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Die NATO kehrt zu den Anfängen zurück


In Madrid wird am 29. und 30. Juni ein Gipfeltreffen der NATO stattfinden. Zu seinem Hauptereignis wird die Annahme einer Strategischen Konzeption. Dieses Dokument trägt bei weitem keinen sinnlos-bürokratischen Charakter. Es ist eine gewisse Begründung dafür, wozu unter den existierenden Bedingungen die Allianz gebraucht wird, in was für einer Richtung sie sich entwickeln soll. Und es ist eine Zielangabe für konkrete Länder bei der militärischen Planung. Derzeit gilt eine Strategische Konzeption, die beim Summit der NATO im Jahr 2010 in Lissabon verabschiedet worden war. Sie als eine veraltete anzusehen, hatten die USA und ihre Verbündeten nicht einmal nach dem Beitritt der Krim zu Russland für notwendig gehalten. Jetzt aber sind sie dieser Auffassung.

Die entscheidende und – man kann sagen – für die weiteren Perspektiven der Allianz schicksalsbestimmende Veränderung in der Konzeption ist eine: Dort wird der Hauptfeind ausgewiesen werden. „Wir werden erklären, dass Russland nicht mehr ein Partner ist, sondern eine Bedrohung unserer Sicherheit, aber auch für den Frieden und die Stabilität“, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in einem Interview für die deutsche „Bild am Sonntag“. Von einer derartigen Konkretheit hatte man sich im Westen schon ganz gehörig abgewöhnt. Ein Land als ein wahrscheinlicher Gegner war das letzte Mal in einer Strategischen Konzeption nur 1967 ausgewiesen worden. Jene Konzeption hatte sich als die langlebigste erwiesen. Sie ersetzte man nach 24 Jahren, nach dem Ende des Kalten Krieges. Gerade mit der Strategischen Konzeption von 1991 – der ersten nicht geheim gehaltenen und der ersten, wo nicht die Abwehr Moskau als ein Ziel der Allianz verkündet worden war – hatte eine neue Periode in der Geschichte der NATO begonnen. Das Militärbündnis hatte angefangen, ohne einen militärischen Gegner und ohne ein klares Ziel für sein Bestehen auszukommen.

Lange Zeit hatte dies allen in der NATO durchaus gepasst, besonders in Europa. Vor dem Hintergrund der Gespräche darüber, dass man die Sicherheit jetzt auf eine maximal weite Art und Weise begreifen müsse, beschnitten die alten europäischen Mitglieder der Allianz die belastenden Verteidigungsausgaben. So hatten auch die neuen Mitglieder gehandelt. Für sie war der NATO-Beitritt eine nicht beschwerliche Ergänzung zum Beitritt zur Europäischen Union. Und noch ein gewisser Loyalitätseid gegenüber den USA, die – wie stillschweigend angenommen wurde – im Bedarfsfalle selbst irgendwie entscheiden würden, was zu tun sei, wenn man die Souveränität der osteuropäischen Länder real bedrohen werde. Die Konflikte in Jugoslawien, Libyen und Afghanistan haben immer wieder demonstriert, dass das Maximum einer Teilnahme an militärischen Handlungen, das von Europa zugelassen wird, lokale Operationen mit geringen Kräften sind. Und am besten Luftschläge bei einer machtlosen feindlichen Luftabwehr und unter der Bedingung, dass die Arbeit auf dem Boden irgendwer anders macht. Eben jene USA. Zur Empörung von Donald Trump war es auch nach dem Jahr 2014 nur mit Mühen gelungen, Europa zu überreden, sich auf eine Aufstockung der Militärausgaben einzulassen. Die Gesellschaft und die Wirtschaft der Länder des Westens hatten sich schon lange von dem Gedanken gelöst, dass ein globales Blutvergießen im Stil der Kriege des 20. Jahrhunderts überhaupt möglich sei.

Und da hatte sich am 24. Februar 2022 alles verändert. Der Westen nahm Kurs auf eine Unterstützung der Ukraine in dessen Auseinandersetzung mit Russland, aber mehr noch: auf eine „Absicherung“ Kiews, wenn der Konflikt dennoch über die Grenzen des Landes hinausgehe. Stoltenberg hat bereits vorgewarnt, dass zu einer Konsequenz des Summits in Madrid eine drastische Zunahme der Militärausgaben werde. Und er rief die NATO-Mitglieder auf, sich darauf vorzubereiten. Es wird auch eine Verlegung zusätzlicher Einheiten zu den Grenzen Russlands geben. Die NATO-Verteidigungsminister vereinbarten die Formierung gesonderter Streitkräfte, die im Bedarfsfall die Ostflanke der Allianz verstärken würden.

Auf entsprechende Art und Weise wird sich auch die Politik ändern. Da es einen wahrscheinlichen Gegner gibt, wird es wie zu Zeiten des Kalten Krieges auch erzwungene Verbündete geben, denen alles vergeben wird, damit sie nur helfen, die „Marschordnung aufrechtzuerhalten“. Diese Veränderung hat der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, ausgemacht. Nicht zufällig hatte er unerwartet versprochen, die – wie es schien – bereits abgesprochene Erweiterung der NATO durch Schweden und Finnland zu blockieren. Geplant war, den Prozess der Aufnahme der beiden Länder in die Allianz zumindest beim Summit in der spanischen Hauptstadt zu beginnen. Jetzt ist dies aber alles sehr fraglich. Die Bedingungen für eine Aufhebung seines Vetos, die Erdogan stellte, kann man schwerlich als erfüllbare bezeichnen, zumindest in vollem Umfang. Der türkische Staatschef verlangt von Schweden und Finnland, all jene auszuliefern, die Ankara für Terroristen und Komplizen von Terroristen hält. Und dies sind sowohl jene, die Erdogan in den sozialen Netzwerken beschimpften, als auch Aktivisten der Organisationen, die in der Türkei durch Ankara verboten wurden, aber in ganz Europa legal sind. Es ist keine Tatsache, dass der türkische Präsident im Weiteren nicht die Messlatte seiner Forderungen heruntersetzen wird. Hier erfolgt eher eine Wiederholung der Taktik, die in den Jahren des Kalten Krieges die Staats- und Regierungschefs der antikommunistischen, aber weit von den Standards der westlichen Demokratie entfernten Regimes angewandt hatten. Sie hatten eine Nichteinmischung in ihre Angelegenheiten seitens Washingtons im Gegenzug für ihre Unterstützung für die USA in der Konfrontation mit der UdSSR erzielt. Ja, und auch Erdogan demonstriert, dass er nicht einfach so ein Verbündeter gegen Russland sein wird. Zumal der türkische Staatschef auch sein eigenes Interesse hat. Im kommenden Jahr finden in seinem Land allgemeine Wahlen statt. Laut Umfragen werde Erdogan, der erheblich an Popularität verloren hat, im Ringen um das Präsidentenamt garantiert verlieren und dies gegenüber jeglichem Kandidaten von der Opposition. Und die befürchtet, dass der amtierende Präsident ungeniert die administrativen Ressourcen ausnutzen werde und damit rechnen, dass der Westen dies nicht so einfach auf sich belassen werde.

Die Veränderungen in der NATO beabsichtigen auch die Vereinigten Staaten auf ihre Art und Weise auszunutzen. Spaniens Verteidigungsministerin Margarita Robles teilte in einem Beitrag, der in der Madrider Zeitung „La Razón“ veröffentlicht wurde, mit, dass bei dem Summit Delegationen aus Australien, Südkorea, Japan und Neuseeland zugegen sein werden. Diese Länder gehören nicht der NATO an, sind dafür aber wesentliche Elemente des Systems zur Zügelung Chinas, welches die USA hartnäckig aufbauen.  Dass in der Strategischen Konzeption auch die Volksrepublik China erwähnt wird, hat gleichfalls Stoltenberg nicht verschwiegen. In seinem Interview für die „Bild am Sonntag“ bezeichnete er „Chinas Aufschwung“ als eine Herausforderung „für unsere Interessen, Werte und Sicherheit“. Dies ist scheinbar bereits ein Fingerzeig darauf, dass die NATO auf eine neue Rolle in der Welt Anspruch erhebt, die sich im Ergebnis der international umstrittenen russischen Sonderoperation in der Ukraine ergeben wird.

Und natürlich sind Vertreter Georgiens und der Ukraine nach Madrid eingeladen worden. Im Unterschied zu den Gästen aus der asiatisch-pazifischen Region wird ihre Anwesenheit bei dem Gipfeltreffen nicht nur einen symbolischen Charakter tragen. Zum zweitwichtigsten Ereignis des Summits wird nach der Annahme der Strategischen Konzeption die Billigung eines komplexen Hilfspaketes für die Ukraine werden. Und Georgien wird zumindest eine Bestätigung dessen erhalten, dass die Zusagen hinsichtlich einer NATO-Beitritts des Landes in ferner Perspektive, die bereits auf dem Gipfeltreffen in Bukarest im Jahr 2008 gegeben worden waren, in Kraft bleiben werden.