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Die Proteste verlieren an Dynamik


In Russland hat am 13. März eine erneute Serie von Aktionen „für Frieden“ stattgefunden. Oppositionelle Informationsressourcen behaupten, dass Protestaktionen unterschiedlicher Art – von Mahnwachen bis Märsche – in mindestens 81 Städten erfolgt seien. Dabei sind weniger Menschen als am 6. März auf die Straßen gekommen. Aber der Prozentsatz der Festnahmen, nach wie vor demonstrativ harter, hat sich nicht verringert. Fortgesetzt hat die Polizei auch die Praxis des Blockierens von Reportern, die emotionale Bilder ins Internet stellen, wofür diese Proteste auch initiiert werden – allem nach zu urteilen durch die emigrierte Opposition.

Wie auch in der vergangenen Woche hatten die Rechtsschützer die Stadtzentren erneut in Sektoren aufgeteilt, um der kritischen Masse von Pazifisten nicht zu erlauben, an einem Ort zusammenzukommen. Obgleich am 13. März nicht so viele Menschen wie am 6. März auf die Straßen gekommen waren, waren die Verhaftungen nach wie vor rabiate.

Die Dynamik sah wie folgt aus: Jede Stunde wurde die Liste der in Polizeireviere gebrachten Menschen um etwa 200 länger. Und im Endergebnis machte ihre Zahl nicht weniger als eintausend aus. Es sei daran erinnert, dass in der vergangenen Woche das Innenministerium in der Nacht zum Montag von 3.500 Festgenommenen im gesamten Land berichtete. Menschenrechtsprojekte nannte sogar höhere Zahlen.

Im Vergleich zur Vorwoche hat die Dynamik der Aktionen doch stark abgenommen. Doch am 6. März war die geografische Reichweite der Protestaktionen etwas geringer. Erfasst wurden 69 Städte. Am Sonntag seien laut Versicherungen der Organisatoren und Inspiratoren der Aktionen, die sich in der politischen Emigration befinden, 81 Städte erfasst worden. Allerdings hat ein Teil der angekündigten Aktionen scheinbar nicht stattgefunden. Im Internet waren viele Fotos mit Polizeibeamten aufgetaucht, die abgesperrte, aber leere Plätze bewachten.

In Moskau ist es beispielsweise im Unterschied zum vorangegangenen Weekend nicht zu einem spontanen Marsch in Richtung Manege-Platz gekommen, wo die teilweise wahllosen Verhaftungen noch vor der angekündigten Anfangszeit begannen. Dabei erhielten die Reporter unterschiedlicher Medien von den Vertretern der Rechtsschutzorgane klare Warnungen, dass es sich nicht lohnen würde, dicht an sie oder an die Gefangenenautos heranzukommen. (Fragwürdige Polizeihandlungen mögen in Russland keine Zeugen. – Anmerkung der Redaktion). Vom Prinzip her aber hatte die Polizei den Mitteilungen vom Ort der Geschehen nach zu urteilen eine interessante Taktik verfolgte, wonach Journalisten in Polizeireviere zwecks Klärung von Details ihrer Redaktionsaufgaben gebracht wurden. Und wie auch das letzte Mal endeten diese scheinbaren Nichtfestnahmen nicht einmal mit verbalen Ermahnungen und Warnungen. Man hatte die Presse einfach erst dann wieder auf freien Fuß gelassen, als auf den Straßen schon nichts mehr zu fotografieren bzw. zu filmen und zu beschreiben war.

In Petersburg, wo es am 6. März nicht wenige protestierende Pazifisten gegeben hatte, spielte auf dem Platz neben dem Gostiny Dwor am Newski-Prospekt erneut ein Militärorchester. Zu dessen Musik starteten auch 15 Minuten nach Beginn der nichtsanktionierten Aktion die Festnahmen sowohl von deren Teilnehmern als auch scheinbar zufälliger Passanten, die entschieden hatten, ihre Neugier zu befriedigen. Im Venedig des Nordens hatte die Polizei gleichfalls Journalisten so weit wie möglich vom Ort des Geschehens weggebracht. Im europäischen Teil der Russischen Föderation sind die Reihen der Protestierenden stark ausgedünnt gewesen. Im sibirischen und östlichen Teil des Landes erfolgten Aktionen unter anderem in Perm, Jekaterinburg, Nowosibirsk, Irkutsk, Barnaul. Chabarowsk, Komsomolsk-am-Amur und Wladiwostok, wo gleichfalls keine bedeutende Zahl von Menschen auf die Straßen gekommen war.

Möglicherweise hatte dies die repressive und prophylaktische Arbeit bewirkt, die sofort nach dem 6. März und im Vorfeld des letzten Sonntags durch die Vertreter der Rechtsschutzorgane vorgenommen wurde. Beispielsweise hatte am Vorabend in Iwanowo die Polizei einen Mann mit einem Plakat festgenommen, auf dem nur acht Sternchen gewesen waren, die in zwei Gruppen aufgeteilt gewesen waren. Gegen ihn hatten die Polizeibeamten, die die verbotenen Worte erraten bzw. erahnt hatten (auf Russisch „Stoppt den Krieg!“), ein Protokoll entsprechend dem Anti-Fake-Artikel 20.3.3. des Ordnungsstrafrechts aufgesetzt. Allerdings hat man am 13. März bei Protestaktionen auch Bürger mit leeren Papierblättern in den Händen festgenommen. (Die Angst vor nur dem geringsten Widerstand und Protest gegen die russische Militäroperation in der Ukraine führt zu solchen erschreckenden Auswüchsen von Willkür. – Anmerkung der Redaktion)

Der Leiter der Politischen Expertengruppe Konstantin Kalatschjow sagte der „NG“, dass, wenn man die Stimmungen und Handlungen vergleicht, so „kommt doch relativ wenig Volk auf die Plätze“. Erstens gebe es keinen zeitgemäßen Trigger, zweitens gebe es auf den Straßen keine Anführer der Proteste. Drittens, da sich das Land an der Schwelle einer Wirtschaftskrise befinde, sei es für die Menschen schlimm, ohne Arbeit zu bleiben oder eine Exmatrikulation zu bekommen. Und ein Letztes: Es gebe nicht die kritische Masse an Bürgern, die die Aktionen zu wirklich öffentlichen und massenhaften mache. „Heutzutage kommen die aktivsten und emotionalsten auf die Straßen, sowohl junge Menschen als auch Menschen der älteren und mittleren Generationen, die im Stil „ein friedlicher Himmel über den Köpfen ist das Wichtigste“ erzogen worden sind. Dabei macht es jedoch keinen Sinn, anhand der Proteste über die realen Stimmungen zu urteilen. Darüber berichten besser – sagen wir einmal – zumindest die Ausmaße der Emigration. Bei den im Land bleibenden Menschen aber wird eine Überlebensstrategie über die zivilgesellschaftliche Haltung die Oberhand gewinnen“, meint der Experte. Nach Meinung Kalatschjows bestehe jedoch der Hauptgedanke der Vertreter der Sicherheitsorgane doch nicht in Repressionen, sondern in einer prophylaktischen sowie erzieherisch-didaktischen Einflussnahme. „Unter Berücksichtigung dessen, dass sich die Sonderoperation auch in die Länge ziehen kann, worauf sich auch noch die Wirtschaftssituation auswirkt, haben die Offiziellen die Befürchtung, dass sich der Protest in einen wahrhaft massenhaften verwandeln könne. Für die Herrschenden sei jetzt jedoch gar wichtiger, dem Land und der Welt solch ein Bild zu demonstrieren: Hier sind das Volk und die Herrschenden, die vereint sind, und da sind die Abtrünnigen“, unterstrich der Experte.