Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Die massenhafte Ablehnung der Corona-Vakzinierung verschleiert den realen Zustand der russischen Gesellschaft


Russland unterscheidet sich von anderen Ländern durch eine hohe Übersterblichkeit und einen sehr geringen Grad der Vakzinierung bei einer relativ leichten Zugänglichkeit dieses Schutzes vor dem Coronavirus. Die Übersterblichkeit in unserem Land hat seit dem Beginn der Proklamierung der Pandemie eine halbe Million Menschen erreicht. Aber die meisten Bürger der Russischen Föderation wollen sich einfach nicht impfen lassen. Unterschiedlichste Erklärungen für diese paradoxe Situation erklingen von Politikern, Experten und Kommentatoren. Einige bekannte Politiker behaupten, dass sich die Bürger der Russischen Föderation nicht impfen lassen wollen, weil Präsident Wladimir Putin nicht erzählt hat, was für ein Vakzin er für die Impfung wählte. Noch eine oft zu vernehmende Erklärung ist: Die vollwertigen Tests von „Sputnik-V“ seien in der dritten Phase abgebrochen worden, und daher würden sich Russlands Bürger einer Impfung entziehen. Die Europäische Union erkenne die russischen Impfstoffe nicht, und deshalb würden die Bürger Russlands ihnen nicht vertrauen. Dies ist noch eine Variante von Erklärungen.

Aber das russische Volk wird wohl kaum so stark von den Intrigen der europäischen Politiker abhängen oder sich für die Präferenzen des Präsidenten zwischen den Vakzinen von Pfizer, Moderna oder „Sputnik-V“ interessieren. Möglicherweise ist die Ablehnung einer Vakzinierung in einem weitaus größeren Maße mit der für Russland traditionellen Ignorierung der eigenen Gesundheit zu erklären.

Oft nennen Soziologen als Ursachen für den Boykott der Vakzinierung in der Russischen Föderation das tiefe Misstrauen der Bürger gegenüber dem heutigen Staat, den generellen Argwohn und die Popularität von Erklärungen der Realität auf der Grundlage von Verschwörungstheorien. Gegen Impfungen gerichtete und antiwissenschaftliche Überzeugungen existieren wirklich in verschiedensten Ländern. In vielen Staaten gibt es Menschen, die an ein Einpflanzen teuflischer Chips oder an die Gefahr einer Sterilisierung mittels Vakzine glauben. Aber allein dieser Faktor wird wohl kaum die unnormal hohe Zahl derjenigen, die sich in Russland nicht impfen lassen wollen, erklären.

Laut Soziologen-Angaben wollen sich etwa 60 Prozent der erwachsenen Bevölkerung der Russischen Föderation nicht vakzinieren lassen. Wobei dieser Wert sich schon viele Monate lang fast nicht verändert. Aber beinahe zwei Drittel der russischen Bevölkerung werden wohl kaum von Theorien hinsichtlich des Einpflanzens teuflischer Chips überzeugt sein. Obgleich es keine Gründe dafür gibt, dies auch nicht auszuschließen. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Wissen oder eine beweiskräftige Medizin stehen im heutigen Russland offenkundig nicht in Ehren, sind unpopulär. Eine Impfung lehnen selbst Ärzte, Pädagogen und Hochschullehrer ab. Hat etwa die Epidemie des Obskurantismus, des Aberglaubens auch die Menschen mit einer Hochschulausbildung befallen?

Ein bestimmter Teil der Impfgegner sind junge Menschen, die vom leichten Verlauf einer durch Viren bedingten Lungenentzündung bei ihnen überzeugt sind. Ein Teil der Bürger mit chronischen Erkrankungen lehnt ebenfalls die Vakzine aufgrund von Befürchtungen schwerer Nebenwirkungen ab. Doch die jungen Menschen und Patienten mit Gegenindikationen machen spürbar weniger als die Hälfte der Bevölkerung aus. Folglich gibt es in der Gesellschaft auch andere Motive für die Ablehnung einer Vakzinierung. Der Unwille, sich impfen zu lassen, hängt wahrscheinlich auch mit dem Faktor der Freiwilligkeit zusammen. Schließlich übersteigt der Anteil derjenigen, die sich den obligatorischen Impfungen im Kleinkinder- oder Jugendalter entziehen, laut einer offiziellen Statistik keine fünf Prozent. Damit ergibt sich, dass ein und derselbe Mensch sich nicht den Pflichtimpfungen für sich und seine Familie widersetzt. Mit einem Mal wird er aber zu einem Gegner der Corona-Vakzinierung, zu dem Zeitpunkt, an dem man ihm Freiheit zur Entscheidung einräumt.

Eine ernsthafte Untersuchung der Gründe für den Vakzinierungsboykott wird zeigen, dass in der Russischen Föderation nicht nur Patrioten, Optimisten und Verteidiger des Regimes leben. Die Analyse kann auch Anzeichen für tiefgreifende gesellschaftliche Krankheiten, für ein generelles Misstrauen, für Verbitterung, einen archaischen Charakter, Uneinigkeit bzw. Entfremdung und die Unfähigkeit zu einem vernünftigen kollektiven Schutz ermitteln.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben sich in Russland etwa zehn Prozent der Bevölkerung vollkommen gegen das Coronavirus impfen lassen. Zumindest eine Impfung haben um die zwölf Prozent erhalten. Dies bedeutet, dass die russische Vakzinierungskampagne keinerlei relevanten Einfluss auf das Ausmaß der Epidemie und die Geschwindigkeit ihrer Ausbreitung ausüben wird. Zumindest in der überschaubaren Perspektive. Somit erhält Russland keinen vollwertigen Impfschutz. Und es wird noch mehr als ein Jahr lang weiter Verluste durch das Coronavirus erleiden.