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Die Proteste haben Turkmenistan erreicht


Turkmenistans Präsident Gurbanguly Berdymuchamedow ist zum Senator der Halk Maslahaty (deutsch: „Volksversammlung“, seit der Verfassungsreform das Oberhaus – Anmerkung der Redaktion) der Milli Geňeş (deutsch: „Nationaler Rat“ bzw. „Parlament“) gewählt worden. In der nächsten Zeit kann er zum Vorsitzenden des Oberhauses werden. Der Einzug des Staatsoberhauptes in das höchste Gremium der legislativen Gewalt widerspricht der Verfassung und hat bereits Unmut nicht nur bei oppositionell eingestellten Bürgern ausgelöst.

In Turkmenistan haben am 28. März Wahlen zum Oberhaus des Parlaments stattgefunden. In Aschgabat, Türkmenabat, Mary und Bayramaly haben Anhänger der oppositionellen Bewegung „Demokratische Wahl Turkmenistans“ Flugblätter mit der Forderung nach dem Rücktritt von Präsident Gurbanguly Berdymuchamedow verbreitet. Zwei von ihnen – Didar Aschirow und Dowran Gylydshow — wurden von Mitarbeitern des Ministeriums für nationale Sicherheit festgenommen, teilte der Vorsitzende der Bewegung Murad Kurbanow mit.

In den Kandidatenlisten war der Name von Gurbanguly Berdymuchamedow nicht gewesen. Daher war die Meldung, dass das Staatsoberhaupt in den Halk Maslahaty gewählt worden ist, eine überraschende. Die Vorsitzende der Mejlis, des Unterhauses des Parlaments, Gulschat Mamedowa gratulierte Berdymuchamedow und betonte, dass „100 Prozent der Wähler ihre Stimme für das Staatsoberhaupt abgegeben hatten“. Somit wurde, wie Radio „Asatlyk“ (der turkmenischsprachige Dienst von Radio Liberty) meldete, der 63jährige Gurbanguly Berdymuchamedow, der ins Oberhaus gewählt wurde, gleichzeitig Mitglied der legislativen Gewalt, wobei er das Oberhaupt der exekutiven Gewalt – der Präsident und Vorsitzende der Regierung – ist.

Einheimische Beobachter hoben sofort hervor, dass die Wahl des Präsidenten in die legislative Gewalt gleich zwei Artikel der Landesverfassung verletze, die eine Verbindung von Ämtern in der exekutiven Gewalt und des Status eines Parlamentsabgeordneten verhindern. Ja, ein Platz für den Präsidenten ist im Oberhaus des Parlaments vorgesehen, aber nur für einstige Präsidenten, die ihre Vollmachten niedergelegt haben. Bisher ist dies nicht geschehen. Und die Präsenz von Berdymuchamedow unter den Senatoren ist eine offene grobe Verletzung der Verfassungsnormen und löst nur erstaunte Fragen aus.

„Versionen, wofür diese Operation durchgeführt wurde, gibt es mehrere. Und sie alle können eigenständige sein oder einander ergänzen“, sagte der „NG“ der turkmenische Experte Serdar Aitakow. Seinen Worten zufolge sei Berdymuchamedow bekanntlich ein Anhänger und Verfechter des Mikromanagements. Ohne seine Aufmerksamkeit und sein Eingreifen bleibe nicht ein Prozess im Land, sei es die Überprüfung von Abiturienten-Listen der Hochschulen oder die Bestätigung von Medaillen für Champions unter Hunden. Der Satz „Der Präsident hat seine Anmerkungen geäußert.“ Erklingt beinahe zu jedem Anlass, bei jeder Sitzung des Ministerkabinetts oder beim Kennenlernen irgendeines sich in Bau befindlichen Objekts. „Er konnte einfach nicht erlauben, dass das neue Gremium der legislativen Gewalt ohne Aufsicht bleibt. Man weiß ja nie… Es ist unnötig zu sagen, dass die Abgeordneten-Kandidaten nicht so sehr überaus strenge Überprüfungen auf Loyalität als vielmehr auf eine maximale Ergebenheit persönlich gegenüber dem Präsidenten durchlaufen. Und mit ihrer Auswahl und ihren Überprüfungen auch inkl. der Stammbäume bis zur dritten Generation, aber auch mit kompromittierenden Materialien über sie befasst sich eine spezielle Struktur im Apparat des Präsidenten unter der Leitung eines Personalbeamten, der noch Erfahrungen aus der Parteiarbeit der Sowjetzeiten besitzt“, unterstrich Aitakow.

Der Experte betonte, dass im vorangegangenen Organ der legislativen Gewalt Halk Maslahaty der Präsident in seiner Eigenschaft als dessen Vorsitzender alle Machtzweige kontrollierte – die legislative, die exekutive, die Rechtsgewalt und selbst den Ombudsmann (gemeint ist der Menschenrechtsbeauftragte – Anmerkung der Redaktion). All diese Machtzweige: die Mejlis, das Ministerkabinett, der Vorsitzende des Obersten Gerichts, der Ombudsmann, die Vertreter aller zugelassenen politischen Parteien sowie nach Auswahl die Ältesten und Vertreter der Massenmedien – sie alle gehörten dem Halk Maslahaty an und waren dem Staatsoberhaupt unterstellt.

„Mit dem Einzug von Berdymuchamedow in das Oberhaus des Parlaments und seiner fast 100-%-igen Wahl zu dessen Vorsitzenden erhalten wir den gleichen Halk Maslahaty, in dem er aber die Kontrolle der Handlungen und Aktionen der Parlamentarier vornimmt und sich die Möglichkeit einer Blockierung, einer Unterbindung oder eines Kupierens eines jeglichen Aufmuckens ergeben wird“, meint Aitakow.

Laut einer anderen Version sei nach Aussagen des Experten die Erlangung des Status eines Parlamentariers durch Berdymuchamedow Teil einer aus mehreren Zügen bestehenden Operation für den Machttransit, genauer gesagt: für eine Rochade und Verlagerung des Machtzentrums sowie für eine formale Annahme von Entscheidungen in einem kollegialen Gremium. „Und natürlich ist dies eine Maskierung der persönlichen Verantwortung, für deren Verwässerung angesichts der offenkundigen Notwendigkeit des Unternehmens unpopulärer Schritte in der Wirtschaft, aber auch der Notwendigkeit einer kollektiven Unterstützung oder kollektiven Initiative bei der Annahme von Entscheidungen über ein Anziehen der Daumenschrauben oder einfacher gesagt: über Repressalien. In diesem Fall kann der Präsident stets sagen, dass ihn die Abgeordneten „gebeten haben“. Eine Methode, die früher durch Nijasow genutzt wurde (Saparmurat Nijasow – Turkmenistans erster Präsident – „NG“), ja aber auch durch Berdymuchamedow, beispielsweise als die Ältesten „baten, die soziale Unterstützung für die Bevölkerung“ in Form von kostenfreiem Gas, Wasser, Mehl und Salz aufzuheben“, vermutet Aitakow.

Die dritte Version habe nach Meinung des Experten gleichfalls eher keine politische, sondern eine mentale Grundlage. Entsprechend den Verfassungsnormen besteht das Oberhaus des Parlaments aus Vertretern aller Landesregionen und Aschgabat als Hauptstadt. Dazu benennt der Präsident gemäß seiner Quote acht Personen in diese Kammer. Sich aber vorzustellen, dass irgendein anderer das Hauptorgan der legislativen Gewalt, das alle Regionen des Landes vereint, leitet und zu einer selbständigen politischen Figur mit großen Vollmachten wird, dies können Berdymuchamedow und seine Umgebung einfach nicht. Dies würde die gesamte Konzeption des Instituts des Personenkults kompromittieren, die er und seine Umgebung das wievielte Mal in das Staatssystem zu integrieren versuchen. Einfach so und ohne Skandal den missliebig oder unkontrollierbar gewordenen Vorsitzenden des Oberhauses des Parlaments abzusetzen, wird Berdymuchamedow selbst im Falle einer äußersten Notwendigkeit nicht gelingen. Dies aber wird alle festgefahrenen Schablonen bereits in Stücke zerreißen.

„Diese ganze Operation, die Hast ihrer Durchführung, die Nachlässigkeit bei der Realisierung und der offenkundige Widerspruch zu den Verfassungsnormen sehen merkwürdig aus. So wurde für das Voranbringen des Präsidentensohnes Serdar Berdymuchamedow auf der Karriereleiter die Gesetzgebung entweder lange im Voraus oder vor dessen Einsetzung in ein neues Amt geändert, um unterschiedliche Kollisionen und Zweifel hinsichtlich der Legitimität der Einnahme des einen oder anderen Amtes durch ihn zu vermeiden sowie um eine Zweideutigkeit und Zweifel an der Gesetzlichkeit wie im Falle des Machtantritts von Berdymuchamedow an sich zu umgehen“, sagte Aitakow.

Es ist kein Geheimnis, dass nach Annahme der Superpräsidenten-Verfassung im Jahr 2016 und der Ergänzungen zu ihr im Jahr 2017 ausländische Berater den turkmenischen Offiziellen eindringlich geraten hatten, zumindest den Anschein eines zivilisierten Machtsystems zu erwecken und den Halk Maslahaty aufzulösen, der das Prinzip der Gewaltenteilung zerstört hatte. Aus irgendwelchen Erwägungen hatten die turkmenischen Herrschenden entschieden, dieses Spiel mitzuspielen, und ließen sich auf die Annahme dieser Empfehlungen ein, womit sie ihre ausländischen Berater und Lobbyisten erfreuten. Berdymuchamedow hat sie jedoch erneut in eine unangenehme Situation gebracht, indem er noch einmal zeigte, dass das von ihm errichtete Machtsystem nicht in der Lage ist, bei minimalen Freiheiten zu funktionieren. Aber er selbst ist auch nicht im Stande, selbst Gedanken darüber zuzulassen.

Ungeachtet der vollständigen Kontrolle lenken turkmenische Aktivisten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Usurpieren der Macht.