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Die neue Verfassung bringt Kirgisien zu einer neuen Revolution


Kirgisiens Parlament hat in erster Lesung den Gesetzentwurf über die Ansetzung eines Referendums zur Annahme einer neuen Verfassung gebilligt. Die zweite und die dritte Lesung erfolgen in einem beschleunigten Regime, da das Plebiszit für den 11. April dieses Jahres anberaumt werden soll. An diesem Tag finden auch Kommunalwahlen in 28 Städten und 420 Kreisen statt. Die neue Verfassung soll den Präsidenten mit einer uneingeschränkten Macht ausstatten sowie die Rolle und Vollmachten des Dschogorku Kengesch (des Parlaments) minimieren. Solch eine Umverteilung der Macht kann zu einer erneuten Revolution führen. Freedom House hat Kirgisien bereits zur Kategorie der „unfreien Länder“ gerechnet.

Die neue Verfassung Kirgisiens wird entgegen der Empörung eines Teils der Zivilgesellschaft aufgrund dessen, dass sich im Land die Herrschaftsform ändern wird – von einer parlamentarischen zu einer präsidialen -, angenommen werden. So hat die Minderheit der Wähler entschieden, die am 10. Januar 2021 bei den Präsidentschaftswahlen und beim Referendum zur Änderung der Herrschaftsform zur Abstimmung gekommen waren. Die Mehrheit – rund 60 Prozent der Wähler – hatte es vorgezogen, zu Hause zu bleiben. Nun lenken sie die Aufmerksamkeit darauf, dass die Verfassung mit groben Verstößen angenommen wird.

Am Vorabend hatte der zuständige Ausschuss den Verfassungsentwurf gebilligt. Das Parlament begann am 3. März die Erörterung des Dokuments. Am Gesetzentwurf können bereits keinerlei Änderungen vorgenommen werden. Dies erklärten Parlamentschef Talant Mamytow und der Abgeordnete Baktybek Turusbekow, die an der Verfassungsberatung teilgenommen hatten.

Im Verlauf der Sitzung stellte sich heraus, dass unter den Autoren des Entwurfs des neuen Grundgesetzes Abgeordnete ausgewiesen wurden, die bereits verstorben sind oder sich in U-Haft befinden. Mehrere Volksvertreter lehnten es ab, Verantwortung zu übernehmen und solch ein Dokument zu unterschreiben. Der Parlamentarier Dastan Bekeschew bezeichnete das Geschehen als eine Fälschung. „Dies ist ein keine Rechtskraft besitzendes Dokument, eine Fälschung… Der Gesetzentwurf, den Sie initiieren, bringt dem Land kein Wohl. Sie machen es für das Volk schlimmer, Sie schränken die Redefreiheit ein, Sie schaffen eine Abhängigkeit der Richter von der exekutiven Gewalt, Sie schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Monsterfunktionen zu. Sie sagen, dass der Präsident für alles haften werde. Gleichzeitig aber gibt es einen Punkt, dementsprechend der Präsident in irgendeinem Fall die Verantwortung dem Vorsitzenden des Ministerkabinetts überträgt. Dies ist ein Betrug“, betonte Bekeschew. Seiner Meinung nach führe eine Annahme der Verfassung in solch einer Form zu einem neuen Umsturz, zu einer neuen Revolution.

Die Abgeordnete Irina Karamuschkina rief den Parlamentschef auf, das Volk nicht zu täuschen. Sie wandte sich ebenfalls an die Vertreter der Zentralen Wahlkommission: „Zivile Aktivisten, Juristen, Politiker und gesetzeshörige Bürger wenden sich an die Abgeordneten, an den Präsidenten, veranstalten jede Woche Meetings mit der Forderung, die Abhaltung des Referendums zur neuen Verfassung aufgrund der Vielzahl von Widersprüchen abzusagen“. Sie betonte, dass Kirgisien „zu einer schändlichen Präsidialherrschaft, von der es abgegangen war“, zurückkehre. Sie teilte auch mit, dass im vergangenen Monat der Strom der ausreisenden Bürger zugenommen hätte. Die Menschen würden die Heimat verlassen, die kirgisische Staatsbürgerschaft aufgeben, da sie keine Gewissheit hinsichtlich des morgigen Tages hätten.

„Das Volk hat für eine Präsidialherrschaft gestimmt. Man darf sie aber nicht mit einer monarchischen verwechseln“, sagte die Abgeordnete Jewgenija Strokowa. Ihren Worten zufolge sei in der neuen Verfassung die Gerichtsgewalt dem Präsidenten unterstellt, die Staatsanwaltschaft sei dem Präsidenten untergeordnet. „Es wird keine Möglichkeit geben, gar ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten durchzuführen“.

„Heute verabschiedet das Parlament einen Entwurf der Verfassung ohne eine öffentliche Diskussion, ohne Berücksichtigung der Vorschläge und Anmerkungen, ohne eine Einhaltung der für eine öffentliche Diskussion festgelegten Zeiträume. Dies wird einen drastischen Rückgang des Vertrauens gegenüber den Handlungen der Herrschenden nach sich ziehen. Die Verfassung wird ohne einen Konsens verabschiedet. Doch dies wird das Grundgesetz des Landes sein, das nach der Annahme stets Streits über seine Legitimität auslösen wird“, heißt es in einer Erklärung des „Institutes for Media Policy“.

Der Politiker und Exkandidat für das Amt des Präsidenten Kirgisiens, Rawschan Dschejenbekow, sagte der „NG“, dass mit der Verletzung der Verfahrensnormen die Offiziellen eine Mine unter die Landesverfassung legen würden. „Die neuen Leute, die an die Führung des Landes gekommen sind, sind der Auffassung, dass sie unzureichend Macht haben. Dies ist nicht nur ein Problem Kirgisiens. Dies ist ein Problem aller autoritären Herrschenden. Kirgisien ist keine Ausnahme. Dass heute ein Prozess zur Konzentration der Macht in wenigen Händen erfolgt, in den Händen des Präsidenten, führt zur nächsten Revolution, zu einer sozialen Explosion und zu einer wirtschaftlichen Degradierung des Landes“, meint der Politiker. Er lenkte das Augenmerk darauf, dass die Verfassung Politiker aus jenen Parteien ausarbeiten und annehmen würden, die Präsident Sooronbai Dschejenbekow bedient hätten, der das Land zu den Oktoberereignissen des vergangenen Jahres geführt hatte.

Nach Aussagen von Rawschan Dschejenbekow sei die Gesellschaft hinsichtlich der Frage nach der Annahme der neuen Verfassung bereits auseinandergegangen. „Der eine ist mit einem elementaren Überleben beschäftigt, andere begreifen die ganze Verderblichkeit und Perspektivlosigkeit des Unterfangens und verlassen das Land. Es gibt aber aktive Bürger, Politiker, die demokratische Anschauungen vertreten, aktiv Widerstand leisten und den Präsidenten und die neuen Herrschenden davor warnen, dass diese Verfassung das Land zu einer Spaltung und zu einem anschließenden Umsturz führen werde“, betonte der Politiker. Seiner Meinung nach gebe es in dem neuen Gesetz recht viele Punkte, die die Redefreiheit und die Entwicklung der Demokratie einschränken würden.

Die internationale Nichtregierungsorganisation Freedom House bewertete in ihrem Jahresbericht, der am Vorabend veröffentlicht wurde, den Grad der Freiheit in Kirgisien mit 28 von 100 möglichen Punkten (im Jahr 2020 waren es 39 von 100), den der politischen Rechte – mit 4 von 40 möglichen und den der Bürgerfreiheiten – mit 24 von 60 möglichen Punkten. „Der Status von Kirgisistan ist von „einem teilweise freien“ zu einem „unfreien“ gesunken, da die Folgen der unvollkommenen Parlamentswahlen durch eine ernste politische Gewalt und Einschüchterung geprägt wurden, was zu einer Machtergreifung durch den Anführer der Nationalisten und einem verurteilten Kriminellen, der von seinen Anhängern aus dem Gefängnis befreit worden war, führte. Die eigenmächtige Rolle eines amtierenden Präsidenten durch Sadyr Shaparow und die weitere Ausübung der Pflichten des Premierministers durch ihn, die Verschiebung des Datums für neue Parlamentswahlen nach Annullierung der Ergebnisse der im Oktober des Jahres 2020 stattgefundenen, die Einschüchterung von Opponenten seitens Anhänger Shaparows, die „Wirtschaftsamnestie“ für Beamte und die initiierte Verfassungsreform wurden zu einem der vielen Ursachen für die erheblichen Herabstufung des Ratings der Republik“, wird in dem Bericht hervorgehoben.