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Die Psychoideologie von Kriegen


Übungen in der allgemeinen Theorie sind eine schwierige Beschäftigung, während in der realen Zeit Menschen ums Leben kommen. Aber eine generelle Korrektur der Vorgehensweisen und der eigentlichen Optik des analytischen Untersuchens kann selbst in solch einer operativen Lage erforderlich sein. Andernfalls ergeben sich dann auf den Ruinen der ideologischen Fronten kritische Probleme mit der Wiederherstellung der Kommunikation und Gedanken.

 

Eine gewöhnliche Verrenkung

 

In der Philosophie von Gewaltkonflikten gibt es auch eine Grundfrage. Der nackte zweckgebundene rationale Charakter geht davon aus, dass die „objektiven“ Verteilungen und Berechnungen hier primär sind, das Bewusstsein und die Emotionen – sekundär. Alles zu Menschliche zu ignorieren, darunter verborgene Motive und Leidenschaften, ist für das Selbstbewusstsein der Politik natürlich, höhlt aber die „Wissenschaft“ aus. Ein geradliniger Schematismus wird bereits offenkundig mit den Turbulenzen der Geschichte und den Überraschungen des Prozesses, die ganz und gar keine infantilen sind, nicht fertig. Wenn bei Analytikern ein Bild zerfällt und eine erneute erklärende Konstruktion zusammenbricht, versucht man, die Anfangsberechnungen im Nachhinein einfach den realen Wirkungen anzupassen. Und das Ergebnis erklärt man zum Ziel.

Von daher die Frage zur eigentlichen Metaphysik des Sujets: Sind nicht die Veränderungen des idealen Bildes, darunter des Weltbildes, nicht weniger wichtige Ziele von gewaltsamen Operationen als die „physische“ Neuziehung von Grenzen und Neubestimmung von Zuständen? In welchem Maße sichert die Ideologie Eroberungen ab? Und in welchem Maße wirken Menschenverluste und Aufwendungen für Ressourcen für das Erobern von Gedanken, das heißt: für einen Sieg der Ideologie? Wie sich ein Politologe einmal ausdrückte, können die Antworten auf diese Fragen nur rhetorische sein.

 

Die Steuerung der Feindschaft

 

Das militärische Management wird überhaupt als schwierigstes, wenn nicht gar als raffiniertestes angesehen. Die Kampfhandlungen betrachtet man gewöhnlich auch als Unternehmungen, deren wirtschaftlicher und geostrategischer Effekt sich für eine rein geschäftliche Kalkulation eignet. Nur ein Business…

Aber in gewaltsamen Konflikten läuft bei weitem nicht alles und nicht immer auf eine Jagd nach einem Gewinn solcher Art hinaus. Mitunter entscheiden psychoemotionale, symbolische und gar ästhetische Momente.

In den militärischen Berechnungen ist selbst die gewöhnliche geschäftliche Komponente kompliziert. Man kämpft im Interesse einer Steuerung der Popularität, von Ratings und der Legitimität an sich. Sackgassenartige Probleme umgeht man durch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit, wobei man das Publikum in eine Armee politischer Schlachtenbummler verwandelt. Eine offensive Vereinigung und die Begeisterung an einer Schlägerei sind beinahe die beste Psychotherapie für Komplexe, von Persönlichkeits- und kollektiven Komplexen sowie denen der Massen.

Schließlich gibt es hier auch einen instrumentalen, einen manipulativen Grundgedanken: Oft kämpft man, um einfach Menschen „zur Räson zu bringen“. Oder im Interesse einer Selbstbestätigung, eines politischen Gestikulierens „vor dem Spiegel“. Von daher auch die Mythen über eine Unvorhersehbarkeit einzelner Funktionäre, die tatsächlich vollkommen voraussagbare sind, aber in anderen Motivationen. Und von daher auch die Flops in den Strategien für eine Beeinflussung derjenigen, die durch umständliche und belastende Maßnahmen Schuld auf sich geladen haben. Diese Maßnahmen können, selbst wenn sie einen sichtbaren Schaden zufügen, den „zu Erziehenden“ gerade das geben, was jene erwarten, wenn nicht gar danach sozusagen dürsten.

Als ein Theater von Kampfhandlungen, einen Kriegsschauplatz bezeichnet man in der Fachliteratur vor allem das Territorium realer und möglicher Gefechte. Das Wort „Theater“ wird hierbei räumlich, architektonisch begriffen, als gigantische Bühnen, die von den (Zuschauer-) Rängen der Stäbe und aus der Loge des Kommandierenden zu überschauen sind. Jedoch kann man das Wort „Theater“ an sich (als auch „Management“) weiter auffassen.

Das Theater im Leben, dies sind auch noch Gefühle (Gemütsbewegungen), ein Affekt und eine Katharsis, eine Dramaturgie und Regiearbeit, die Arbeit von Schauspielern, Bühnenbildern, Dekorateuren und Ausstattern (Requisiteuren) sowie von Meistern von Geräusch- und Lichteffekten. Außerhalb des (Theater-) „Kastens“ sind dies auch noch die Theaterkritik, das gesamte System von Bewertungen und Auszeichnungen sowie das reiche mondäne Leben. All dies ist auch der Kriegskunst nicht fremd. Die Anerkennung ist hier oft wertvoller als reale Errungenschaften. Und dies ist nicht bloß eine Phrase. Der Krieg ist ein Theater, in dem wir — Gott sei Dank — nicht alle Schauspieler sind.

Es ist nicht immer klar, was wichtiger ist – das Management der Funktionen und Aufgaben oder das Theater der Gemütsbewegung, das Massen von Verehrern und begrenzte Kontingente von Fans hervorbringt. Dies ist stets ein Gleichgewicht. Und ein sehr dynamisches. Aber vom Begreifen solcher Proportionen hängt ab, was und warum man als einen Sieg erklären kann und was der bedingt zulässige bzw. annehmbare Preis der Frage ist. Für was sterben – für die Heimat oder im Interesse von Ovationen? Besser ist das Wort „Beifall“. Und (ein Werfen von) Kappen in die Luft…

 

Von der Psychohistorie…

 

Die Kult-Regel in der Soziologie von David Émile Durkheim (1858-1917, französischer Soziologe und Ethnologe – Anmerkung der Redaktion) lautet: „Wenn eine soziale Erscheinung direkt mit einer psychologischen Erscheinung erklärt wird, muss man nicht bezweifeln, dass die Erklärung eine falsche ist“. Für uns ist dies hier nur deshalb interessant, weil das denkende Publikum vor allem auch so denkt. Die Behauptungen, wonach Menschen nicht für das Metall und nicht gegen feindliche Blöcke, sondern unter dem Einfluss eigener Komplexe und Phantasien ums Leben kommen können, werden stillschweigend als von einem Begreifen des Wesens der historischen Materie ferne angesehen.

Die Psychohistorie befasst sich (lt. Lloyd deMause) mit einer universalen Analyse der Motivationen. Dabei hat es sich geschichtlich so ergeben, dass sich Lloyd deMause (1931-2020, ein US-amerikanischer Sozialwissenschaftler und ein Pionier der Psychohistorie – Anmerkung der Redaktion) an sich gerade mit der Kriegsgeschichte befasste. Hier sind einige Zitate aus seinen Arbeiten.

„Es scheint, dass es die Historiker nach den Worten „Machtgier“ schon nicht für nötig halten, sich auf weitere Überlegungen einzulassen, und nicht einmal nachfragen, „warum ist gerade ein Krieg zum Mittel für die Lösung der einen oder anderen wirtschaftlichen Meinungsverschiedenheit geworden“. „Die Historiker füllen weiterhin ganze Bibliotheken mit Beschreibungen von Wirtschaftsbedingungen auf, …wobei sie sich nicht die Mühe machen, die Worte und Taten der Führungskräfte zu analysieren, die einen Krieg entfesselten…“. „Meine eigenen Untersuchungen stellen die Motive für die Handlungen derjenigen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die eine Entscheidung treffen, aber auch jener, die eine Erwartungsatmosphäre schaffen und damit eine Entscheidung über einen Krieg fördern“. „Als Kaiser Wilhelm II., der Österreich-Ungarn aufgestachelt hatte, die Sache bis zu einem Krieg gegen Serbien zu treiben, erfuhr, dass Serbien faktisch allen übermäßigen Forderungen Österreichs zugestimmt hatte, erklärte … er: „Damit entfällt jeder Kriegsgrund.“ (Kaiser Wilhelm II. nach Erhalt der serbischen Antwortnote auf das Ultimatum vom 23. Juli 1914 – Anmerkung der Redaktion). Und er befahl Wien, eine Politik der Aussöhnung zu verfolgen. Aber die Appelle der Gruppen-Phantasie waren zu stark… Und der Krieg brach dennoch aus.“ „Der manische Optimismus und die unweigerliche Unterschätzung der Dauer und Brutalität des Krieges, eine Zunahme der Paranoia bei der Beurteilung der Motivation des Gegners, dies und andere offensichtliche Irrationalitäten dienen als Anzeichen dafür, dass sich eine mächtige Gruppen-Phantasie zu verwirklichen begann.“ …

Oder umgekehrt. Woodrow Wilson (28. Präsident der Vereinigten Staaten – Anmerkung der Redaktion), den man Anfang 1917 buchstäblich zum Ersten Weltkrieg zu treiben begann, erklärt: „Dies ist dennoch nicht das, was ich erwarte. Dies ist unzureichend. Wenn sie aber bereit sein werden, mit Hurra-Rufen loszulaufen, werde ich ihre Bereitschaft in Anspruch nehmen“.

 

… zur Psychoideologie

 

Dies alles kommt aber einzelnen Episoden näher, die Fernand Braudel (1902-1985, französischer Historiker – Anmerkung der Redaktion) als „Geschichte der Ereignisse“ (französisch: histoire événementielle) und sogar „historischen Staub“ bezeichnete. Wenn es aber um kompliziertere Zusammenhänge und Prozesse geht, um größere Zeitabschnitte und die mehrschichtigen Strukturen des Bewusstseins und des kollektiven Unbewussten, spielt die Psychoideologie ihre Rechte aus.

Die Ideologie als solche orientiert den Menschen in der Welt, der Geschichte und den Beziehungen. Und wie banal dies sein mag, die Menschen sind solch einer Auffassung, denn sie denken so (man hat es ihnen so gesagt). Hinsichtlich der Psychoideologie denken die Menschen so, da sie so fühlen. Und dies ist weitaus markanter und stärker. Oder zumindest nicht so schwermütig, wie in einer Provinz am Meer.

Dies sind die Chinesen, die abwarten, bis die Leichen der Feinde vorbeizutreiben beginnen. Die Russen sind in schicksalsschweren Minuten von Glück beseelt. Und diese Freude trüben oft nicht einmal die Leichname der eigenen. Der Mangel an Bedeutsamkeit und die unterdrückte Unzufriedenheit über sich selbst werden durch das Beteiligtsein an der Stärke und Größe des Ganzen, am Pathos der Bewegung und des eigentlichen historischen Moments kompensiert.

Wenn es schwer ist, einen Menschen zu überzeugen, indem man ihn für eine andere Ideologie gewinnt, so ist es noch schwieriger, ihn zu zwingen, „Gefühle zu zeigen“. Daher kann man hier logisch, anhand von Argumenten einander fast gar nichts beweisen, man kann aber die Beziehungen verderben und in starkem Maße voneinander enttäuscht sein.

Gewöhnlich sieht man in der Ideologie eine Form von Herrschaft und Unterordnung, ein Mittel zur Manipulation über Ideen und Vorstellungen („Bewusstsein für einen anderen“). Aber der Mensch kann eine Ideologie auch für sich, für eine interne Nutzung hervorbringen. Mitunter erfinden die Menschen für eine Rechtfertigung eigener Taten oder eine Unterlassung, für zweifelhafte Erfolge oder großer Flops überaus komplizierte gedankliche Bauten und „Theorien“, beinahe weltanschauliche.

Wenn für eine gewöhnliche Ideologie eine Kommunikation, ein Objekt der Beeinflussung notwendig sind, so ersetzt dies alles im Bewusstsein des Individuums wie in einem Mikrokosmos der Gesellschaft ein innerer Dialog. Neben eigentlichen Psychologen, die über den „inneren Dialog“ und eine „innere Rede“ sowie über eine „Autokommunikation“ geschrieben haben (Lew Semjonowitsch Wygotski, Wladimir Solomonowitsch Bibler, Martin Buber, Alexander Romanowitsch Lurija, Jean Piaget, Alexei Alexejewitsch Uchtomski), kann man sich an Carlos Castaneda (1925-1998, US-amerikanischer Ethnologe und Schriftsteller peruanischer Abstammung – Anmerkung der Redaktion) erinnern. „Wir unterhalten uns mit uns selbst über unsere Welt. Faktisch schaffen wir unsere Welt durch unseren inneren Dialog… Wir wählen gleichfalls unsere Wege entsprechend dem aus, was wir uns sagen… Der Krieger begreift dies und strebt an, seinen inneren Dialog zu beenden“, betonte Castaneda.

Zuspitzungen von Konflikten offenbaren im einzelnen Menschen eben jene ideologische Arbeit und das Ringen wie auch in der Gesellschaft. Die gleichen Mechanismen für eine Mobilisierung und Konsolidierung, für einen psychischen Schutz und eine Selbsttherapie, für die Gestaltung eines Weltbildes und die Orientierung in der Welt (aber bereits in seiner eigenen inneren Welt). Dies ist auch ein „Bewusstsein für einen anderen“, aber nur für einen anderen in sich. Und dies ist keine Schizophrenie, keine dissoziative Identitätsstörung (die im Alltag irrtümlich als gespaltene Persönlichkeit bezeichnet wird). Eher umgekehrt: Dies ist eine Norm eines denkenden Menschen.

Tatsächlich wird Politik in der als klassisch geltenden Version von Carl Schmitt (1888-1985, deutscher Staatsrechtler, der auch als politischer Philosoph rezipiert wird, wobei er einer der bekanntesten und zugleich umstrittensten deutschen Staats- und Völkerrechtler des 20. Jahrhunderts ist – Anmerkung der Redaktion) als die Opposition „Freund – Feind“ definiert (ähnlich dem wie in der Wissenschaft „wahr oder falsch“). Die Psychoideologie macht diese auf ihre Art militante konfliktgeladene Opposition von „Freund und Feind“ in einem einzelnen Menschen aus. In den inneren Konturen der Persönlichkeit können der Kampf und die Konflikte mit sich selbst nicht bloß zu einer inneren Polemik ausarten, sondern auch zu gewissen „Sonderoperationen“ und wahren Kriegen, die nicht selten das Leben und die Persönlichkeit an sich zerstören. Aber in solchen Auseinandersetzungen gibt es auch eine eigene Produktivität. Mehr noch, die vermittelt auch eine besonders kreative Herangehensweise an die Persönlichkeit wie an einen „kleinen Staat in sich“ und zu einem Staat wie zum analogen einer gewaltigen Persönlichkeit mit einem vollständigen Satz an Anthropomorphismen (Übertragungen menschlicher Eigenschaften auf Nichtmenschliches, besonders in der Vorstellung, die man sich von Gott macht – Anmerkung der Redaktion).

In der Persönlichkeit wirkt beispielsweise schon nicht einfach eine gewöhnliche Selbstzensur, die die Auftritte eines vorsichtigen Menschen nach außen filtert, sondern auch eine separate Selbstkontrolle, die bestimmt, was der Mensch sich selbst sagen kann oder nicht kann. Mitunter kommt solch eine Selbstzensur hinsichtlich der Härte einer von der Front nahe. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Menschen hier nicht einfach verstummen, sondern auch noch „blind werden“.

Und schließlich befindet sich die Stellung der Ideologie und Psychoideologie in einem Spektrum zwischen den Polen in der Opposition „Glaube – Wissen“. Am Pol des Glaubens tendiert die Ideologie zum Pol der Religion, am Pol des Wissens aber zum Pol der Philosophie oder zumindest einer genauen, einer glaubwürdigen Untersuchung. Militär-Chroniken und Interpretationen erinnern nicht zufällig an Versuchsveranstaltungen mit Protokollen einer Analyse und logischen Schlussfolgerungen. Streng genommen sieht jedoch jede recht allgemeine weltanschauliche Äußerung gleichzeitig sowohl wie eine philosophische als auch wie eine ideologische aus. Der Unterschied besteht in einem (und er ist ein prinzipieller): Während die Ideologie versucht, Nichtoffensichtliches als Offensichtliches darzustellen, so befasst sich die Philosophie dagegen mit einer systematischen Kritik der „Offensichtlichkeit“. Sie versucht, das Nichtoffensichtliche im angeblich Offensichtlichen aufzudecken. Dies ist eine notwendige Komponente des Bewusstseins jeglicher Gesellschaft, die das Bedürfnis verspürt, ihre Konflikte zu begreifen und real zu bewerten sowie die allgemeinsten Folgen von gewaltsamen Handlungen zu prognostizieren.

In offenen Konflikten kann diese Arbeit sogar eine konspirative sein, für eine interne Nutzung (entsprechend dem Prinzip „besser solch eine als keine“). Auf jeden Fall aber erlaubt dies, die wahrhaftige Philosophie, die für eine unvoreingenommene Orientierung in der Welt und in der großen Geschichte notwendig ist, nicht bis auf das Niveau einer angeblich tiefgründigen Agitation und Propaganda abzusacken.

Was aber die Psychoideologie angeht, so ist dies eine separate Zone für die Ausgestaltung kollektiver Grundsätze und Wünsche, gemeinsamer Komplexe einer Überlegenheit und eines Grolls, des Grandiosen und der Allmächtigkeit, der Ausschließlichkeit und Prädestination, der Mission und des Messianismus. Ein tiefgreifendes Ressentiment und Größenwahn vereinen Ausbrüche eines narzisstischen Zorns und einer narzisstischen Wut als Antwort auf jede beliebige Kritik (s. „Narziss in einer Rüstung. Die Psychoideologie des grandiosen Ichs in der Politik und an der Macht“. Moskau: Verlag „Progress-Tradition“, 2020).

Von solcher Art ist die ideale Energetik von Angriffslust.

 

Die Psychoideologie des Todes und des Glanzes

 

Narzissmus versteht man im Alltag gewöhnlich als eine insgesamt harmlose, sogar leicht komische Besonderheit im Charakter und Verhalten einzelner Persönlichkeiten einschließlich Freunde. Es macht aber Sinn, den antiken Mythos von Narziss aufs Neue zu lesen. Dies ist eine Geschichte subtiler Strafen und qualvoller, schrecklicher Todesfälle, die poetischste und gleichzeitig eine tragische. Und eine unendliche: „Da auch noch, wie er längst dem Reich der Toten gehörte, schaut er sich selbst in der stygischen Flut“ (eine andere Version des gleichen Autors der Übersetzung der „Metamorphosen“ von Ovid, Johann Heinrich Voß: „Aber auch dann, nachdem in die untere Wohnung er einging, schaut’ er sich selbst in stygischer Flut“. – Anmerkung der Redaktion).

Generell gesagt kommt Narzissmus als ein konstruktiver und ein destruktiver vor. Der konstruktive Narzissmus ist in einem bestimmten Sinne genauso produktiv im Kampf wie auch im Schöpfertum. Zur gleichen Zeit aber verbindet die Philosophie nicht zufällig den Narzissmus mit einem Todestrieb, was im Leben seine bösartigen Formen bestätigen, darunter mörderische im direkten Sinne. Vor einer Aggression durchdrungen sind auch leichtere Formen, angefangen bei einer gewöhnlichen Akzentuierung und einschließlich Abweichungen, Destruktionen und Störungen, Pathologien und klinischer Zustände.

In der heutigen Welt sind die auch noch besondere Risiken. Nur zwei Beispiele:

1) die „Goldwater-Regel“, die zu der ethischen Bestimmung gehört, die Psychiatern und Psychologen nicht erlaubt, über den psychischen Zustand von Vertretern des öffentlichen Lebens zu spekulieren, besonders wenn sich diese Menschen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit befinden, sei es bei einer Wahlkampagne oder mitten in einem Krieg, denn sie bekleiden Staatsämter (sie besagt aber auch, dass Psychiater und Psychologen nur dann den Gesundheitszustand einer Person beurteilen dürfen, wenn sie ihn oder sie selbst untersucht haben – Anmerkung der Redaktion);

2) die Bewegung „Psychiater gegen den Trumpismus“ mit der Diagnose „bösartiger Narzissmus“ von dem bekannten klinischen Psychotherapeuten John Gartner und dem Genie des Noirs Stephen King: „Trump verkörpert einfach das klare Beispiel einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung… Dass dieser Junge den Finger auf dem roten Knopf hat, ist schrecklicher als jegliche Horrorgeschichte, die ich verfasst habe“.

Aber dies sind auch systematisierte Verbindungen. Einige großangelegte Gefechte besitzen in der Regel eine ideologische Unterstützung. Und die Ideologie ist stets narzisstisch, umso mehr die Psychoideologie, die mit einer Heroik und Selbstaufopferung verbunden ist. Es gibt nichts Erstaunliches darin, dass die militärische Elite immer durch eine Konzentration Selbstverliebter glänzte. Und nicht zufällig haben sich die Militärs vor dem Hintergrund der Zivilisten in Flaum und Staub gekleidet. Zu sehen ist dies an der Kampfausstattung von Stammeskriegern, dem Glänzen der Rüstungen von Legionären und Rittern sowie anhand aller späteren dekorativen Ausschweifungen, beispielsweise bei den Husaren. Und selbst heutzutage tendieren die neueste Gefechtstechnik und das Präsentieren zu Kunstschätzen eines spezifischen Designs.

Im friedlichen Leben sind die vor allem Probleme der Biographie in den Dimensionen der nächsten Geschichte. Ein Kind kann man zu einem potenziellen Narziss machen, indem man es entweder gottlos vereinnahmt oder veranlasst, die frühe Krise eines Entwertens in der Zeit durchzumachen, in der die künftige Persönlichkeit besonders eines uneingeschränkten Schutzes und der elterlichen Freuden bedarf. Das gleiche gilt für soziale und politische Regimes im Stadium der Herausbildung.

Unter (Boris) Jelzin hatte sich unser Zentrales Fernsehen regelmäßig über die heimischen Herrschenden in der gleichen Lexik geäußert, in der es sich heute über die Offiziellen in der Ukraine ausdrückt („Genozid“, „Besatzungsregime“, „Auslieferung an den kollektiven Westen“). Dies war besonders ungeheuerlich vor dem Hintergrund aller früheren Selbstbewertungen. Das neue Russland war kaum zur Welt gekommen, doch im Bewusstsein und im Unbewussten der Gesellschaft war noch lange die Psychoideologie von einem einmaligen Schicksal und einer globalen und historischen Größe präsent gewesen (und ist nach wie vor präsent). Selbst die durch Ideen hervorgebrachte und politische Skepsis vermochte nicht vollkommen das Bild von der UdSSR als ein Land in der Rolle eines Vorreiters des Zivilisationsfortschritts, das sich auf dem Höhepunkt der weltweiten historischen Entwicklung befindet, auslöschen. Dies lag tiefer als die „stilistischen“ und anderen Meinungsverschiedenheiten. Und mit solch einer Psychoideologie war das Land in die System-Krisen der 1990er geraten!

Umso mehr muss man die ganze Bedingtheit und gar das Illusorische der postsowjetischen Deideologisierung begreifen. Sie tangierte vor allem nicht so sehr das System der Ideen als vielmehr das System der Institute. Die Ideologie hört dort auf zu existieren, wo man sich daran gewöhnt hatte, sie zu sehen (in der ideologischen Abteilung des ZK, dem Sekretär für Ideologie als zweiten Mann im Staat, in der parteipolitischen Aufklärungs- und Bildungsarbeit, der Zensur, dem überaus mächtigen System für eine globale ideelle Expansion mit dem Verlag „Progress“ im Guinness-Buch der Rekorde).

An die Stelle der quasiwissenschaftlichen, rational gestalteten und streng verpackten Ideologen des sowjetischen offiziellen Tenors, an die sich alle so gewohnt hatten, traten neueste Formen einer Schatten- einer latenten, eindringlichen, diffusen usw. Ideologie. Da gibt es erstaunliche Wirkungen: Eine staatliche Ideologie als solche gibt es angeblich nicht, dabei kontrolliert aber der Staat effizient die ideologischen Strukturen des Bewusstseins und gar des kollektiven Unbewussten.

Mitunter führen sich die Offiziellen einfach ideologisch als Partisanen auf dem eigenen Territorium auf, aber nicht, weil man sich für irgendetwas geniert, sondern weil dies gerade auch funktioniert. Vor diesem Hintergrund ist eine Wiederbelebung alter Modelle und Schemas (zum Beispiel die Erstellung von Verzeichnissen „traditioneller russischer Werte“ analog zu den bekannten Kodexen) zum Scheitern verdammt und stört nur.

Die wichtigste Übernahme aus der sowjetischen Ideologie ist heute natürlich das Bild vom Großen Sieg. Es ist nicht bloß zum zentralen und beinahe einzigen geworden, sondern hat auch praktisch alle übrigen Siegesepisoden der russischen Geschichte verdrängt. Im „Ukraine-Projekt“ wird diese Ressource – was eingestanden werden muss – vergleichsweise ökonomisch eingesetzt. Dennoch aber steht es stets im Hintergrund, bis hin zu den Bildern von einem „neuen Jalta“ usw. Schon ganz zu schweigen von der „Demilitarisierung“ und „Entnazifizierung“.

Zur gleichen Zeit aber hatte das Symbol des Sieges – erstens – bei weitem nicht sofort nach Abschluss des Großen Vaterländischen Krieges ideologische Kraft erlangt. Und zweitens war es ursprünglich in eine allgemeinere Konstruktion der geopolitischen, kulturellen und zivilisatorischen Größe des Landes eingefügt gewesen. Dies war das Ideologem eines generellen historischen Sieges und bei weiterem nicht nur eines militärischen.

In der gegenwärtigen Situation sind dies auch noch, wenn man nach vorne schaut, Probleme mit einer vorauseilenden Diversifizierung von Sieges-Ideologemen jeglicher Art beim Übergang vom Kämpfen zum Leben.