Die Migrantenkrise an der Grenze Weißrusslands und der EU wird schwächer. Die europäischen Diplomaten haben es zu erreichen vermocht, dass die Zufuhr potenzieller Illegale eingestellt wurde. Und es haben Evakuierungsflüge aus Weißrussland begonnen. Alexander Lukaschenko versucht derweil, jene von ihnen zu mobilisieren, die vorerst noch in der Republik bleiben werden, damit die Spannungen noch für einige Zeit andauern.
Am Montag sollte bereits der sechste Evakuierungsflug in den Irak, der von den Behörden dieses Landes organisiert wurde, abgewickelt werden. Mit Stand vom Sonntag hatten über 1800 irakische „Touristen“ Weißrussland verlassen, die eigentlich die Absicht gehabt hatten, von dort aus illegal auf das Territorium der EU zu gelangen. Geplant ist ein Flug auch für den 30. November. Bisher geht es nicht darum, dass alle sich in Weißrussland aufhaltenden Illegalen aus dem Nahen Osten bereit sind, nach Hause zu fliegen. Zuvor hatten die Weißrussen gesagt, dass es insgesamt von diesen um die 7.000 auf dem Landesterritorium gebe. Laut Schätzungen der polnischen Seite könnten es derer mindestens zweimal mehr sein. Unmittelbar an der Grenze könnten sich etwa 3.000 bis 4.000 Migranten befinden. Solche Zahlen hatten in der vergangenen Woche polnische Grenzer genannt. Im eigentlichen Lager, das durch die Behörden Weißrusslands in einem Logistik-Zentrum unweit der Grenzübergangsstelle Bruzgi organisiert wurde, befinden sich um die 2.000 Menschen.
Am vergangenen Freitag besuchte Alexander Lukaschenko überraschend das Migrantenlager. Er versprach, dass er sie, soweit dies möglich sei, hinsichtlich der Idee, in die EU zu gelangen, zu unterstützen. „Wir Weißrussen, und unter anderem auch ich, werden alles so tun, wie Sie wünschen, selbst wenn es für die Polen, Letten und sonst noch wen schlecht sein wird“, sagte er. „Ja, Flugzeuge fliegen in Ihre Heimat. Und Sie können diese Möglichkeit nutzen und heimfliegen. „Ich möchte aber, dass Sie wissen: Wir werden Sie auf keinen Fall festnehmen, in die Flugzeuge setzen und in die Heimat schicken, wenn Sie dies nicht wollen“, sicherte er zu.
Die weißrussischen Grenzer werden auch nicht die Versuche der Migranten, in die EU durchzubrechen, unterbinden. „Wenn Sie in die westliche Richtung gehen wollen, so werden wir Sie nicht würgen, ergreifen und schlagen. Dies ist Ihr Wille. Kommen Sie – gehen Sie“, munterte Lukaschenko die Bewohner des Lagers in Bruzgi auf. Mehr noch, er deutete an, dass das Ziel, in die EU zu gelangen, durchaus erreichbar sei. „Laut Angaben der Polen und anderen Offiziellen der angrenzenden Länder gelangen derzeit täglich bis zu 200 Menschen auf das Territorium Polens, Litauens und Lettlands“, erzählte er. „Aus Ihrem Lager möglicherweise zehn Menschen (die nach Polen gelangten)“, weckte Lukaschenko Hoffnungen. Dabei jammerte er, dass er „keinen Krieg anzetteln kann“, „um Ihnen einen Korridor durch Polen nach Deutschland zu bahnen“.
„Faktisch hat man den Transit unterbrochen. Neue Migranten tauchen nicht auf. Mehr noch, die „alten“ fangen an, nach Hause zurückzukehren. Lukaschenko ist sozusagen eben diese eine Karte in Gestalt der 2.000 Flüchtlinge in den Händen geblieben, die sich an der Grenze, in dem Lager befinden. Man musste sie irgendwie kapitalisieren. Ja, und Lukaschenko hat da seine Reputation als Spieleinsatz aufgeboten. Er ist selbst dorthin gekommen, um sie zu verabschieden, um sie zu überreden, dass sie nicht weggehen“, charakterisierte der Politologe Valerij Karbalewitsch die Situation und den Sinn des Besuchs von Lukaschenko in dem Migrantenlager. Der Experte unterstrich, dass es kein Verdienst von Lukaschenko sei, dass der Spannungsgrad an der Grenze nachgelassen hat. „Die Migrantenkrise geht zur Neige, weil die Europäische Union begonnen hat, ernsthaft mit den Regierungen und Fluggesellschaften der Länder des Nahen Ostens zu sprechen, die die Migranten nach Belarus bringen“, sagte er der „NG“.
Allerdings hat Alexander Lukaschenko, der die Situation begreift, der EU angedroht, dass sie sich zu früh freuen würden und er für sie neue Migranten finden würde. „Wenn wir nicht jetzt in Belarus das Flüchtlingsproblem lösen, wird es nicht nur im Frühjahr um Einiges stärker werden, sondern auch im Winter. Wir verstehen, dass eine gewaltige Menge von Flüchtlingen hierher strömt. Und es wird unmöglich sein, sie an der Grenze aufzuhalten“, erklärte er. „Sie werden das Problem um eine Ordnung größer erhalten“. „Wenn die Afghanen hierher strömen werden, unter anderem auch über die Ukraine – und Sie wissen, dass man dort jeden Beliebigen für jegliche Kopeke durchlässt -, so wird Europa Wasser saufen gehen“, ist sich Lukaschenko gewiss. Er ist der Auffassung, dass die Schließung des Flugverkehrs diese Pläne nicht beeinflusse, da die Migranten „den Landweg“ über die Ukraine und Russland nehmen würden.
Die Absicht von Alexander Lukaschenko, Europa Angst zu machen, sei verständlich, aber wohl kaum realisierbar, meint Valerij Karbalewitsch. „Ich denke nicht, dass dies möglich ist. Dies ist ein „Schreckgespenst“. Und mehr nicht. Selbst wenn sie den Landweg nehmen werden, werden sie dennoch über Belarus gehen, auch wenn es weitaus kürzere Wege gibt“, sagte der Experte der „NG“.
Einheimische Analytiker nehmen an, dass der Lager-Besuch Lukaschenkos eine gewisse Wirkung haben werde. Und nicht alle, die sich heute dort oder in der Nähe befinden, wollen in die Heimat zurückkehren. Viele Lagerbewohner erklären, dass sie unter keinerlei Umständen nach Hause zurückkehren und im äußersten Falle versuchen würden, in Weißrussland zu bleiben, um dann, wenn sich eine günstigere Situation ergibt, erneut den Versuch zu unternehmen, in die EU zu gelangen. Dies bedeutet, dass die Krise an der Grenze zwar an Brisanz verloren hat, doch die verbliebenen potenziellen Grenzverletzer werden noch lange die Grenzer der europäischen Nachbarländer in Spannung halten.
Somit hat Europa vorerst der Erpressung mittels Migranten standgehalten und hat sich mit Lukaschenko nicht an den Verhandlungstisch gesetzt. Allerdings seien nach Meinung von Valerij Karbalewitsch die Anerkennung und die Aufhebung der Sanktionen das Maximalprogramm oder gar ein Traum gewesen. Die Ziele seien jedoch bescheidener gewesen. Und sie seien erreicht worden. „Lukaschenko hat in gewisser Weise in dieser Situation gewonnen. Erstens hat er sich doch an den Nachbarn gerächt. Er hat für sie wirklich ein ernsthaftes Problem geschaffen. Zweitens hat er moralische Befriedigung durch das Gespräch mit Merkel erhalten. Für ihn ist dies psychologisch wichtig. Drittens hat er ein weiteres Mal sich selbst dessen versichert, dass alle europäischen Politiker Schwächlinge seien. Außerdem ist es ihm gelungen, die Tagesordnung zu ändern. In der Welt diskutiert man nicht die Repressalien in Weißrussland, sondern die Krise mit den Migranten an der Grenze“, meint Valerij Karbalewitsch. Sanktionen gegen die Wirtschaft und aufgrund der Verletzungen auf dem Gebiet der Menschenrechte werden nicht verhängt und werden nicht einmal diskutiert. Das fünfte Sanktionspaket, dass man bereits am 1. Dezember bestätigen wolle, sei ausschließlich eine Bestrafung wegen der Migranten und nicht mehr, konstatiert der Experte.
Es sei daran erinnert, dass Europa mit dem fünften Sanktionspaket bereits seit Mitte des Sommers droht, sich aber nach wie vor nicht entschlossen hat, es in Kraft zu setzen. Mitte November, als es gebilligt werden sollte, hatte die EU in der Person der amtierenden deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel Verhandlungen mit Lukaschenko aufgenommen. Die offizielle Propaganda feierte bereits einen Sieg, doch bei einer Nachprüfung hat sich herausgestellt, dass es nur um eine, die „humanitäre“ Frage geht – um das Schicksal der Migranten, die wie Nomaden entlang der Grenze herumziehen. Wie Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis mitteilte, würden die Sanktionen doch gebilligt werden. Und dies könne bereits am 1. Dezember geschehen.
Polen und Litauen, die unter der Migrantenkrise leiden, lassen sich auch nicht davon täuschen, dass sie schon beendet sei. Am Wochenende hatte Litauens Präsident Gitanas Nausėda in Vilnius mit dem NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen die Situation an der Grenze erörtert. Es sei daran erinnert, dass Litauen und Polen dafür plädieren, dass der Artikel 4 des NATO-Statuts angewendet wird und die Allianz in die Situation eingreift, da eine Bedrohung für ihre Mitglieder – für Litauen und Polen – bestehe.