Blühendes Armenien“ des Oligarchen Gagik Zarukjan, der Jahr ein, Jahr aus etwa vier Prozent der Wähler vertrauen. Die übrigen politischen Kräfte genießen im besten Fall bei zwei bis drei Prozent der Befragten Popularität. Laut Angaben von Soziologen hätten im Jahr 2024 55 Prozent der Einwohner Armeniens nicht eine der aktiven politischen Kräfte unterstützt. Dabei waren es in den Jahren 2019 und 2021 noch 42 bzw. 43 Prozent gewesen. Der Leiter der armenischen Filiale des Instituts für die GUS-Länder, Alexander Markarow, erzählte der „NG“, dass die Partei „Bürgervertrag“ objektiv die politische Hauptkraft des Landes sei, die im Parlament die Mehrheit besitze und die exekutive Gewalt wahrnehme. Ihrerseits würde sich die Opposition auf eine negative Agenda konzentrieren, könne sich aber nicht vereinigen. „Für die Gegner von Paschinjan ist wenig Zeit geblieben, um eine Agitationskampagne für eine Teilnahme an den Parlamentswahlen im Jahr 2026 zu beginnen. Dabei ist BV natürlich wohl kaum mit 15 Prozent einer Unterstützung zufrieden. Doch die Startpositionen sind für sie etwas besser. Bisher ist es verfrüht, eine Prognose anzustellen. Im kommenden Jahr hat die regierende Partei aber die Chance, eine Koalitionsregierung zu bilden oder ganz und gar die Mehrheit zu erlangen. Vieles wird von der Wahlbeteiligung abhängen. Die Opposition hofft, den Erfolg von Gjumri zu wiederholen, wo die unterschiedlichen Parteien einzeln auf weniger Stimmen als BV gekommen waren. Aber zusammen vermochten sie eine Mehrheit zu bilden“, sagte Markarow. Nach Aussagen des Experten würden es viele Wähler ablehnen, für die Opposition aufgrund der Führer zu stimmen, in deren Hinsicht sie immer noch größere Beanstandungen als gegenüber Paschinjan hätten. Zur gleichen Zeit bestehe aber in der Gesellschaft das Bedürfnis nach einer „dritten Kraft“, das aber vorerst nicht realisiert werden könne. Im Jahr 2024 hatte Erzbischof Bagrat Anspruch auf diese Rolle erhoben, aber die von ihm losgetretene Protestwelle hatte zu nichts geführt. Und heute wird er wohl kaum seine Bewegung wiederbeleben können. „Der Rückgang des Ratings von BV ist ein natürlicher Prozess, den die Regimes in der ganzen Welt durchlaufen, darunter in Europa. In Armenien wird aber die Situation durch die Herausforderungen im Bereich der Sicherheit belastet. Dabei muss man betonen, dass die regierende Partei die beispiellose Popularität des Jahres 2018 nicht auszunutzen vermochte. Der gesamte Vertrauenskredit wurde für die Wahl der Abgeordneten ins Parlament aufgebracht, die nicht gegenüber ihren Wählern, sondern gegenüber dem Parteichef loyal sind. Vom Wesen her kehrt Armenien zu einer für sich normalen Konfiguration zurück: einerseits sind da die schwach legitimen Herrschenden, andererseits ist da genauso eine schwache und überdies zersplitterte Opposition“, erklärte der „NG“ der Leiter des Kaukasus-Instituts, Alexander Iskandarjan.