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Die Inventarisierung von Verträgen läuft auf Hochtouren


Im Verlauf der Regierungsfragestunde in der Staatsduma (dem russischen Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) hatte am 15. Februar Außenminister Sergej Lawrow erklärt, dass Russland eine Inventarisierung des gesamten Spektrums seiner internationalen Pflichten vornehme. Unter anderem würden grundlegend die Beziehungen mit internationalen Organisationen revidiert werden. Dies sind jene Strukturen, die gegenüber der Russischen Föderation eine „diskriminierende Haltung“ demonstriert hätten, indem sie unter anderem antirussische Resolutionen verabschiedet hätten.

Lawrow erinnerte daran, dass Russland die Teilnahme am Europarat und am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof eingestellt hätte. Nach seinen Worten wollte Moskau im Europarat und jenen Konventionen, die für die Länder offen sind, die sich nicht an der Arbeit in dieser Organisation beteiligen, bleiben. Aber auch „hat man begonnen, Beanstandungen vorzubringen, indem versucht wird, bereits in jenen Konventionen unsere Rechte einzuschränken, die allen Ländern zustehen, die an diesen Dokumenten teilnehmen.

Lawrow informierte die Abgeordneten, dass die Arbeit in dieser Richtung „auf Hochtouren“ laufe. Russland hätte mehrere hundert solcher Konventionen und Verträge, von denen einige bereits ihre Aktualität verloren hätten. Dass auch der einzige geltende amerikanisch-russische Vertrag auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle – der Vertrag über Maßnahmen zum weiteren Abbau und zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen (New-Start- bzw. Start-3-Vertrag) – in seiner gegenwärtigen Gestalt die Aktualität verloren hätte, erklärte Präsident Wladimir Putin am 21. Februar in seiner Jahresbotschaft an die Föderale Versammlung.

Dieser Vertrag war durch die Präsidenten Dmitrij Medwedjew und Barak Obama im Jahr 2010 mit einer Laufzeit von zehn Jahren unterzeichnet worden. Zwei Tage vor seinem Ablaufen war im Februar des Jahres 2021 der New-Start-Vertrag um fünf Jahre durch Wladimir Putin und Joseph Biden verlängert worden. Faktisch aber hatte er nur zwei Jahre gehalten. Das Dokument begrenzt die maximale Anzahl stationierter Kernsprengköpfe bis auf 1550 (was um 30 Prozent weniger als die vorherige Obergrenze ausmacht), die Anzahl ihrer Trägermittel und Startanlagen bis auf 800, und er verbietet den Ländern, strategische Kernwaffen außerhalb ihrer Territorien zu stationieren. Außerdem verpflichtet das Dokument, die Nukleararsenale nicht vor den Aufklärungsmitteln zu verbergen. Die optimistischen Aussagen von 2019 liefen auf die Erklärung hinaus, dass die wichtigste Errungenschaft von Start-3 die Wiederherstellung und eine Verbesserung des Systems der Inspektionen und des Prinzips der Offenheit des Datenaustauschs, die zwischen Russland und den USA seit 1991, in der Zeit der Entspannung bestand, gewesen sei. Von der Tatsache her setzt die Erklärung Putins einen (Schluss-) Punkt in diesem Austausch.

Allerdings unterstrich der Präsident, dass Russland nicht vollkommen aus Start-3 aussteige, sondern lediglich seine Teilnahme aussetze. „Die NATO hat faktisch den Antrag gestellt, um Teilnehmer des Vertrages über die strategischen Offensivwaffen zu werden“, sagte der Präsident. „Solch eine Fragestellung ist seit langem herangereift“. Schließlich hätten nicht nur die USA, sondern auch Großbritannien und Frankreich Kernwaffenarsenale, und die seien gleichfalls gegen Russland ausgerichtet.

Nach Aussagen Putins sei der New-Start-Vertrag zu ganz anderen Bedingungen abgeschlossen worden, als sich Russland und die USA einander nicht als Rivalen angesehen hätten. Jetzt würden die USA Russland Ultimaten stellen, und die Forderung des Vertrages hinsichtlich Inspektionen russischer Nuklearobjekte verwandele sich unter den gegenwärtigen Umständen in ein „Theater von Absurdität“.

Seinen Gedanken weiterentwickelnd, sagte Putin: „Uns ist bekannt, dass der Westen direkt an den Versuchen des Kiewer Regimes beteiligt ist, Schläge gegen Stützpunkte unserer strategischen Luftstreitkräfte zu führen. Die dafür eingesetzten Drohnen waren mit Unterstützung von NATO-Spezialisten ausgerüstet und modernisiert worden. Und jetzt aber wollen sie sich auch noch unsere Verteidigungsobjekte anschauen? Unter den Bedingungen der heutigen Konfrontation klingt dies einfach wie irgendein Unsinn“. Dabei erlaube man Russland, wie sich aus der Ansprache des 70jährigen Putins ergibt, im Rahmen dieses Vertrages keine Inspektionen auf dem Territorium der USA durchzuführen.

Die Bedingungen für eine Revision der Entscheidung zu Start-3 hat Putin aber recht verschwommen formuliert. „Bevor zu einer Erörterung dieser Frage zurückgekehrt wird, müssen wir für uns selbst begreifen, worauf doch solche Länder des Nordatlantikpaktes wie Frankreich und Großbritannien Anspruch erheben und wie wir deren strategischen Arsenale ins Kalkül ziehen, das heißt das gesamte Angriffspotenzial der NATO“.

In einer am gleichen Tag veröffentlichten Erklärung des Außenministeriums ist davon die Rede, zu welchen Bedingungen Moskau seine Entscheidung revidieren könne: „Dafür muss man in Washington politischen Willen an den Tag legen sowie gewissenhafte Anstrengungen zwecks einer generellen De-Eskalierung und Schaffung von Bedingungen für eine Wiederaufnahme eines vollwertigen und allumfassenden Funktionierens des Vertrages und dementsprechend für eine allseitige Gewährleistung seiner Lebensfähigkeit unternehmen“. Solange die Vereinigten Staaten diese Forderungen nicht erfüllen würden, seien jegliche Schritte Moskaus im Kontext des New-Start-Vertrages auf Washington zu „absolut ausgeschlossen“.

Der Grundgedanke und die möglichen Konsequenzen des Aussetzens von Moskaus Teilnahme an Start-3 haben in den USA, der NATO und der Europäischen Union eine negative Reaktion ausgelöst. Biden bezeichnete in einem Interview für ABC News die Entscheidung Putins als einen großen Fehler. US-Außenminister Antony Blinken hielt die Entscheidung für eine verantwortungslose und großes Bedauern auslösende. Dabei begann er nicht, eine spiegelartige Aussetzung des Vertrages zu verkünden, und unterstrich sogar, dass die USA zu jeder Zeit bereit seien, zu einem Dialog über die Einschränkung der strategischen Waffen zurückzukehren – unabhängig davon, was sich in der Welt oder in den amerikanisch-russischen Beziehungen abspielen werde. Zur gleichen Zeit versprach Blinken, dass die Vereinigten Staaten aufmerksam die Handlungen Russlands im Zusammenhang mit der Aussetzung von Start-3 verfolgen würden und „entsprechende Maßnahmen für eine Gewährleistung der Sicherheit unseres Landes und unserer Verbündeten ergreifen werden“.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg rief die russischen Offiziellen auf, zur Einhaltung von Start-3 zurückzukehren, nachdem er Moskau einer „Liquidierung der gesamten Architektur für die Rüstungskontrolle“ bezichtigt hatte. „Die Situation, in der es immer mehr Waffen werden und die Rüstungskontrolle nachlässt, macht die Welt zu einem gefährlicheren Ort“, warnte er.

Derweil haben beide russischen Parlamentskammern – die Staatsduma und der Föderationsrat – am 22. Februar einstimmig den von Putin zuvor eingebrachten Gesetzentwurf über das Aussetzen der Teilnahme Russlands an Start-3 gebilligt. Der zuständige russische Vizeaußenminister Sergej Rjabkow stellte den Staatsduma-Abgeordneten das Dokument vor, die übrigens wenige Tage zuvor einstimmig ein Gesetz über die Beendigung des Wirkens der Satzung des Europarates in Bezug auf Russland und von 20 Verträgen zwischen Moskau und dem Europarat verabschiedet hatten, und sagte, dass „alle prinzipiellen Bewertungen und Erwägungen dazu im Wortlaut der Jahresbotschaft dargelegt wurden“.

Der als Hardliner geltende Diplomat fügte hinzu, dass „die Politik der USA auf eine Untergrabung der nationalen Sicherheit Russlands ausgerichtet ist. Dies widerspricht direkt den im Vertrag verankerten Bestimmungen. Und im Großen und Ganzen hat sich die Situation auf radikalste Art und Weise im Vergleich zu dem Zeitraum verändert, als das Vertrag ausgearbeitet und abgeschlossen wurde“. Die Argumente Moskaus wurden nach Aussagen Rjabkows „mehrfach der amerikanischen Seite vorgelegt. Dennoch dauert die böswillige Politik zur Untergrabung der Sicherheit Russlands durch Washington an, und die Einsätze in dem gegen unser Land entfesselten totalen hybriden Krieg werden durch die Amerikaner erhöht“.

Rjabkow, der am gleichen Tag zu diesem Thema im Föderationsrat auftrat, bezeichnete die Entscheidung über das Aussetzen der Teilnahme Russlands am New-Start-Vertrag „als eine schwere, aber einzig mögliche“.

Während die Entscheidung über das Aussetzen der Teilnahme Russlands am New-Start-Vertrag beinahe als die Hauptnachricht im Rahmen der Jahresbotschaft an die Föderale Versammlung erklang, erwies sich die Aufhebung des Präsidentenerlasses von 2012 „Über Maßnahmen zur Realisierung des außenpolitischen Kurses der Russischen Föderation“ durch Putin als eine praktisch unbemerkte. Im neuen Erlass, der am 21. Februar in Kraft getreten ist, wird betont, dass die Entscheidung zwecks „Gewährleistung der nationalen Interessen Russlands im Zusammenhang mit den tiefgreifenden Veränderungen, die sich in den internationalen Beziehungen vollziehen“, getroffen worden sei.

Damals hieß es in dem Erlass von vor beinahe elf Jahren, dass die Außenpolitik Russlands auf die Gewährleistung seiner nationalen Interessen auf der Grundlage der Prinzipien des Pragmatismus, der Offenheit und eines Mehr-Vektoren-Charakters ausgerichtet sei. Das Dokument hatte eine konsequente Realisierung von Start-3 mit den USA sowie die Entwicklung von Beziehungen mit der NATO und der Europäischen Union vorgesehen. Entsprechend dem Erlass wurden das Außenministerium und die föderalen Machtorgane beauftragt, Russlands Positionen als einen gleichberechtigten Partner auf den Weltmärkten zu verstärken und fest die zentrale Rolle der UNO in den internationalen Angelegenheiten und die „grundlegenden Prinzipien der UNO-Charta“ zu verteidigen, „die fordern, freundschaftliche Beziehungen zwischen den Staaten auf der Grundlage von Gleichberechtigung sowie Achtung ihrer Souveränität und territorialen Integrität zu entwickeln“. Der außenpolitische Kurs der Russischen Föderation war gleichfalls auf eine Unterstützung der internationalen Anstrengungen zur Bekämpfung der globalen Herausforderungen und Bedrohungen inkl. der Gefahr einer Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, des internationalen Terrorismus und regionaler Konflikte ausgerichtet gewesen.

Wie der neue Kurs Russlands aussehen wird, wird nach Veröffentlichung der aktualisierten Konzeption für die Außenpolitik klar werden. Das Außenministerium verspricht, die Arbeit daran in der nächsten Zeit abzuschließen.

Post Scriptum

Sergej Rjabkow bleibt nach wie vor ein wichtiger Newsmaker in Sachen der russischen Position zum New-Start-Vertrag. Am 1. März erklärte er beispielsweise, dass die Gespräche rund um den Vertrag hinter den Kulissen erfolgen würden, über verdeckte Kanäle. Dabei sagte er gegenüber der Moskauer Nachrichtenagentur „Interfax“: „Solange die Vereinigten Staaten ihr Verhalten nicht ändern, solange wir keine Anzeichen für einen gesunden Gedanken darüber, was sie in Bezug auf die Ukraine und in der Ukraine tun, werden wir keine Chancen dafür sehen, damit die Entscheidung über das Aussetzen des New-Start-Vertrages revidiert oder aufs Neue geprüft wird“. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang, dass Russland keine Notwendigkeit sehe, dem Dialog mit den USA zum Thema der strategischen Waffen einen regelmäßigen Charakter zu verleihen. Bisher ist die Situation eine scheinbar festgefahrene. Wie lange – dies hängt möglicherweise auch vom weiteren Verlauf des Ukraine-Konfliktes ab.