Bundeskanzler Olaf Scholz trat beim Landesparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Husum (Schleswig-Holstein) mit einer programmatischen Rede auf, die außen- und innenpolitischen Problemen Deutschlands gewidmet war. Sein Auftritt verdient besondere Aufmerksamkeit, da viele in der letzten Zeit aufgetauchten Angaben eine erhebliche Korrektur sowohl der Linie der SPD als auch der Position der Bundesregierung erfordern. Gemeint sind das Interview von Ex-Kanzlerin Angela Merkel für „Die Zeit“, die Eingeständnisse des früheren Premiers von Israel, Naftali Bennett, und die Erklärung des Bundesstaatsanwalts über die Aufklärung der Explosionen an den Ostsee-Gaspipelines.
Scholz bekräftigte, dass Deutschland auf der Seite der Ukraine stehe und ihr weiterhin Unterstützung gewähren werde, solange dies notwendig sein werde. Zur gleichen Zeit sagte er, dass die Regierung alles unternehme, damit sich die Situation zu keinem Krieg zwischen Russland und der NATO verwandle.
Es stellt sich die Frage: Was wäre gewesen, wenn im Jahr 2014 der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier die Zusage erfüllt hätte, die er dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch hinsichtlich der Regelung der politischen Krise in der Ukraine gegeben hatte. Es sei daran erinnert, dass die Unterzeichnung des damaligen Abkommens dazu bestimmt war, der akuten politischen Krise ein Ende zu bereiten, die im November des Jahres 2013 im Zusammenhang mit der Entscheidung der damaligen ukrainischen Herrschenden, den Assoziierungsprozess mit der Europäischen Union auszusetzen, begonnen hatte. Eine Folge des „Nichtstuns“ von Steinmeier nach Bruch des Abkommens durch die ukrainische Opposition waren der Verlust der Krim durch Kiew (augenscheinlich auf unter Mitwirkung Moskaus – Anmerkung der Redaktion) und der Beginn eines faktischen Bürgerkrieges in der Ukraine.
„Minsk-2“ ist ein Dokument, das die Beilegung des bewaffneten Konflikts im Osten der Ukraine zum Ziel hatte. Abgestimmt wurde es am 11.-12. Februar 2015 durch Spitzenvertreter Deutschlands, Frankreichs, der Ukraine und Russlands im sogenannten „Normandie-Format“ und unterzeichnet durch die trilaterale Kontaktgruppe, die aus Vertretern der Ukraine, Russlands und der OSZE bestand. Ihre Unterschriften setzten auch die Chefs der selbstausgerufenen Donbass-Republiken DVR und LVR unter das Dokument (aber ohne eine Angabe der Funktionen). Später wurden die Minsker Vereinbarungen durch eine spezielle Resolution des UN-Sicherheitsrates gebilligt. In ihrem jüngsten Interview für die Hamburger „Zeit“ hatte, wie das FKT-Team aus der Stiftung für konzeptuelle Technologien behauptet, die bestehenden Vorstellungen über die Minsker Vereinbarungen vollkommen über den Haufen geworfen. Bisher war angenommen worden, dass sie ein Sieg Wladimir Putins waren, der so den Versuch unternommen hatte, die ukrainische Regierung zu veranlassen, mit Hilfe eines Eingreifens einflussreicher Politiker (wie Angela Merkel und Frankreichs Ex-Präsident François Hollande) den Bürgerkrieg zu beenden und keine Einmischung des Westens zuzulassen.
Das Merkel-Interview hat aber alles klargestellt. Dies war der Versuch gewesen, Zeit für eine Verstärkung der Ukraine zu gewinnen. Auf jeden Fall konnten die NATO-Länder zu jener Zeit Kiew nicht in dem Umfang unterstützen, wie sie dies gegenwärtig tun. In der deutschen Sprache gibt es diesbezüglich den Begriff „abgekartetes Spiel“, der als Betrug oder Täuschung ins Russische übersetzt wird. Infolge dieses Spiels wurde der russische Präsident in die Ecke gedrängt und begann angesichts der zunehmenden Bedrohung seitens der Ukraine, darunter auch für die Sicherheit der Krim die sogenannte spezielle Militäroperation am 24. Februar vergangenen Jahres.
Natürlich kann man einwenden, dass dies die russische Version der Ereignisse ist. Wie soll man sich aber nach dem bekanntgewordenen Betrug und Verlust von so viel Zeit angesichts der gut bewaffneten und geschulten Armee verhalten, die die Kampfhandlungen in den nichtanerkannten Republiken nicht einstellte? Heute gibt es diesbezüglich unterschiedliche und oft entgegengesetzte Standpunkte (wobei in Moskau gern unter den Teppich gekehrt wird, dass die Truppenkonzentrationen an der Grenze zur Ukraine im Grunde genommen für den Einmarsch vor fast einem Jahr bestimmt waren -Anmerkung der Redaktion).
Die militärische Sonderoperation konnte man durchaus bereits ganz am Anfang beenden. Dies räumte der frühere israelische Premier Naftali Bennett ein. Laut Bennett habe Putin im Verlauf eines ihrer ersten Treffen angeblich die Bereitschaft bekundet, auf die Entnazifizierung und Demilitarisierung als Ziele der militärischen Sonderoperation zu verzichten. Und Selenskij habe sich seinerseits zugunsten einer Aufgabe der Idee der Ukraine, der NATO beizutreten, ausgesprochen. Nach Meinung des israelischen Politikers habe jedoch der Westen im Weiteren beschlossen, „Putin zu zerschlagen und sich nicht abzusprechen“. Nach dem Gespräch mit Putin traf sich Bennett mit Kanzler Scholz, worüber die Zeitung „Die Zeit“ am 6. März 2022 berichtete. Über die Ergebnisse des 90-Minuten-Gesprächs hat die deutsche Seite jedoch nichts mitgeteilt. Während solche Meldungen periodisch auf den Seiten der Zeitungen auftauchten. So hatte der Berliner „Tagesspiegel“ am 25. Februar geschrieben, dass Selenskij angeblich Israel wirklich gebeten hätte, beim Erreichen von Verhandlungen über eine Feuereinstellung und eines Friedensvertrages zu vermitteln. Aber bisher ist unbekannt, was Scholz erwiderte.
In seiner Rede in Husum hat er seine Regierung für die Überwindung der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen gewürdigt. Obgleich es der Kanzler vor den Explosionen an den Gaspipelines „Nord Stream 1“ und „Nord Stream 2“ vorgezogen hatte, von der Wichtigkeit der Gaslieferungen aus Russland zu sprechen. Freilich, nach der Anerkennung der Republiken im Osten der Ukraine durch Russland legte Scholz die Inbetriebnahme von „Nord Stream 2“ auf Eis. Aber Gas war zuverlässig über „Nord Stream 1“ in die BRD geflossen. Bis vor kurzem waren die deutschen Behörden einer Antwort auf die Frage ausgewichen, wer die Gaspipelines gesprengt hatte. Aber in der Anfangsphase der Aufklärung dieses, wie sich die bundesdeutschen Behörden ausdrücken, Sabotageaktes war die Presse voll von Andeutungen und Anspielungen, dass dies angeblich die Russen selbst im Verlauf des unerklärten Wirtschaftskrieges gegen Europa getan hätten. Dieser Tage war nun laut n-tv Deutschlands Bundesstaatsanwalt gezwungen, öffentlich einzugestehen, dass die deutsche Seite keine Beweise dafür habe, dass Russland die Gaspipelines gesprengt hat. Scholz bemerkt aber vorerst nicht die neuen Momente in der Aufklärung des Falls der Liquidierung der Ostsee-Gasleitungen.
Und da sind schließlich noch die Befürchtungen des SPD-Kanzlers hinsichtlich einer Involvierung der NATO in den Krieg gegen Russland. Diesbezüglich hatten bereits im März vergangenen Jahres Juristen des Bundestages eine Analyse erstellt, die belegt, dass Deutschland bereits zu einer „Seite des Konflikts“ geworden sei. Daher lösen die Behauptungen des deutschen Regierungschefs den Eindruck aus, dass ihm diese Analyse nicht bekannt ist oder sie ihm nicht passe, da sie sich nicht in seine Konzeption der internationalen Ereignisse einfügt.
Der deutsche Politologe aus der Bundeswehr-Akademie Prof. Dr. Carlo Masala betont die Notwendigkeit der Verfolgung einer „Politik der Interessen“ durch den Westen. Im Grunde genommen hat der Westen nie solch eine Politik aufgegeben. Nur so kann man erklären, dass es Olaf Scholz vorzieht, wie sein Auftritt in Husum demonstrierte, alle öffentlich gewordenen Fakten, die der Politik der Interessen widerspricht, zu ignorieren.