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Die Opposition muss sich entscheiden – entweder auf die Kommunisten setzen oder das eigene Spiel spielen


Bis zum Start der Abstimmung bei den Wahlen zur Staatsduma (dem Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) sind genau drei Wochen geblieben. Und es muss eingestanden werden, dass nach wie vor eine gewisse Intrige gewahrt bleibt. Erstens hat sich in einer ganzen Reihe von Direktwahlbezirken, darunter in Moskau, ein recht harter Konkurrenzkampf abgezeichnet, der mit einer recht großen Wahrscheinlichkeit Vertreter von drei, vier Parteien ins Parlament bringen wird, die in der vergangenen Legislaturperiode in diesem nicht vertreten waren. Zweitens bleibt eine recht ernsthafte Frage die, wie sich die außerparlamentarische Opposition am Tag der Abstimmung verhalten wird. Darauf muss detaillierter eingegangen werden.

In vergangenen Monaten sind die hauptsächlichen „Stützpunkte“ der liberalen Opposition – sowohl Organisationen als auch Massenmedien – als ausländische Agenten eingestuft worden oder haben ganz und gar den Status von Extremisten erhalten. Die wichtigsten oppositionellen Akteure sind entweder hinter Gitter geraten oder ins Ausland gegangen oder befinden sich in Erwartung des einen oder anderen. In dieser Situation beginnt die anhaltende Agitation für das „Smart Voting“ („Kluges Abstimmen“) recht surrealistisch auszusehen. Einerseits bietet man den Bürgern vom Wesen her eine „Katze im Sack“ an – registrieren Sie sich, und am Vorabend der Wahlen werden wir Ihnen sagen, für wen man stimmen sollte, um die Vertreter von „Einiges Russland“ zu besiegen. Solch eine Offerte sieht offenkundig schlechter als das traditionelle Schema aus, das von den Herrschenden vorgeschlagen wird. Die Wähler können sich zumindest mit den Biografien und Programmen der Kandidaten vertraut machen, selbst wenn dies auch technische Kandidaten von kleinen Parteien sind. Die Variante „wir werden Ihnen sagen…“ erweist sich de facto als eine Auswahl ohne eine Wahl.

Andererseits, wenn man die Situation in den Direktwahlbezirken aufmerksam studiert, wird es offensichtlich, dass die stärksten Konkurrenten für die Vertreter der Kremlpartei „Einiges Russland“ die Vertreter der KPRF sind. Anders gesagt, jener Partei, die auf jegliche Art und Weise den Kampf gegen die ausländischen Agenten begrüßt und für ein Anziehen der Daumenschrauben plädiert hatte und deren Führer Alexej Nawalny offen als einen Agenten von drei Geheimdiensten bezeichnet hatte, den man „richtigerweise eingesperrt hat“. Jetzt aber setzen die Anhänger des „Berliner Patienten“ auf eben jene Kommunisten. Unter Berücksichtigung der verbreiteten Sjuganow-Ideen wird klar, dass im Falle eines Machtantritts (oder einer Rückkehr an die Macht) der Kommunisten Russland solch eine mächtige „Repressaince“ erwartet, dass der gegenwärtige Druck auf die Opposition allen als Kinder-Sandkastenspiele erscheinen wird.

Dabei bemerkt die Opposition mit seltenen Ausnahmen nicht das ernsthafte Fenster von Möglichkeiten, das sich für sie nach der Ablehnung der OSZE, Beobachter zu den russischen Wahlen zu entsenden, aufgetan hat. Selbst in dem Fall, wenn die Wahlergebnisse in Russland an sich mit minimalen Einwänden akzeptiert werden (es sei daran erinnert, dass Putin mehrfach die Wichtigkeit der Abhaltung absolut sauberer und transparenter Wahlen unterstrichen hat), wird ihre Legitimität in den Augen der westlichen Politiker fraglich bleiben. Es versteht sich: Etwas ganz und gar Negatives nach dem Vorbild von Weißrussland des vergangenen Jahres ist nicht zu erwarten, doch für das neue Parlament, das ohne die Anwesenheit unabhängiger äußerer bzw. ausländischer Beobachter gewählt worden ist, wird es hinsichtlich eines Zusammenwirkens mit den europäischen und amerikanischen Partnern ziemlich schwer werden. Ihrerseits kann die Frage nach der Legitimität der Staatsduma potenziell den außenpolitischen Aspekt der Präsidentschaftswahlen von 2024 und des möglichen Machttransfers belasten.

In diesem Fall erscheint ein Boykott der Wahlen, worüber sich in der vergangenen Woche Wladislaw Inosemzew, Alexander Podrabinek und eine Reihe anderer Politiker geäußert hatten, als der offensichtlichste Schachzug. Wie merkwürdig es auch sein mag, doch dieser Appell erwies sich beinahe als ein unbeachteter. Und einige warfen den Autoren gar ein Arbeiten für den Kreml vor: Angeblich würden sie vorschlagen, die „Wahlbeteiligung einzudampfen“. Dabei muss begriffen werden, dass angesichts des Fehlens einer Mindestgrenze für die Wahlbeteiligung in der russischen Gesetzgebung das „Eindampfen“ ein Messer mit zwei Schneiden ist. Bei einer Erhöhung der Steuerbarkeit delegitimiert sie mit eben jenem Tempo die Ergebnisse. Es ist offensichtlich, dass die angenommenen 70 Prozent des machttreuen Siegers bei einer Wahlbeteiligung von zehn Prozent realen sieben Prozent entsprechen. Unter den Bedingungen eines Ausbleibens ausländischer Beobachter bei den Wahlen kann ein derartiges Ergebnis eine kumulative Wirkung erzielen, was man mit aller Klarheit im Kreml begreift.

Die Situation einer „belagerten Festung“ in Verbindung mit der weltweiten Wirtschaftskrise, ausgelöst durch die Corona-Pandemie, erfordert offenkundig keine weitere Verschlechterung, da der neuen Zusammensetzung des Parlaments neben allem anderen die Bürde des Übergangs von 2024 auf die Schultern gelegt wird. Gerade deshalb bleibt die Hauptfrage und die Intrige der letzten Wochen vor den Wahlen die Frage: Ist die Opposition, der die Anführer genommen worden sind, bereit, das Spielbrett zu drehen und ihr Spiel zu spielen oder wird sie weiter auf die Kommunisten setzen, die sie hassen?