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Die Erinnerungen an das Genozid des weißrussischen Volkes nutzt man im politischen Kampf aus


Das traurige Datum des 22. Junis, des Tages, an dem vor 81 Jahren der Große Vaterländische Krieg begann, ist in Weißrussland mit einer Vielzahl von Gedenkveranstaltungen begangen worden. Historiker entwickeln aktiv das Thema des Genozids des weißrussischen Volkes. Ab 1. September wird in den Schulen und Hochschulen ein neues fakultatives Lehrfach auftauchen, das speziell diesem Thema gewidmet sein wird. Offizielle Politologen setzen derweil die Tätigkeit der Oppositionellen den Verbrechen der Nazis gleich. Und derweil veranstalten die Gegner von Alexander Lukaschenko eine großangelegte Konferenz in Brüssel.

In Weißrussland wurden dem traurigen Datum des Beginns des Großen Vaterländischen Krieges eine Vielzahl von Veranstaltungen gewidmet, die im ganzen Land stattfanden. Zu ihrem Höhepunkt wurden ein nächtliches Konzert-Requiem des Staatlichen akademischen Sinfonieorchesters Weißrusslands in der Brester Festung sowie im Anschluss ein Meeting und eine Zeremonie zum Niederlegen von Blumen an der Ewigen Flamme und an den Gedenktafeln des Nekropols.

In einer Sonderbotschaft an das Volk erklärte Alexander Lukaschenko: „Mehr als ein Jahr untersucht die Generalstaatsanwaltschaft den Fall des Genozids des weißrussischen Volkes, wobei immer neue Orte von Massengräbern von Menschen – erschossenen, erhängten, bei lebendigem Leibe verbrannten – entdeckt werden.

Viele im Westen würden gern die Gräueltaten vergessen, die ihre Väter und Großväter auf unserem Boden verübten. Sie haben bereits die Kriegsgeschichte in ihren Lehrbüchern umgeschrieben, haben die große Heldentat des Sowjetsoldaten dem Vergessen preisgegeben, der mit seinem Blut für die Freiheit und das Leben der Völker Europas gezahlt hat. Nun hat man es auf unsere historischen Erinnerungen abgesehen“.

Der Präsident erinnerte auch an die Verantwortung der Kollaborateure: „Belarus erinnert sich an alle Helden und unschuldigen Opfer jenes Krieges. Es erinnert sich auch an die Namen jener, die mit den Kriegsverbrechern zusammenarbeiteten und an den blutigen Strafaktionen gegen die Bevölkerung teilnahmen“.

Die weißrussischen Offiziellen ziehe eine direkte Linie hinsichtlich der Kontinuität zwischen den heutigen Anhängern der Opposition, die unter der weiß-rot-weißen Flagge auftreten, und den Komplizen der Nazis.

Ab dem 1. September wird in den Schulen und Hochschulen ein neues fakultatives Lehrfach „über den Genozid des weißrussischen Volkes“ eingeführt. Das oppositionelle Internetportal „Malanka-Media“ kommentierte diese Neuerung so: „Der stellvertretende Bildungsminister Sergej Rudyj ist sich gewiss, dass man den Kindern „die Wahrheit vermitteln“ und ihnen „helfen“ müsse, eine Ursache-Folge-Verbindung zwischen dem Jahr 2020 und dem Zweiten Weltkrieg herzustellen. Übrigens, der fakultative Lehrgang wird ein zusätzlicher Teil zur Geschichte von Belarus sein. Und Fragen über den Großen Vaterländischen Krieg werden in jeden Fragenkomplex bei den Prüfungen aufgenommen. Jetzt wird man für eine Beleidigung der weißrussischen Opposition eine gute Bewertung erhalten können“.

Seinerseits kommentierte die Aktualität des Themas aus der Sicht der Herrschenden der Leiter der Abteilung für Soziologie und Staatsverwaltung des Instituts für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften, Nikolaj Stschekin, so gegenüber der staatlichen weißrussischen Nachrichtenagentur BELTA: „Heute sind die Anstrengungen des ganzen kollektiven Westens auf eine Neucodierung des mentalen und Zivilisationscodes der Weißrussen ausgerichtet. Ich denke, dass man die psychologischen und Informationsattacken auf die Bürger von Belarus, das Verleumden und Verfolgen von Menschen wegen ihrer staatspatriotischen Haltung seitens der Verräter und politischen Eliten sowie über die Geheimdienste der gegenüber uns unfreundlichen Länder gleichfalls als einen Genozid der Weißrussen ansehen kann. Man versucht, uns mit den Brudervölkern zu entzweien und die historischen Erinnerungen zu nehmen“.

Derweil hat buchstäblich am Vorabend des traurigen Jahrestages, am 21. Juni, in Brüssel das Kastus-Kalinouski-Forum stattgefunden. Zuvor war diese Veranstaltung zweimal in Litauen durchgeführt worden. Nun aber hatte sich dessen Status offenkundig erhöht. Beim Forum traten sowohl „flüchtige“ (so bezeichnet Lukaschenko die weißrussischen Politemigranten) als auch europäische Politiker auf.

Die Konferenz eröffnete eine Videoansprache von Polens Premierminister Mateusz Morawiecki. Er erklärte, dass vor zwei Jahren in Weißrussland ein Prozess begonnen hätte, den man nicht stoppen könne. „Das weißrussische Volk ist zu Veränderungen bereit“, betonte er. Und er unterstrich: „Man muss die Weißrussen unterstützen, jene, die gezwungen sind, ihr Land zu verlassen, und jene, die unter dem autoritären Regime Lukaschenkos leben. Man muss helfen, damit die freien Weißrussen in der internationalen Arena sichtbare bleiben. Wir wollen, dass Sie ein wichtiger Teil der euro-atlantischen Familie bleiben. Ich sehe, dass dies keine leichte Sache ist. Aber bei meinen Begegnungen mit den weißrussischen Anführern der demokratischen Opposition und einfachen Bürgern spüre ich solch eine Zielstrebigkeit und Entschlossenheit, dass ich nicht bezweifele, dass wir wie nie zuvor der Realisierung des Willens von Kalinouski und der Befreiung aller Völker in unserer Region nahe sind“.

Und die Anführerin der weißrussischen Opposition Swetlana Tichanowskaja unterstrich in einer Rede: „Jetzt, da die EU eine Entscheidung über neue Kandidaten fällt, ist der Moment gekommen, in einem Dokument die europäische Perspektive für Belarus zu skizzieren. Wir müssen eine Diskussion über Formen der Zusammenarbeit zwischen dem weißrussischen Volk und der Europäischen Union beginnen“.

Ihr Kampfgefährte Pawel Latuschko erklärte seinerseits, dass die meisten Weißrussen die europäische Entscheidung für ihr Land unterstützen würden. Er unterstrich: „Die Weißrussen haben begriffen, dass nicht die Nachbarschaft mit Russland unsere Zivilisationsentscheidung bestimmt“.

Somit ist offenkundig, dass der Kampf zwischen Alexander Lukaschenko und dessen Anhängern einerseits und der Opposition andererseits bei weitem keine rein politische Auseinandersetzung ist. Beide Seiten beharren darauf, dass jede von ihnen eine durchaus bestimmte Zivilisationsentscheidung repräsentiere.

Allerdings ist Alexander Lukaschenko selbst davon überzeugt, dass er praktisch einen Sieg errungen habe. Gerade am Tag der Durchführung des Kalinouski-Forums sprach er sich selbstsicher hinsichtlich der Perspektiven der „Flüchtigen“ aus: „Sie sind ins Ausland gerannt. Heute aber wollen 95 Prozent zurückkehren (sie schreiben schon offen darüber): „Ja, wenn Alexander Grigorjewitsch vergeben und die Grenze öffnen würde…“ 95 Prozent würden zurückkehren. Ich bin nicht dagegen. Der eine ins Gefängnis, ein anderer sonst noch wohin, was er verdient hat. Man muss zurückkehren. Sie werden da nicht Fuß fassen“.