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Die Höchststrafe: „Können wir es wiederholen“*?


Im befreundeten Kasachstan ist die Todesstrafe aufgehoben worden, für die ab dem Jahr 2004 ein Moratorium galt. Die Aufhebung hatte eine der Verfassungsänderungen vorgesehen, die beim jüngst erfolgten Referendum (am 5. Juni – Anmerkung der Redaktion) gebilligt wurden. Dagegen erklingt in Russland lauter als gewöhnlich der auch so nie verstummende Chor der politischen Stimmen für eine Aufhebung des am Ende der 1990er eingeführten Moratoriums für die Anwendung der Höchststrafe. Die Daten einer Umfrage des Serviceportals für die Suche nach Arbeit SuperJob belegen, dass, während gegen die Todesstrafe 37 Prozent der Befragten eintreten, 43 Prozent sie unterstützen. Unter den Befragten im Alter von mehr als 45 Jahren ist der Anteil der Verfechter einer Todesstrafe größer als unter den Jugendlichen: 55 Prozent gegen 36 Prozent. Die Höchststrafe billigen häufiger Männer als Frauen: 48 Prozent gegen 34 Prozent. Alles in allem ist ein Übergewicht nicht zu übersehen, obgleich es auch kein kritisches ist.

Sprechen Sie mit jedem beliebigen derjenigen, die sich dessen sicher sind, dass eine Rückkehr der Höchststrafe zu einem langerwarteten Triumph der Gerechtigkeit werde, und Sie werden garantiert die These zu hören bekommen, dass ehrliche Bürger keine dreimalige Verpflegung für Ungeheuer aus dem Menschengeschlecht, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden sind, gewährleisten sollten. Wir seien auch nicht verpflichtet, mit unseren Steuern das kostspielige Sicherheitssystem zu bezahlen.

Politiker haben nicht das Recht, die Stimme des Volkes nicht zu erhören. Und sie vernehmen sie nicht bloß, sondern äußern auch ähnliche Ideen.

Der stellvertretende Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Staatsaufbau und Gesetzgebung, Jurij Sinelstschikow (KPRF), spricht mit Enthusiasmus darüber, dass uns von einer Rückkehr des höchsten Strafmaßes lediglich technische Hindernisse trennen würden. „Es gibt nur keine Zellen, wo man die Urteile vollstrecken würde, und keine, wie ich sie umschreiben würde, Henker“. Juristische Hindernisse würde es aus seiner Sicht nicht geben. „Es gibt bei uns im Land kein Moratorium für die Todesstrafe… Ein Moratorium hatte es einstmals, vor langem gegeben, als es das Verfassungsgericht einführte. Es hatte dies eingeführt, damit in allen Subjekten Geschworenengerichte eingeführt werden. Nunmehr sind in allen Regionen Geschworenengerichte etabliert worden. Die letzte war Tschetschenien. Daher ist das Moratorium beendet worden. Die Todesstrafe kann angewandt werden“.

Der neue LDPR-Chef und Vorsitzende des Duma-Ausschusses für internationale Angelegenheiten, Leonid Slutzkij, ist der Auffassung, dass die Meinung der Bürger berücksichtigt werden müsse und diese delikate Frage bei einem Referendum zur Abstimmung gebracht werden sollte. (Die Ergebnisse sind unschwer zu erraten.)

Einige Politiker sind der Annahme, dass für die Annahme der historischen Entscheidung ein Beschluss des Verfassungsgerichts gebraucht werde.

Ex-Präsident und Ex-Premier Dmitrij Medwedjew bezeichnete die Aussetzung von Russlands Mitgliedschaft im Europarat und der PACE „als eine gute Möglichkeit, um eine Reihe wichtiger Institute für die Verhinderung besonders schwerer Verbrechen im Land wiederherzustellen. Nach Meinung des heutigen stellvertretenden Leiters des russischen Sicherheitsrates schaffe Russlands Ausscheiden aus den internationalen Organisationen „keinen schlechten Anlass, um endlich die Tür zuzuschlagen und für immer dieser sinnlosen Wohltätigkeitseinrichtungen zu vergessen“. Offensichtlich meint er das Moratorium für die Todesstrafe, „die im Übrigen in den USA und China angewandt wird“ (aber auch in Weißrussland, das Medwedjew bewusst ausgeklammert hat – Anmerkung der Redaktion).

Medwedjew lügt nicht. Die Todesstrafe wird in der Volksrepublik China wirklich häufiger als in jedem beliebig anderen Land angewandt. Die offizielle Statistik weist keine genaue Zahl der Hingerichteten aus. Sie beläuft sich aber ungefähr auf 15.000 Menschen im Jahr. Die überwiegende Mehrheit der Fälle einer Höchststrafe wird in China aufgrund von Drogenhandel und Korruption in großen Umfängen angewandt.

In den Vereinigten Staaten wird die Todesstrafe in 27 Bundesstaaten praktiziert, das heißt in mehr als die Hälfte. Sie ist durch die föderale Gesetzgebung und die Gesetzgebung der Streitkräfte legitimiert worden. Eine Besonderheit ist das Koexistieren paralleler Jurisdiktionen auf föderaler Ebene und der Ebene einzelner Bundestaaten. Entsprechend der 8. Verfassungsänderung wird die Anwendung der Todesstrafe auf Mordfälle mit erschweren Umständen beschränkt, die von zurechnungsfähigen Volljährigen verübt worden sind. Im vergangenen Jahr sind in den USA elf Menschen hingerichtet worden.

Und jetzt Achtung: 4,1 Prozent oder jede 25. zum Tode verurteilte Person in den Vereinigten Staaten wird im Weiteren für unschuldig befunden. Und dies in einem Land, wo die Bürger nicht mit den russischen geflügelten Worten „Telefonrecht“ und „ein Geständnis ist die Herrscherin der Beweise“ vertraut sind. Und vor einigen Jahren veröffentlichtes das Nachrichtenmagazin „Newsweek“ einen Artikel, dessen Autor behauptete, dass der Wert von 4,1 Prozent lediglich die Untergrenze hinsichtlich der irrtümlichen Todesurteile sei.

Wir leben aber in Russland. Und für uns ist es interessanter, wie die Rückkehr der Todesstrafe unser Leben verändern wird. Der Vorsitzende von Russlands Untersuchungskomitee, Alexander Bastrykin, hatte Ende vergangenen Jahres mitgeteilt: Im Jahr 2021 seien durch die russischen Gerichte weniger als ein Prozent der Angeklagten freigesprochen worden.

Denken Sie, dass die Statistik hinsichtlich eines Freispruchs von Kandidaten für eine Todesstrafe eine andere sein wird?

Bei aller Härte einer lebenslänglichen Haft lässt sie einem ungerechterweise Verurteilten den geringen Hoffnungsschimmer, dass zumindest nach Jahren die Wahrheit triumphieren werde und er mit Entschuldigungen auf freien Fuß gelassen wird. Aber das Höchststrafmaß ist jenes Urteil, dass physisch nicht angefochten werden kann.

Außerdem reizt mich nicht die Perspektive des Entstehens einer Korporation professioneller Henker im Staatsdienst in Russland, deren Arbeitstaten aus den Geldbörsen der Steuerzahler finanziert werden. Ich bezweifele nicht, dass sich nicht wenige finden werden, die sich für einen würdigen Verdienst ordentlich dafür ins Zeug legen. Aber ich würde ungern in der Nachbarschaft mit einem Henker leben, mit ihm einen Fahrstuhl nutzen und Lebensmittel in ein und demselben Laden kaufen. Und Sie?

Eine Umfrage des staatlichen Meinungsforschungszentrums VTsIOM aus dem vergangenen Jahr zeigte, dass jeder dritte Bürger Russlands nicht den Mitarbeitern des Innenministeriums vertraut, 42 Prozent sehen in den Polizeibeamten Schmiergeldnehmer. Das Verhältnis gegenüber dem Gerichtssystem ist gleichfalls kein glänzendes. Rund 45 Prozent der Bürger Russlands sind sich sicher, dass die Gerichte oft ungerechte Entscheidungen treffen würden. Positiv bewertete die Arbeit des Gerichtssystems lediglich einer von vier Einwohnern des Landes. Solche Ergebnisse sind durch die Stiftung „Öffentliche Meinung“ vorgelegt worden. In der entsprechenden Studie wird gleichfalls betont: Mehr als die Hälfte der Bürger Russlands (51 Prozent) sind der Meinung, dass die Mehrheit der Richter Bestechungsgelder annehmen würden. Vom Gegenteil sind nur halb so viele Teilnehmer der Umfrage überzeugt.

Wie solch eine Haltung gegenüber dem Rechtsschutz- und Gerichtssystem im Massenbewusstsein mit dem Wunsch harmoniert, die Todesstrafe wiederherzustellen, ist unbegreiflich. In einer jüngsten Untersuchung des in Moskau ansässigen Levada-Zentrums, das in der Russischen Föderation mit dem Status eines ausländischen Agenten gelabelt wurde, wird betont, dass auf die Frage „Fühlen Sie sich unter dem Schutz des Gesetzes?“ 46 Prozent der Bürger Russlands positiv antworten, und genau so viele – negativ. Dabei nimmt unter jenen, die persönlich Polizei- und Justizwillkür zu spüren bekommen haben, der Anteil der Optimisten ab und liegt bei etwa 30 Prozent. Die Zahl der Unzufrieden nimmt zu und erreichte 63 Prozent.

Seit den Zeiten des Serienmörders (Andrej) Tschikatilo, dem zwischen 1978 und 1990 nachweislich 53 Menschen in der einstigen Sowjetunion zum Opfer fielen und der internationale Bekanntheit erlangte, nach dem lange gesucht worden war und für den auch unschuldige Menschen zur Höchststrafe verurteilt und hingerichtet wurden, hat sich die Zahl der Triebtäter-Psychopathen im Land nicht verringert und das Vertrauen gegenüber den Vertretern der Rechtsschutzorgane und Richtern nicht zugenommen. Vielleicht sollte man sich nicht mit einer Rückkehr der legendären „Höchststrafe“ ins Alltagsleben beeilen? Im vergangenen Jahrhundert ist der Plan für Erschießungen in Russland erfüllt und übererfüllt worden.

  1. S.

Angeheizt wird die Diskussion um die Todesstrafe in Russland auch durch die Ereignisse in den Donbass-Republiken. Dort sind jüngst vom Obersten Gericht der Donezker Volksrepublik drei Ausländer – zwei Briten und ein 21jähriger Marokkaner – zum Tode verurteilt worden, da sie auf der Seite der ukrainischen Streitkräfte gegen die DVR gekämpft hatten. Innerhalb eines Monats kann das Urteil angefochten werden, wobei bisher weder aus London noch aus Rabat Anstrengungen auszumachen sind, um den Männern zu helfen (laut Angaben des russischen Außenministeriums). Derweil ist der Vorsitzende des russischen Unterhauses, Wjatscheslaw Wolodin (Kremlpartei „Einiges Russland“), der Meinung, dass die Norm über die Todesstrafe in der Gesetzgebung der DVR beibehalten werden sollte. Dies sei unter den Bedingungen der Kriegszeit besonders aktuell. Auf Telegram schrieb er am Mittwoch dazu: „Wer die Befehle erteilt, auf friedliche Menschen zu schießen, und wer sie erfüllt, müssen verstehen, dass sie ein Verbrechen begehen. Und die Bestrafung dafür wird die strengste sein“.

 

* Phrase, die im Mai 1945 von einem der Sowjetsoldaten an die Mauern des Reichstags geschrieben worden war und nach den Krimereignisse des Jahres 2014 wieder erneut in den Umlauf gebracht wurde.