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Die militärische Sonderoperation ändert nicht die Innenpolitik, sondern formatiert sie


Die erneute Messung des Verhältnisses zur am 24. Februar begonnenen militärischen Sonderoperation hat gezeigt, dass sich die Unterstützung für sie in der Gesellschaft auf einem Stand von 72 Prozent stabilisiert hat. Dabei nimmt die Zahl derjenigen zu, die von einem Anschluss der Ukraine an Russland sprechen. Dies ist eine Reflexion der Propaganda, die unter anderem auch die Wahlen beeinflusst. Laut Informationen der „NG“ ist jedoch Präsident Wladimir Putin der Meinung, dass sich die militärische Sonderoperation in keiner Weise auf die Innenpolitik auswirke. Experten haben darauf verwiesen, dass es augenscheinlich um einen negativen Einfluss gehe. So aber formatiere gerade die Sonderoperation auch die Politik so, wie dies die Machtvertikale brauche.

Eine soziologische Erhebung des kremlnahen Allrussischen Meinungsforschungszentrums (VTsIOM) vom 30. Juni fixierte, dass acht Prozent der Befragten mit solch einem Ziel der militärischen Sonderoperation wie „die Ukraine zu okkupieren und sie Russland anzuschließen“ einverstanden seien. Im April waren es aber nur fünf Prozent gewesen.

Die Aufgabe „die Bevölkerung des Donbass zu verteidigen“ sehen in der Sonderoperation stabil 20 Prozent, obgleich es hier einen geringen Rückgang im Vergleich zur letzten Messung zu Juni-Beginn gibt. Am spürbarsten aber verringert sich die Zahl der Befragten, die immer seltener Erklärungen offizieller Vertreter vernehmen würden, wonach die am 24. Februar getroffene Entscheidung darauf abziele, „Russland zu verteidigen, die Ukraine zu entwaffnen und nicht zu erlauben, NATO-Militärstützpunkte anzulegen“. Während es Mitte April solcher 43 Prozent gewesen waren, so bleibt ihre Zahl im ganzen Juni bei einem Stand von lediglich 38 Prozent. Es sei daran erinnert, dass laut Angaben eines anderen als kremlnahes geltendes Institut, der Stiftung „Öffentliche Meinung“, genauso viele Teilnehmer deren Befragung die Sonderoperation jetzt als Hauptereignis der Woche bezeichneten. Und dies hält im Verlauf der gesamten zweiten Juni-Hälfte an. Zuvor, Ende Mai, hatte dieser Wert mehr als 50 Prozent ausgemacht.

Die Untersuchungen der beiden soziologischen Dienste widersprechen sich überhaupt nicht, sondern ergänzen sich gerade. VTsIOM versucht einfach, den Effektivitätskoeffizienten der staatlichen Propaganda über die Ermittlung sozusagen des aktuellen Grades der Loyalität gegenüber der militärischen Sonderoperation, das heißt im Grunde genommen: gegenüber den Herrschenden und folglich auch gegenüber Putin zu bestimmen. Die Stiftung „Öffentliche Meinung“ will aber sofort bestimmen, auf welchen Anteil diese staatliche Propaganda auf die erforderliche Weise einwirkt. Vom Prinzip her demonstrieren beide Methoden, dass mit der Unterstützung für das derzeitige Regime bisher alles in Ordnung geht. Dies hat unter anderem auch eine elektorale Bedeutung. Nicht ohne Grund hat der Kreml die Appelle zu einer Absage der Wahlen, die im Verlauf des gesamten Mais zu vernehmen waren, ignoriert. Obgleich dafür solche Politiker wie der Chef der Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“, Sergej Mironow, also durchaus systemkonforme Menschen, plädiert hatten.

Mehr noch, wie die „NG“ von Quellen in der Präsidialadministration erfuhr, die vor nicht allzu langer Zeit bei einer der geschlossenen Veranstaltungen unter Beteiligung von Putin beigewohnt hatten, hätte jener kategorisch erklärt, dass die Sonderoperation in keiner Weise die Innenpolitik des Landes beeinflusse (eine interessante These). Jedoch hatte er nicht begonnen, seine Behauptung zu erläutern. Einerseits, wenn Wahlen abgehalten werden, so bedeutet dies, dass ein negativer Einfluss im Blick gewesen war, den es tatsächlich scheinbar nicht gibt. Andererseits, wenn diese Worte des Präsidenten eine Anordnung in der Hinsicht gewesen waren, dass die militärische Sonderoperation nicht bei innenpolitischen Veranstaltungen genutzt werden solle, so ergibt sich, dass die Machtvertikale diese Anweisung mit Ausklammerungen realisiert, die für das breiteste Publikum sichtbar sind.

Beispielsweise hat der stellvertretende Sekretär des Generalrates der Kremlpartei „Einiges Russland“ gerade öffentlich bekanntgegeben, dass die Wahlkampfagitation der regierenden Partei auf drei Grundpfeilern basieren werde. Und während die letzten zwei eine rein regionale Agenda sind, so ist der erste die Sonderoperation. Und sie hebt bereits gar einige Wahlen auf. Anfang der Woche hat man in den an die Ukraine angrenzenden Kreisen des Verwaltungsgebietes Kursk die Wiederwahl kommunaler Abgeordneter einer Reihe von Siedlungen abgesagt. Selbst die Wissenschaftler haben bereits eine Verbindung der militärischen Sonderoperation mit innerrussischen Problemen bemerkt. In Belgoroder Medien ist beispielsweise die Nachricht groß herausgekommen, dass Gebietstierärzte die Zunahme von Tollwutfällen bei Haustieren mit den neben dieser Region erfolgenden militärischen Handlungen in Verbindung bringen. Die Wildtiere seien angeblich gezwungen, die Orte der Kämpfe zu verlassen. Wenn man aber ernsthaft spricht, so gibt es dagegen gar nicht so viel PR-Rummel um die Sonderoperation im Verlauf der Wahlkampagne. Zum Beispiel haben sich nur wenige Gouverneure und gleichzeitig Kandidaten erlaubt, ihre Wahlen mit der militärischen Sonderoperation zu verbinden. Und wenn auch, so im Großen und Ganzen informell. Ein markantes Beispiel unter solchen ist das Oberhaupt des Nowgoroder Verwaltungsgebietes Andrej Nikitin.

Das Mitglied des politischen Komitees der Partei „Jabloko“, Emilia Slabunowa, denkt, dass eine Anweisung, die militärische Sonderoperation und die Wahlen zu trennen, wohl kaum möglich gewesen wäre: „Die Sonderoperation wird so oder anders auch auf die Innenpolitik“. Eine andere Sache sei, dass für die politischen Administratoren die Anweisungen gekommen sein könnte, dass man solch einen Gedanken verbreiten müsse, wonach die militärische Sonderoperation keinen negativen Einfluss ausübe. Zum Beispiel: „Man kann in keiner Weise die wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit der Sonderoperation verbinden. Sie sind mit dem unfreundlichen Charakter des Westens zu verbinden, der die Entwicklung der Russischen Föderation stoppen will“. Dies ist für die apolitischen Bürger. Und die politisierten spüren auch so den Druck in der Hinsicht, dass sie keine solche Position zu bekunden haben, die der staatlichen widerspricht. Diese Kategorie von Bürgern wissen nach Meinung von Slabunowa auch von den „Klassenstunden in den Schulen, in denen die Lehrer den Kindern die Politik der Herrschenden erklären“, und sie sehen die militärische Sonderoperation im Fernsehen und verstehen, dass „Einiges Russland“ in ihrer Wahlkampagne unter anderem auch auf die Sonderoperation setzt. Und wenn „Einiges Russland“ bei den Wahlen einen überwältigenden Sieg erringt, wenn auch mit Hilfe administrativer Ressourcen und einer dreitätigen Abstimmung, so „wird dies ein weiterer Anlass sein werden, um nachzuweisen, dass die Sonderoperation in keiner Weise weder die Politik noch die Wahlen und die Billigung der Handlungen der Herrschenden beeinflusste“.

Der Leiter des analytischen Zentrums der KPRF, Sergej Obuchow, erläuterte der „NG“: „Wenn die Sonderoperation real die Politik beeinflusst, so ist es unmöglich oder sehr schwer, den Anschein zu erwecken, dass dies nicht der Fall ist. Und es gibt natürlich einen Einfluss. Derzeit erfolgt in der Staatsduma (das russische Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) einfach ein Strom von verschärfenden Gesetzentwürfen, die die Innenpolitik betreffen. Natürlich kann man sagen, dass die militärische Sonderoperation nicht die Politik beeinflusse. Mit genau solch einem Erfolg hätte man auch sagen können, dass auch COVID-19 keinen Einfluss ausübe“. Daher sei wahrscheinlich, wie Obuchow meint, aus der (Präsidial-) Administration die Anweisung gekommen, dass alle klar die Generallinie zu befolgen hätten. Beispielsweise versuche man den Parteien zu erklären, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen keine Zeit für eine erbitterte Oppositionstätigkeit und Konkurrenz-Wahlen sei. „Eine andere Sache ist, dass durch die Propaganda eine Routinisierung des Themas der militärischen Sonderoperation erfolgt. Die Herrschenden streben mit allen Kräften an, keine patriotische Mobilisierung zuzulassen, die den Offiziellen nicht gefällt. Und von oben aus konnte durchaus die Anweisung erfolgen, dass das Thema der Sonderoperation zu einem Hintergrund- und nicht zum Hauptthema zu machen ist, dass den Menschen erklärt werden müsse, dass alles still und ruhig erfolge, so dass es sich nicht lohne, nervös zu werden“, merkte Obuchow an.

Alexej Muchin, Generaldirektor des Zentrums für politische Informationen und häufiger Gast unterschiedlicher Talk-Shows der russischen staatlichen TV-Sender, ist der Annahme, dass man die Worte des Präsidenten in solch einem Kontext betrachten müsse: Dies sei keine Anweisung darüber, dass die militärische Sonderoperation nicht das innenpolitische Leben beeinflusse, was vom Prinzip her nicht sein könne. „Wir sind nicht das Establishment des Westens, dass in seiner kleinen Welt lebt und aus informationsseitiger Hinsicht von allem abgeschlossen ist. Russland schaut real auf die Welt. Und dass die Sonderoperation das innenpolitische Leben des Landes beeinflusst, ist eine medizinische Tatsache. Dies nicht zu bemerken, wäre eine Unterlassung. Alle Menschen sehen, dass die Sonderoperation das Leben des Landes beeinflusst. Zur gleichen Zeit konnte die Anweisung erfolgen, ohne Extremes auszukommen, zu zeigen, dass der Staat ungeachtet der Sonderoperation sein gewohntes Leben leben müsse, dass man die Wahlen nicht absagt und unterstreicht, dass die Sonderoperation gerade keinen destruktiven Einfluss ausübt. Alle Prozeduren werden, wie es sich gehört, eingehalten. Das Land lebt sein gewohntes politisches Leben. Es gibt keinerlei Kriegszustand und beispielsweise keine allgemeine Mobilmachung“, unterstrich er. Muchin betonte, dass, obgleich die Bürger auch begreifen würden, dass sich aufgrund der Sonderoperation eine Deformation der Realität vollzogen habe, und sie Negatives sehen würden, es gerade deshalb auch keine Proteste gebe, weil sie die Handlungen der Herrschenden im Interesse des Erreichens der Ziele der Sonderoperation unterstützen würden, von denen sie die ersten für gerechte und die zweiten folglich für richtige halten. „Von daher die guten Ratings der Herrschenden“, unterstrich der Experte.

Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow bekräftigte gegenüber der „NG“, dass die Sonderoperation nicht in der Hinsicht die Politik beeinflusse, dass die Wahlen gemäß Zeitplan ungeachtet der Vorschläge über deren Verschiebung und Absage erfolgen würden. Und die Anweisung, dass die militärische Sonderoperation nicht die innenpolitische Situation beeinflusse, sei möglicherweise gerade deshalb erfolgt, damit die Bevölkerung nicht die politischen Unzulänglichkeiten zu spüren bekomme. „Es gibt aber indirekte Anzeichen dafür, die belegen, dass die Sonderoperation doch die Innenpolitik beeinflusst. Dies sind beispielsweise die Festnahmen von Pazifisten, die Verhaftungen von kommunalen Abgeordneten, der Kampf gegen die sogenannte 5. Kolonne und der Druck auf die systemkonformen Liberalen. Diese Anzeichen verspüren aber nur die politisierten Bürger. Die apolitischen Menschen aber sind mit ihrem Leben beschäftigt. Und sicherlich haben die Herrschenden nicht das Ziel, deren Aufmerksamkeit auf die Sonderoperation im Kontext der sich ergebenden Lebens- und politischen Schwierigkeiten zu lenken. Das heißt, es wird vermittelt, dass es sozusagen nichts gebe, um das man sich Sorgen machen müsse“, merkte der Experte an.Alles in allem hätten die Herrschenden insgesamt den Wunsch zu zeigen, dass im Land alles wie beim Alten sei. Die Ukraine und Sonderoperation seien eine Sache, Russland und die Außenpolitik – eine andere.

Kalatschjow unterstrich, dass wohl kaum von oben für die politischen Administratoren irgendeine schriftliche Anweisung gekommen sei. Aber eine verbale/mündliche Empfehlung aus dem Kreml könnte durchaus nach unten durchgestellt worden sein – „nicht die Situation dramatisieren, nicht zuspitzen, die Wahlen durchführen und eine gewohnte politische Arbeit leisten“. Dabei erläuterte er, dass die Bevölkerungsmehrheit in der Regel eine apolitische sei, in Vielem die militärische Sonderoperation unterstütze, weil dafür keinerlei besonderen Anstrengungen erforderlich seien. „Die Menschen sind bereit, den Buchstaben „Z“ ans Auto zukleben. Vom Prinzip her aber bemühen sie sich, so wenig wie möglich ins Thema einzudringen. Für die Herrschenden ist aber wichtig, dass die Menschen keine Verbindung der Sonderoperation mit ihren Lebensschwierigkeiten sehen, selbst wenn sie mit dem eigenen Überleben beschäftigt sind. Folglich konnte der Kreml durchaus das Signal geben: es ist alles zu tun, um den Sumpf nicht in Bewegung zu bringen, ihn nicht stark zu wecken, solange er still ist. Und es ist offensichtlich, dass dies funktioniert. Die Bevölkerung ist mit ihrem Leben beschäftigt, mit Ausnahme einzelner Andersdenkender und auf Proteste eingestellter Bürger“.