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Die Offiziellen Russlands haben die dritte Verteidigungslinie für die Wahlen erreicht


Nach mehr als drei Monaten nach den Wahlen ist klar geworden, dass die Strafverfahren in den Regionen gegen Abgeordnete von der KPRF Episoden einer konsequenten Korrektur der Abstimmungsergebnisse, die die Herrschenden nicht befriedigten, sind. Anders gesagt: Dies ist eine gewisse dritte Verteidigungslinie in Bezug auf die Opposition. Im Rahmen der ersten (Verteidigungslinie) lässt man einfach deren Vertreter nicht bis zur (Wahl-) Kampagne. Die zweite ist eine direkte Kontrolle der Wahllokale. Der Kampf um die vergangenen Wahlen erfolgt in zwei Richtungen. Neben strafrechtlichen Verfolgungen, und dabei auch entsprechend spektakulären Paragrafen, wird auch eine Änderung von Zahlen der Abschlussprotokolle ausgenutzt.

Vorerst bleiben die Strafverfahren gegen kommunistische Abgeordnete relativ seltene Fälle. Die Linken befürchten jedoch bereits, dass die Säuberung der gesetzgebenden Versammlungen (der Regionalparlamente – Anmerkung der Redaktion) und Stadtparlamente von ihnen zu einer Massenerscheinung im Falle eines weiteren elektoralen Erstarkens der KPRF bei den Wahlen in diesem Jahr werde. Die Glaubwürdigkeit solch einer Prognose wird durch jüngste Ereignisse untermauert.

Beispielsweise war im Swerdlowsker Verwaltungsgebiet durch den Ex-Abgeordneten Valerij Saweljew von der Kremlpartei „Einiges Russland“ eine Klage mit der Forderung eingereicht worden, die Wahlergebnisse bezüglich des Wahlbezirks zu annullieren, in dem der derzeitige Abgeordnete Alexander Iwatschjow gesiegt hatte. Dies ist der 1. Sekretär des KPRF-Gebietskomitees, der gerade in diesen Tagen zum stellvertretenden Vorsitzenden der gesetzgebenden Versammlung gewählt wurde. Und in der Primorje-Verwaltungsregion (im Fernen Osten Russlands – Anmerkung der Redaktion) hat ein Gericht bis zum 17. Februar die U-Haft für den KPRF-Abgeordneten in der gesetzgebenden Versammlung Artjom Samsonow verlängert.

Im Swerdlowsker Verwaltungsgebiet ist die Klage des Vertreters von „Einiges Russland“ nicht direkt gegen den Kommunisten eingereicht worden, sondern lediglich in Bezug auf einen „Schutz der Wahlrechte der Bürger“, die angeblich im Verlauf der Wahlen im 12. Direktwahlbezirk für die gesetzgebende Versammlung verletzt worden seien. Die erste Gerichtsverhandlung ist für den kommenden 18. Januar anberaumt worden. Dem KPRF-Gebietskomitee ist angetragen worden, Erklärungen vorzulegen. Dort ist man der Auffassung, dass, „allem nach zu urteilen, dies ein gut vorbereiteter und geplanter Schritt ist“. Die Klage an sich sei simpel eine phantastische: Drei Monate nach den Wahlen hätten den ehemaligen Abgeordneten zahlreiche Erklärungen von Teilnehmern des Systems „mobiler Wähler“ erreicht, die eingestehen würden, dass sie kein Recht gehabt hätten, gerade in diesem (Wahl-) Bezirk abzustimmen.

„Diese Klage diskreditiert vollkommen das Institut der Wahlen. Ich weiß nicht: Begreifen die Autoren dieser Initiative, was für politische Konsequenzen sie nach sich ziehen wird. Aber bald werden sie diese zu spüren bekommen“, erklärt selbst Iwatschjow, den die Partei in diesem Jahr auch noch als Kandidat für das Amt des Gouverneurs des Swerdlowsker Verwaltungsgebietes aufstellen will. Übrigens, eine faktische Anerkennung der Offiziellen, dass die Manipulationen mit Hilfe des Systems „mobiler Wähler“ vorgenommen wurden, kann der Zentralen Wahlkommission wohl kaum gefallen, die bereits öffentlich erklärte, dass dieses System nicht die geringsten Misstrauensmomente auslösen würde.

Im Primorje-Gebiet wird derweil weiter der skandalöse „Phallus-Fall“ – über die Verführung Minderjähriger durch die angebliche Demonstration eines entsprechenden Sex-Shop-Artikels – gepusht. Der Kommunist Samsonow, übrigens der 1. Sekretär des Stadtkomitees von Wladiwostok, hat nach der Gerichtsverhandlung vom 11. Januar einen Hungerstreik begonnen, da ihm eine Prüfung mit einem Lügendetektor verweigert worden war. Zur gleichen Zeit wurde ihm eine Online-Teilnahme an den Sitzungen der gesetzgebenden Versammlung, die an und für sich selbst dieses Regime nutzt, verweigert. Und dem Bummler Samson droht jetzt gar der Entzug des Abgeordnetenmandats noch vor dem Urteilsspruch des Gerichts. Es sei daran erinnert, dass die Kommunisten unter Führung von Samsonow bei den Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung im vergangenen Jahr in acht der zehn Wahlbezirke von Wladiwostok gewonnen hatten. Samsonow selbst hatte zuvor versprochen, dass die KPRF im Jahr 2022 auch die Wahlen zum Stadtrat gewinnen werde.

Wie der Leiter des Rechtsdienstes der KPRF Georgij Kamnjew gegenüber der „NG“ sagte, würden vom Prinzip her die Strafverfahren jedes Mal nach den Wahlen beginnen. „Die Offiziellen verlieren und fuchteln mit den Fäusten wie nach einer Prügelei herum. Natürlich ist der Hintergrund aller derartigen Angelegenheiten ein rein politischer. Zum Beispiel ergibt sich hinsichtlich der Angelegenheit von Iwatschjow die Frage: Wer ist denn der Organisator der doppelten Abstimmung? Und wie sind diese Leute aus dem (System) „mobilen Wähler“ zu dem Vertreter von „Einiges Russland“ gekommen?“. Kamnjew erläuterte, dass die Herrschenden drei Verteidigungslinien in Bezug auf die Opposition hätten, an denen sie ihre Kontrolle der gesetzgebenden Organe verteidigen wollen. „Anfangs blockiert man an den Zugangswegen Kandidaten. Besonders spürbar ist dies bei den Gouverneurswahlen. Und man schließt sie aufgrund von Fehlern in den Dokumenten überall aus, wo sie können. Danach beginnen eine Kontrolle der Wahlkommissionen und Tricks bei der Abstimmung. Und schließlich, wenn die Wahlen verloren wurden, bemühen sich die Herrschenden, auf jeglichen Wegen diese Ergebnisse zu annullieren. Mitunter über die Einleitung von Strafverfahren, obgleich dies bisher eine Seltenheit ist“, unterstrich er.

Kamnjew vermutete, dass es im Weiteren keine besondere Notwendigkeit geben werde, im Nachklapp Mandate wegzunehmen, da überall eine elektronische Abstimmung eingeführt werde. Der Chef des analytischen Zentrums der KPRF Sergej Obuchow ist der Auffassung, dass, da die KPRF laut Statistik begonnen habe, mehr bei den regionalen und kommunalen Wahlen zu siegen, zu erwarten sei, dass der Druck auf die Partei verstärkt werde. „Natürlich werden Strafverfahren gegen unsere Abgeordneten vor Ort leider schon lange eingeleitet. Vorerst ist dies aber eine extreme Methode. Die Herrschenden bemühen sich, eine Politik der Restriktionen zu verfolgen, damit die Opposition ihre Aktivitäten einfach nicht entfalten kann“, merkte er an.

Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow erläuterte der „NG“: „In den Regionen findet die Tendenz zur Ausübung von Druck auf die KPRF eine Reaktion. Die örtlichen Offiziellen begreifen ausgezeichnet, dass es keine Rüge von oben geben wird“. Denn gegenwärtig sei den Regionen freie Hand gegeben worden, nicht nur für epidemiologisch bedingten Restriktionen, sondern auch für die Lösung von Problemen mit den Wahlen. Der Experte erinnerte daran, dass in den letzten Jahren der Kampf zwischen den Herrschenden und der Opposition immer häufiger von der elektoralen auf eine gewaltsame Ebene übergehe. Wenn es also nicht klappe, den Sieg eines unliebsamen Abgeordneten entweder im Vorfeld der Wahlkampagne oder in deren Verlauf zu verhindern, bleibe dann lediglich die Technologie der Aberkennung der Mandate – entweder durch Strafverfahren oder durch eine Neuauszählung der Abstimmungsergebnisse. „Natürlich ist die Einleitung von Strafverfahren gegen Gewinner von Wahlen eine Anschwärzung des Wahlsystems. Doch für die Regionen ist das eigene Hemd halt näher. Obgleich dennoch solche Präzedenzfälle bisher etwas Exotisches bleiben. Allerdings ist für die föderalen Offiziellen das Problem des Vertrauens in die Wahlen in den Hintergrund gerückt. Zur hauptsächlichen Angelegenheit ist das Halten der Kontrolle über die Territorien geworden. Dies bedeutet, dass der Druck auf die Opposition auf allen Etappen zunehmen wird“, ist sich Kalatschjow gewiss.