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Die Funktion Tichanowskajas – die Proteste anführen


Die weißrussische Gesellschaft wird jünger, neue Menschen rücken in sie auf und beginnen, den Protest bis zur Ablösung des Regimes von Alexander Lukaschenko zu unterstützen. Es wird fallen, in einem Monat oder zwei, in einem bis zwei Jahren. Doch das Ende ist bereits zu sehen. Wobei für alle, außer für Lukaschenko selbst. Er hofft nach wie vor, dass der ihn umgebende zehn Kilometer lange Elektro-Zaun retten werde. Dies ist aber eine Illusion. Man treibt die weißrussischen Proteste auseinander, wirft Aktivisten in die Gefängnisse, doch der Protest weitet sich ungeachtet dessen aus, wobei sich junge Menschen ihm anschließen, die ohne die Lukaschenko-Scheuklappen auf die Welt schauen und anders leben möchten. Wer wird sie stoppen? Schon keiner! Der Punkt, wo es keine Rückkehr mehr gibt, ist passiert worden. Weiter wird es nur eine Ausdehnung der Proteste geben. Solange sich das Land nicht in einer tiefen Wirtschaftskrise wiederfindet, die die Sanktionen der EU gegen Weißrussland und dessen Spitzenvertreter verstärken. Diese Variante einer Ausübung von Druck auf Lukaschenko wird schon diskutiert, konstatierte Jaroslaw Romantschuk, Direktor des weißrussischen Mises-Zentrums, gegenüber der „NG“. 

Seiner Meinung nach sei die gegenwärtige Führerin der weißrussischen Opposition Swetlana Tichanowskaja nur ein Symbol des Protests. Dies sei ihre Funktion. Doch während der Wahlen würden neue Menschen auftauchen, von denen die breite Öffentlichkeit heute nichts wisse. Eben sie würden auch Lukaschenko ablösen. Und bereits für immer. 

Derweil beginnt sich die Wirtschaftssituation in Weißrussland schon zu verschlechtern. Ab 1. Dezember werden im Land einige Renten ansteigen (dabei gehen die realen Auszahlungen nach wie vor zurück), werden die Zigaretten teurer. Ende Dezember müssen die Herrschenden die Frage hinsichtlich der Preise für einige sozial relevante Waren klären, unter denen Brot, Fleisch, Käse, Milch und Zucker sind. Sie besitzen ebenfalls die Tendenz zur Zunahme. Und in den Regionen hat man schon angefangen, die Fahrpreise für den öffentlichen Nahverkehr in den Orten und Vororten zu erhöhen. Und wahrscheinlich werden Anfang Dezember die verbliebenen Gebiete nachziehen. Die Internet-Nachrichtenagentur finance.tut.by hat sogar eine Zusammenstellung der Veränderungen des Dezembers, die die Dicke der Geldbörsen der Weißrussen beeinflussen können, vorbereitet. Die Gesamtsituation im Land werden auch die Sanktionen der Europäischen Union beeinflussen, die bereits erörtert werden. 

Dieser Tage votierten die Europa-Abgeordneten für die Annahme der Resolution, die die Situation in Weißrussland betrifft. 

Darin ist die Forderung nach einer schnellen, sorgfältigen, unvoreingenommenen und unabhängigen Untersuchung des Mords an Roman Bondarenko, der von Angehörigen der OMON (Spezialkräfte der Polizei – Anmerkung der Redaktion) in einem der Minsker Höfe zusammengeschlagen worden war. Aber auch der mit den Protesten zusammenhängenden Todesfälle von Alexander Taraikowskij, Alexander Wikhor, Artjom Parukow, Gennadij Schutow und Konstantin Schischmakow. 

Die Europarlamentarier riefen die EU-Kommission auf, die Hilfe für die unabhängigen Medien in Weißrussland aufzustocken, deren Bewahrung und Arbeit für eine objektive Darstellung der Ereignisse im Land sowohl für das Inlandspublikum als auch für die internationale Staatengemeinschaft notwendig seien. 

Dem Europäischen Auswärtigen Dienst wurde vorgeschlagen, eine volle Unterstützung der Anstrengungen seitens des UN-Menschenrechtsrates und des Moskauer OSZE-Mechanismus zu sichern, aber auch den Menschenrechtlern und Vertretern der Zivilgesellschaft Hilfe zu leisten, um eine Dokumentierung der Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu garantieren. 

Gleichfalls lenkten die Euro-Abgeordneten das Augenmerk auf die Korrektheit der Entscheidung des Rates, am dritten Paket von Sanktionen zu arbeiten, die gegen die Firmen und Oligarchen gerichtet sind, die Verbindungen mit Lukaschenko besitzen. Hintergrund dessen ist der Umstand, dass die Handlungen, die durch die EU und deren Mitgliedsländer unternommen werden, nach wie vor unwesentliche seien. Von daher der Aufruf zu einer Erweiterung der EU-Sanktionsliste. 

Vorgeschlagen wird, die Überweisungen der EU-Mittel für die weißrussische Regierung und der vom Staat kontrollierten Projekte inkl. der Anleihen der Europäischen Investitionsbank, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung u. a. auf Eis zu legen. Artikuliert wurde der Appell an den Europäischen Auswärtigen Dienst, die Verhandlungen über die Prioritäten einer Partnerschaft Weißrusslands und der EU bis zur Abhaltung freier und ehrlicher Präsidentschaftswahlen auszusetzen. 

Das Dokument ruft gleichfalls die EU-Kommission auf, verständliche, effektive und rechtzeitige restriktive Maßnahmen zu verabschieden – ein sogenanntes Dokument analog zum „Magnitsky Act“, das erlaubt, unverzüglich sie gegen jegliche Person, jegliches nichtstaatliches Subjekt, aber auch gegen jegliche andere Organisationen, die für ernsthafte Menschenrechtsverletzungen, Missbräuche und Korruption Verantwortung tragen, anzuwenden. 

Wenn die Sanktionen der EU verhängt werden, so werden sie Vertreter sowohl der weißrussischen als auch der russischen Wirtschaft tangieren. Der Experte Jaroslaw Romantschuk sagte der „NG“, dass in den Mechanismen zur Geldwäsche, beim Ölhandel und in anderen Bereichen das Business von Weißrussland und Russland arbeitete. Zusammen mit Lukaschenko wird auch die Zeit der Öl-, Geld- und anderen Schemas und Mechanismen der Vergangenheit anheimfallen, die durch weißrussische Oligarchen zusammen mit russischen geschaffen wurden, betonte Romantschuk. Es stehe aber alles erst bevor. 

Dieser Tage besuchte der russische Außenminister Sergej Lawrow Minsk. Er erklärte, dass die Länder des Westens sich gegenüber Russland und Weißrussland feindselig verhalten und versuchen würden, deren inneren Angelegenheiten zu beeinflussen.

„Natürlich haben wir auch über die Beziehungen gesprochen, die sich zwischen unseren Ländern und dem Westen — der NATO, der EU und den USA – gestalten. Wir sehen, es sei frank und frei gesagt, eine feindselige Haltung sowohl gegenüber Russland als auch gegenüber der Republik Belarus. Wir sehen Versuche, aktiv die inneren Prozesse in unseren Ländern zu beeinflussen. Im Grunde genommen machen die westlichen Spitzenvertreter auch keinen Hehl daraus“, sagte er. 

Laut Aussagen Lawrows hätten Russland und Weißrussland Instrumente, um sich vor den Handlungen des Westens zu schützen, der versuche, sich in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen.

Doch dem Westen zu antworten ist das eine, aber was mit der inneren Ablehnung der Gesellschaft, entsprechend den alten Gesetzen und Regeln zu leben, tun? Die ist ja nicht mit Kanonen zu erobern. Folglich muss man etwas radikal ändern. 

Lawrow betonte: „Belarus ist unser Verbündeter und strategischer Partner. Die Belorussen sind für uns ein Brudervolk. Und wir sind natürlich daran interessiert, dass die Situation in der Republik Belarus eine ruhige, eine stabile ist. Unserer Auffassung nach wird dies natürlich die auf Initiative der Landesführung begonnene Verfassungsreform als eine wichtige Etappe zur Vervollkommnung der Umgestaltungen im politischen, Wirtschafts- und Rechtssystem befördern, wie dies proklamiert wurde“. Der russische Außenminister widersprach den Fragen nach Kontakten Russlands mit der weißrussischen Opposition: „Ich möchte kurz antworten: Dies ist eine komplette Lüge“.

Mit der weißrussischen Opposition, die im Ausland sitzt, Verhandlungen zu führen, ist vielleicht auch unnütz. Doch mit den Kandidaten für das Präsidentenamt und deren Teams, die in Weißrussland an sich nach der Verfassungsreform und am Vorabend neuer Wahlen auftauchen werden, wird Moskau wohl reden müssen. Dies sind die neuen Herrschenden eines Landes, das bisher unser Verbündeter ist. Wir wollen doch nicht das Vertrauen eines neuen Landes verlieren, das an die Stelle des alten tritt. Wir müssen nebeneinander leben. Und wie? Dies ist eine Frage der Zukunft.