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Die Partei „Jabloko“ ist zu ihrem Golgotha aufgebrochen


Wie die „NG“ erfahren hat, schließt man in „Jabloko“ eine eigene Liquidierung als letzte Verschärfung im Rahmen der Kampagne des gewaltsamen Drucks auf die Partei nicht aus. Früher hatte die Antikriegsrhetorik der „Jabloko“-Vertreter im Zusammenhang mit der Ukraine die Offiziellen nicht beunruhigt, zumal die Partei gegen die Nawalny-Vertreter gekämpft hatte. Jetzt ist die pazifistische Tätigkeit von „Jabloko“ aus einer theoretischen zu einer aktuellen geworden, zu deren Ergebnis auch Festnahmen von Parteimitgliedern, Durchsuchungen bei ihnen usw. geworden sind.

In der letzten Zeit werden gegen „Jabloko“-Vertreter Ordnungsverfahren initiiert, Durchsuchungen vorgenommen. Aktivisten erleben einen Shitstorm negativer Kommentare in den sozialen Netzwerken und Androhungen, dass man aufgrund der Antikriegskampagne der Partei mit ihnen abrechnen werde. Und zu einem Höhepunkt solch einer Kampagne ist in Bezug auf „Jabloko“ bereits ein Zwischenfall in Nishnij Nowgorod geworden, als acht Personen in ein Parteibüro eindrangen, um es zu zertrümmern.

Vor allem wurden Listen von Bürger-Unterschriften, die für einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine gesammelt worden waren, antimilitaristische Agitationsmaterialien und Parteisymbole vernichtet. Nach Aussagen von „Jabloko“-Vertretern erschien die Polizei erst eine Stunde nach der Alarmierung, als die Täter bereits verschwunden waren. Und wie der Vorsitzende der regionalen Abteilung Oleg Rodin erklärte, hätte die Beamten aus den Rechtsschutzorganen nicht die Umstände des Vorgefallens, sondern mehr die Tätigkeit von „Jabloko“ an sich interessiert.

Er teilte der „NG“ mit, dass die Polizei etwa sechs Stunden im Büro gewesen sei. Befragt wurden Zeugen des Überfalls und Protokolle mit Anzeigen der „Jabloko“-Vertreter abgefasst. „Im Endergebnis beschlagnahmte man bei uns die Harddisc eines Computers. Danke, dass man den eigentlichen Computer zurückließ, worauf (unser) Anwalt bestanden hatte. Die Beschlagnahmung begründeten die Polizeibeamten damit, dass auf der Disc irgendwelche Beweise sein könnten, obgleich es im Büro keine an die Disc angeschlossene Beobachtungskameras gibt. Bisher gibt es keine Reaktion von der Polizei. Doch allem nach zu urteilen, war dies eine geplante Aktion. Hinter ihr können machttreue Bewegungen stehen. Wir denken dies, da man den Überfall gleich mit drei Kameras und unter hurrapatriotischen Losungen aufgenommen hat. Ein Video ist aber bisher nicht im Internet aufgetaucht. Folglich besteht die Empfindung, dass man für eine Berichterstattung gedreht hat“, erklärte Rodin.

Dies ist nicht das einzige Beispiel für die Ausübung von Druck auf die Partei, obwohl es in der letzten Zeit sonst nirgends gerade physische Angriffe gegeben hat. Dafür nehmen die Sicherheits- und Rechtsschutzorgane punktuell Durchsuchungen bei regionalen Spitzenvertretern von „Jabloko“ vor. So besuchten am 2. März, um 06.30 Uhr morgens Polizeibeamte die Wohnung der stellvertretenden Vorsitzenden der Primorje-Abteilung Marina Schelesnjakowa. Beschlagnahmt wurden ein Telefon und ein Laptop. Zum Grund war der Beschluss über die Vornahme einer Untersuchung der Räume in Bezug auf das Vorhandensein extremistischer Materialien und elektronischer Vorrichtungen geworden. Schelesnjakowa ist scheinbar vorerst weder eine Verdächtige noch eine Zeugin. Der Fall stehe angeblich mit der Veröffentlichung extremistischer Aufrufe eines gewissen Nutzers in einem großen Primorje-Chat noch im vergangenen Jahr in einem Zusammenhang. Die Vertreterin von „Jabloko“ selbst erklärte, dass sie nichts damit zu tun habe, wobei sie das Auftauchen der Vertreter der Rechtsschutzorgane bei ihr als einen Akt zur Einschüchterung gerade im Zusammenhang mit den letzten Ereignissen im Land werte.

Zuvor, und zwar am 28. Februar, erfolgte eine Durchsuchung bei Alexander Korowainyj, dem Chef der Jeisker „Jabloko“-Abteilung in der Verwaltungsregion Krasnodar. Bei ihm war man ebenfalls in den frühen Morgenstunden, um 06.20 Uhr in der Wohnung erschienen. Der Grund – der Beschluss über die Vornahme einer Durchsuchung entsprechend einem Strafverfahren über eine Betrugshandlung im Umfang von 21.000 Rubel (umgerechnet knapp 200 Euro) durch nicht ermittelte Personen per Whatsapp. Nach Aussagen von Korowainij kam es bei der Durchsuchung zu zahlreichen prozessualen Verstößen. Beispielsweise war kein Anwalt zugegen, da man einfach nicht erlaubt hatte, einen Anruf vorzunehmen. (Selbstverständlich wird dies unter den gegenwärtigen Bedingungen in Russland ungestraft bleiben. – Anmerkung der Redaktion) Bei dem „Jabloko“-Vertreter wurde die gesamte elektronische Technik eingezogen. Er selbst blieb auf freiem Fuß und spricht von einem offenkundig fabrizierten Verfahren, wobei er befürchtet, dass sein prozessualer Status bereits in der nächsten Zeit neuqualifiziert werden könne.

Fortgesetzt werden auch die Festnahmen von „Jabloko“-Mitgliedern aufgrund der Teilnahme an pazifistischen Aktionen. In den letzten Tagen hat die Polizei solche Handlungen gegen mindestens 19 Aktivisten vorgenommen – in Moskau, in den Verwaltungsgebieten Tscheljabinsk, Swerdlowsk, Saratow und Samara sowie in Baschkirien. Zwei der festgenommenen sind Leiter von regionalen Abteilungen. Und „Jabloko“-Pressesekretär Igor Jakowlew wurde zusammen mit seiner Ehefrau noch der Polizei zwangsvorgeführt.

Emilia Slabunowa, Mitglied des Politkomitees von „Jabloko“ und Abgeordnete der Gesetzgebenden Versammlung Kareliens (Regionalparlament der nordrussischen Teilrepublik), berichtete der „NG“ auch über Aktionen von Internet-Bots. „Man schreibt Gemeinheiten und sogar Androhungen unter allen Posts und Friedensaufrufen. Diese negativen Reaktionen gehen in die Hunderte. Und jüngst tauchte bei uns in Karelien ein Telegram-Kanal im Namen der Partei auf, den keiner von uns geschaffen hatte. Solch eine Ressource kann man offenkundig für irgendwelche Provokationen ausnutzen. Daher habe ich im Innenministerium und in der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet. Und gegen mich hat man einen schmutzigen Beitrag auf einer gewissen pseudopolitischen Internetseite veröffentlicht. Dieser ganze Druck und der informationsseitige Kampf sind natürlich durch unsere Antikriegsposition ausgelöst worden. So haben dieser Tage die „Jabloko“-Abgeordneten in den Regionalparlamenten von Karelien, Petersburg und Pskow einen Appell an den Präsidenten mit dem Aufruf, die ukrainische Sonderoperation zu beenden, initiiert“.

Nach Aussagen von Emilia Slabunowa hätte es nicht einmal im Rahmen der Duma-Wahlkampgane solch einen Druck auf die Partei wie gegenwärtig gegeben. Augenscheinlich, weil „die Entscheidung über die Sonderoperation der Oberste Befehlshaber getroffen hatte“. „Es ergibt sich, dass sich vom Wesen her im Land ein 2-Parteien-System herausgebildet hat: die präsidententreue regierende Partei in Gestalt der gesamten Staatsduma und die einzige oppositionelle Kraft. Von daher auch der Druck auf „Jabloko“. Vom Prinzip her, wenn es auch weiterhin mit solch einem Tempo weitergehen wird, wird man uns zu jeglichem Zeitpunkt die Registrierung nehmen können“, vermutete die Vertreterin von „Jabloko“.

Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow erläuterte der „NG“: „Alle begreifen, dass gegenwärtig die Situation praktisch einer Kriegszeit ist, in der es nach Meinung der Herrschenden Patrioten und „Nichtpatrioten“ gibt. Alle wissen um die Haltung von „Jabloko“ zur Sonderoperation. In der vergangenen Woche erfolgt ihr Sammeln von Unterschriften für Frieden mit einem beschleunigten Tempo. Und die eigentliche Partei erlebt eine gewisse Wiedergeburt. Und ihre Antikriegstätigkeit wurde auf einmal aus einer rein theoretischen zu einer aktuellen und sogar brisant politischen“. Dies bedeute, dass die Unterstützung für die Partei drastisch zugenommen habe. An ihrer Kampagne beteiligen sich sogar Medien-Figuren, die sich früher scheinbar abgewandt hatten. „Wenn „Jabloko“ bis zu den Wahlen überlebt, so werden ihre Ergebnisse sicherlich zunehmen – als ein neuer Punkt für eine Etablierung und Kristallisierung für die gesamte Opposition. Die Sache ist die, dass unter allen registrierten Parteien gerade „Jabloko“ zum Sprachrohr pazifistischer Ideen geworden ist. Die übrigen haben entweder davon Abstand genommen oder unterstützen die Sonderoperation. Und da gegenwärtig – allem nach zu urteilen – die Vertreter der bewaffneten, Sicherheits- und Rechtsschutzorgane das Sagen haben, können sie die Tätigkeit der Partei für eine staatsfeindliche halten. Für sie wird heute alles in Schwarzes und Weißes unterteilt. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass man „Jabloko“ einfach dichtmachen kann. Das heißt: Die Partei ist jetzt auf dem Weg zu ihrem Golgotha“, unterstrich Kalatschjow. Nach Meinung des Experten werde man den konkreten Vorfall in Nishnij Nowgorod wahrscheinlich ohne die notwendige Untersuchung belassen, da die Rechtsschutzorgane begreifen würden, dass sie keiner dafür zur Verantwortung ziehen werde. Die Aktionen gegen die „Jabloko“-Vertreter durch die Vertreter der Rechtsschutzorgane an sich aber würden durch zwei Momente bedingt werden. Erstens: Da der Präsident die Entscheidung über die Sonderoperation getroffen hatte, erhalten die Offiziellen und Behörden eine gewisse Indulgenz für jegliche Handlungen. Und zweitens: Die gewaltsame repressive Maschinerie, die gegen die Nawalny-Vertreter in Gang gesetzt wurde, kann nicht so einfach gestoppt werden.