Die Jahresbotschaft von Wladimir Putin vom 21. Februar strotzt vor Begriffen, Termini und Phrasen, die den heutigen Westen als einen absolut inakzeptablen Partner – vor allem aufgrund moralisch-ethischer Gründe – charakterisieren. „Fälschung“, „gemeine Lüge“, „Wortbruch“, „diplomatisches Spektakel“, „Bluff“, „Gewissenlosigkeit“, „Doppelzüngigkeit“ und „Heuchelei“. Und als zusammenfassendes Ergebnis: „Der Begriff von Ehre, Vertrauen und Anständigkeit existiert für sie nicht“, „die westlichen Eliten haben sich in ein Symbol einer totalen prinzipienlose Lüge verwandelt“.
Der Präsident begründete, warum er gerade im Februar vergangenen Jahres die militärische Sonderoperation begonnen hatte. „Die eingehenden Informationen ließen keine Zweifel, dass zum Februar des Jahres 2022 alles für eine weitere blutige Strafaktion im Donbass bereit gewesen war, gegen den – es sei daran erinnert – das Kiewer Regime bereits 2014 sowohl Artillerie als auch Panzer und Flugzeuge eingesetzt hatte“. Putin formulierte die Vermutung: „Das nächste Ziel ist ein Schlag gegen die Krim und Sewastopol. Und wir hatten dies gewusst und begriffen“.
Es ist völlig offensichtlich, dass es bei solch einer Beurteilung des Gegners eine Utopie sein wird, mit einem Erfolg bei irgendwelchen Verhandlungen und einer Vermittlung zu rechnen. Wenn es kein Vertrauen mit dem Beiwort „ganz und gar“ gibt, kann nichts eine Garantie für die Umsetzung übernommener Verpflichtungen sein. Das ist traurig.
Andererseits, wenn man sich die entscheidenden Besorgnisse Putins von vor einem Jahr in den Fragen der nationalen Sicherheit Russlands anschaut, so ist es offensichtlich, dass nicht eine von ihnen überwunden worden ist. Es sei daran erinnert, dass das Verzeichnis der entscheidenden Risiken für die Russische Föderation sowohl vor einem Jahr als auch heute im Verständnis Putins ein unverändertes geblieben ist.
Putin ist, wie es scheint, absolut davon überzeugt, dass die nationalen strategischen Interessen nicht davon abhängen würden, wer in Russland an der Macht ist – Zar Nikolai II., die Generalsekretäre Stalin oder Breschnew, die Präsidenten Gorbatschow, Jelzin oder Putin. Das nationale Interesse Russlands ist ein ständiges, die Sicherheit. Die Osterweiterung der NATO ist eine offensichtliche Bedrohung für die Sicherheit.
Putin hat 15 Jahre lang die Aufmerksamkeit auf diese Frage in den Gesprächen mit westlichen Kollegen gelenkt. Aber man ignorierte seine Argumente.
Die russische Bevölkerung wurde in ihren Rechten auf eine kulturelle und sprachliche Besonderheit eingeschränkt. Putin vermochte nicht zu begreifen, warum man die Rechte der sexuellen Minderheiten und Pelztiere verteidigen müsse, die Rechte der Russen aber nicht. Gerade da bildet sich die moralische Haltung des 70jährigen Putins heraus. Kameraden im Stich zu lassen, bedeutet Schande und Scham. Sie um jeglichen Preis zu verteidigen, ist eine Ehre und ein Stolz.
Putin hatte irgendwie einmal gesagt, dass, wenn es nicht die Ambitionen der NATO gegeben hätte, die Ukraine in ihre Strukturen zu absorbieren, so hätte er sich nicht einmal sowohl über die Krim als auch ganz zu schweigen vom Donbass Sorgen gemacht. Er verwies auf die einst normalen Beziehungen mit den prowestlichen Spitzenvertretern der Ukraine Viktor Justschenko und Julia Timoschenko. So lange der Westen nicht die aktive Phase der Transformierung der Ukraine in ein Anti-Russland, wie sich Putin ausdrückte, begann.
Ein überaus wichtiger Faktor, der das Vertrauen zwischen Russland und dem Westen zerstörte, waren der „prinzipielle Zynismus“, „Ungerechtigkeit“ und eine Gruppen-Ehrlosigkeit des Westens“, die sich akut in den aus Moskauer Sicht unbegründeten Sanktionen offenbarten, die sich aus erfundenen Anschuldigungen hinsichtlich der sogenannten „Russian collusion“ (deutsch: „russische Absprache“) bei einer Unterstützung von Donald Trump ergeben hatten. Jeglicher Kontakt mit Russen wurde von den Main-Stream-Medien als ein Schuldbeweis ausgelegt. An die Stelle von Informationen kam die Propaganda. Ein Russe zu sein, wurde verdächtig. Ein Ausländer zu sein, bedeutete, „feindlich“ zu sein. Russlands Bürger nahm man die Unschuldsvermutung weg.
Putin ist davon überzeugt, dass Russland, ausgehend vom Maßstab und dem spezifischen Charakter der Probleme in den Beziehungen mit den Nachbarn (14 angrenzende Staaten), unter keinerlei Umständen Fragen seiner Souveränität an übernationale Organisationen und deren Mitglieder delegieren könne. Kurz gesagt: Die Stimme Estlands oder Litauens kann die Entscheidungen Russlands in der Außenpolitik beeinflussen. Er ist überzeugt, dass Russland wie die USA und China eine uneingeschränkte Souveränität beim Treffen aller Entscheidungen besitzen müsse. „Souveränität“ als eine Kategorie ist für Putin unvergleichlich wichtiger als die Kategorien „Freiheit“ und „Demokratie“. Aus dieser Logik ergeben sich alle Entscheidungen der letzten Jahre hinsichtlich eines Aussteigens Russlands aus den internationalen Verpflichtungen, die durch Jelzin und den frühen Putin übernommen worden waren.
Putin will eine Anerkennung der ausschließlichen geopolitischen Interessen Russlands. Unter anderem besteht er in den Fragen nach der eigenen Sicherheit auf das Recht, die NATO von seinen Grenzen wegzurücken. Zumindest aus dem Raum der einstigen Sowjetunion. Dieses Recht Russlands soll über dem Recht der Nachbarstaaten, dort beizutreten, wo sie es wollen, dominieren. Dies sind gewisse Elemente einer „Doktrin der eingeschränkten Souveränität“ aus der Breschnew-Ära.
Putin erkennt nicht die gewohnte, aber juristisch verschwommene Konzeption von einer „Ordnung, die auf Regeln beruht“ (rules based order) an. Er sagt, dass Russland diese Regeln (rules) nicht verstehe. Es habe nicht an der Ausarbeitung dieser Regeln teilgenommen und werde sie nicht befolgen. Er ist überzeugt, dass der Frieden von Jalta und Potsdam aufgrund der ununterbrochenen Verstöße gegen das Völkerrecht und der UNO-Charta durch die Länder des Westens endete. Als Beispiel führt er das Bombardement von Belgrad, dem Irak, von Libyen und Kosovo an.
Im vergangenen Jahr hat keiner auch nur einmal im Westen die Berechtigung zumindest einer der Besorgnisse Putins – von Russlands Staatsoberhaupt – anerkannt. So, als ob alles müßige und grundlose Erfindungen des Präsidenten der Russischen Föderation seien. Die Erweiterung der NATO sei normal. Die Verringerung der Anflugzeit amerikanischer Raketen – was wollen Sie denn? Die finanzielle und informationsseitige Unterstützung für die Feinde Putins in Russland sei ein legitimes Recht. Das Schikanieren von Russen, der russische Sprache und Kultur sei ein legitimer Kampf gegen Separatismus.
Unter solchen Bedingungen ist ein Abgehen Putins von den „Ideen des 24. Februar“ nicht zu erwarten.
Wir akzentuieren die Aufmerksamkeit auf diese Momente, um den Ausgangswiderspruch zwischen Putin und dem Westen zu unterstreichen. Für Putin sind diese Probleme die wichtigsten für ein Überleben Russlands als eine Zivilisation. Für den Westen aber ist dies lediglich ein Vorwand für die Schaffung einer UdSSR-2.
Solange im Kreml und „Kreml-Umfeld“ die Menschen an der Macht bleiben und reproduziert werden, die das Spektrum der existenzialistischen Risiken Putins teilen, wird es dem Westen nicht gelingen, den Konflikt zu normalisieren.
Es sei daran erinnert, dass ein Kompromiss in Verhandlungen das Suchen nach einer zweiten besten Lösung ist. Einer zweiten! Mit der ersten besten werden sich die Seiten an den Verhandlungstisch setzen. Bisher war nichts von einem Kompromiss zu hören. Kiew ist bereit, sich erst nach der Rückkehr Russlands zu den Grenzen von 1991 an den Verhandlungstisch zu setzen. Russland besteht aber auf eine Realisierung aller erklärten Ziele der militärischen Sonderoperation.
Der Wirtschaftsteil der Jahresbotschaft Putins skizzierte faktisch Konturen für eine künftige Entwicklung Russlands ohne ausländische Finanzen und Märkte, mit einem Setzen auf eigene Technologien, Ideen und Möglichkeiten. Ja, und man müsse auch in seinem eigenen Land leben, wenn du nicht nach der Pfeife ausländischer Interessen tanzen willst. Die Überwindung des Offshorings des Kapitals geht jetzt in eine Überwindung des Offshorings der Eliten im weiten Sinne des Begriffs über.
Umrissen hat Putin auch ein Übungs- bzw. Trainingsgelände für die künftigen russischen Eliten – die Teilnahme an der militärischen Sonderoperation.
Folglich scheint die Prognose jener, die die Ereignisse des vergangenen Jahres als einen Wendepunkt in der heutigen Geschichte Russlands ähnlich der Oktoberrevolution ansehen, eine realistische zu sein. Die Mauer zwischen Russland und dem Westen ist bereits von solch einer Höhe, und der Grad der Monopolisierung der Macht ist noch höher. Das Niveau des Edelmuts der Ziele der Konfrontation des Westens ist cooler als bei den Bolschewiken. Nicht die Errichtung irgendeines unverständlichen Kommunismus, sondern eine Verteidigung der Werte heiliger Schriften. Gleich aller. Und einen Schutz der Kinder „vor einer Degradierung und Entartung“. Wer wird aber gegen dies auftreten?! Nur die Sendboten des Satans…