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Die russisch-deutschen Beziehungen nach Angela Merkel


Das Jahr 2021 wird durch den Abschluss der 16jährigen Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel geprägt. Geboren in Westdeutschland, doch in der DDR aufgewachsen sowie dort eine politische Erziehung und naturwissenschaftliche Ausbildung erhalten, hat Angela Merkel einen signifikanten Einfluss auf die Gestaltung der russisch-deutschen Beziehungen nach der sozialdemokratischen Regierungszeit von Kanzler Gerhard Schröder ausgeübt. Unter letzterem hatten diese Beziehungen eine Renaissance erlebt, die wohl nur mit der Epoche solcher Gestalter der deutschen Ostpolitik der Nachkriegszeit wie Willy Brandt und Egon Bahr vergleichbar ist.

Auf die Tagesordnung war die Frage nach einem gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis nach Wladiwostok gebracht worden. Es muss gesagt werden, dass diese Idee auch heutzutage nicht wenige Anhänger in den deutschen Wirtschaftskreisen findet. Ehrlich gesagt vermochte Merkel nicht den Staffelstab zu halten, der ihr von Schröder übergeben worden war. Die Ursachen für das Abgehen Merkels von der Politik einer strategischen Annäherung mit Russland, die Schröder vorgezeichnet hatte, müssen noch untersucht werden.

Pragmatismus als Weg zum Erfolg

Es sei daran erinnert, dass der rasche Aufstieg der ehemaligen Jugendfunktionärin aus der Freien Deutschen Jugend (FDJ), dem DDR-Analog des sowjetischen Komsomols, auf der Partei-Karriereleiter in der CDU nur dank der Unterstützung des damaligen deutschen Kanzlers Helmut Kohl möglich geworden war. Merkel hatte jedoch ihren Gönner in die Pfanne gehauen, als es im November 1999 in der CDU zu einem Skandal um die ungesetzliche Finanzierung dieser Partei (CDU-Spendenaffäre) gekommen war. In der Hochzeit der Schwarzgeldaffäre veröffentlichte Merkel, die bereits zur CDU-Generalsekretärin geworden war, einen Beitrag in der einflussreichen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, in dem sie die Partei aufforderte, mit der korrupten alten Garde entschieden zu brechen (Angela Merkel: Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 22. Dezember 1999).

Eine andere Frage ist das persönliche Verhältnis zu dem einen oder anderen Politiker. Natürlich, jeder große Politiker hängt in seiner Haltung zu einem anderen Land oder zu einem konkreten Politiker dieses Landes nicht so sehr von persönlichen Sympathien oder Antipathien als vielmehr von den Interessen des eigenen Landes ab. In dieser Hinsicht ist Angela Merkel keine Ausnahme. Dabei beherrscht sie die russische Sprache. In Jugendjahren weilte sie im Rahmen von Jugendaustauschen in der UdSSR. Dort hatte sie auch ihren ersten Ehemann kennengelernt. Die „New York Times“ analysierte die Beziehungen Merkels und Putins und schrieb, dass bei der bekannten programmatischen Rede von Wladimir Putin im Jahr 2001 vor dem deutschen Bundestag Merkel, damals noch eine relativ unerprobte Oppositionsführerin in der Zeit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder, die Begeisterung der deutschen Abgeordneten über den russischen Staatschef und dessen deutschen Sprachkenntnisse nicht geteilt hätte. Angeblich hätte sie einem Kollegen während dieser Ovationen gesagt: „Dafür muss man der Stasi Danke sagen“. Merkel meinte den ostdeutschen Geheimdienst, mit dem Putin in einer Zeit zusammengearbeitet hatte, als er ein junger KGB-Offizier in Dresden gewesen war. Merkel verheimlichte nicht, dass die Stasi seinerzeit erfolglos versucht hatte, sie anzuwerben. Wie auch für viele ostdeutsche Intellektuelle war ihre Beziehungen mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR keine einfachen gewesen.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass gerade die endgültige Formierung von Angela Merkel als eine Politikerin, die Ende der 1980er/Anfang der 1990er erfolgte, sie in die Reihe der Anhänger einer proatlantischen Orientierung Deutschlands brachte. Wie der bekannte russische Politologe Dmitrij Trenin (Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums – Anmerkung der Redaktion) hervorhob, „musste nach dem Machtantritt die in der DDR aufgewachsene Merkel die Anerkennung sowohl seitens der deutschen Elite, die zum größeren Teil eine proatlantische ist, als auch von Washington, des Hauptverbündeten von Berlin erreichen“. Daher sei zu einer Hauptpriorität für Merkel die Verringerung der Spannungen in den Beziehungen mit den USA geworden. Somit hätten alle Hoffnungen der russischen Politiker, dass die Beziehungen mit Deutschland den Status einer strategischen Partnerschaft dank Merkel erlangen würden, aufgehört, eine Realität zu sein.

Natürlich wird Merkel auch nach dem Ausstieg aus der deutschen Politik deren Gestaltung beeinflussen. Wie Trenin betonte, „wird ihr Erbe noch lange die deutsche Politik beeinflussen – selbst, nachdem sie ihr Amt verlässt. Unter Merkel ist Deutschland nicht bloß ein untrennbarer Teil der Europäischen Union geworden, sondern verwandelte sich in ihren einzigen, wenn auch nicht absoluten Führer. Berlin ist jetzt ein Verfechter der friedlichen und Softversion des europäischen Liberalismus“.

Russische Hoffnungen

Die erwartete Rückkehr der Sozialdemokraten an die Macht in Deutschland bedeutet die Möglichkeit des Aufkommens einer außenpolitischen Alternative für die deutschen Politiker der Nachkriegsgenerationen. Der russische Präsident Wladimir Putin ist sich darüber im Klaren, dass dies in der europäischen Politik eine Aufgabe sicherlich von erstrangiger Wichtigkeit ist. Gerade damit ist die Veröffentlichung seines Gastbeitrags am 22. Juni, am 80. Jahrestag des Überfalls von Hitlerdeutschland auf die Sowjetunion, in der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ (https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-06/ueberfall-auf-die-sowjetunion-1941-europa-russland-geschichte-wladimir-putin) zu erklären. Der russische Präsident erinnert daran, dass gleich nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die auch das Ende des Kalten Krieges markierte, Hoffnungen auf eine Zukunft ohne Bedrohungen und ein Wettrüsten bestanden hätten. Er betont: „Wir hofften, dass das Ende des Kalten Krieges einen Sieg für ganz Europa bedeuten würde. Nicht mehr lange, so schien es, und Charles de Gaulles’ Traum vom geeinten Kontinent würde Wirklichkeit werden, und das weniger geografisch vom Atlantik bis hin zum Ural als vielmehr kulturell und zivilisatorisch von Lissabon bis Wladiwostok“.

Diesen Hoffnungen war jedoch nicht beschieden gewesen aufzugehen. Das russische Staatsoberhaupt macht dafür auch die deutschen Politiker verantwortlich, die, wenn nicht die Naivität, so die Unerfahrenheit der damaligen führenden russischen Politiker ausgenutzt hätten. In erster Linie geht es in diesem Fall um die NATGO-Osterweiterung. Putin schreibt: „Die Grundursache des zunehmenden gegenseitigen Misstrauens in Europa lag im Vorrücken des Militärbündnisses gen Osten, das im Übrigen damit begann, dass die sowjetische Führung de facto überredet wurde, dem Nato-Beitritt des geeinten Deutschlands zuzustimmen. Die damaligen mündlichen Zusagen nach dem Motto «Das ist nicht gegen euch gerichtet» oder «Die Blockgrenzen werden nicht an euch heranrücken» wurden nur allzu schnell vergessen“. Danach folgten, betont der russische Präsident, „seit 1999 fünf weitere «Wellen» der Nato-Erweiterung. 14 weitere Staaten traten dem Bündnis bei, darunter ehemalige Sowjetrepubliken, was alle Hoffnungen auf einen Kontinent ohne Trennlinien de facto zunichtemachte“.

Putin zieht es aber vor, in die Zukunft zu blicken. In dem Gastbeitrag behauptet er, dass Russland für die Wiederherstellung einer umfassenden Partnerschaft zu Europa plädiere. „Es gibt viele Themen von gemeinsamem Interesse: Sicherheit und strategische Stabilität, Gesundheit und Bildung, Digitalisierung, Energiewirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Technologie, Lösungen für Klima- und Umweltprobleme“, zählt Putin auf. Und zu einer Lösung könne nach seiner Meinung der Gedanke von der Schaffung eines gemeinsamen Raums für Zusammenarbeit und Sicherheit vom Atlantik bis zum Stillen Ozean werden, der solche Integrationsformate wie die Europäische Union und die Eurasische Wirtschaftsunion umfassen würde.

Was ist von der neuen Regierung Deutschlands zu erwarten

Heute bestehen mehrere grundsätzliche Versionen für die Zukunft der russisch-deutschen Beziehungen. Eine von ihnen stellte jüngst die BILD-Zeitung vor. Sie behauptet, dass der zum Kanzler Deutschlands gewordene Sozialdemokrat Olaf Scholz mit Russland keine „besonderen Beziehungen“ anbahnen werde. Wie der Autor des entsprechenden Beitrags hinweist, habe Scholz im Jahr 2016 bei einem Auftritt beim Forum „Petersburger Dialog“ von der Unwahrscheinlichkeit des Szenarios gesprochen, in dessen Rahmen sich für die Russische Föderation gute Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland und zur gleichen Zeit schwierige Beziehungen mit der Europäischen Union insgesamt herausbilden würden („Ich halte kein Szenario für plausibel, in dem Russland gute Sonderbeziehungen zu Deutschland und gleichzeitig schwierige Beziehungen zur gesamten Europäischen Union unterhält.“). Laut Informationen des Blattes beabsichtige Olaf Scholz, die Außenpolitik des Landes entsprechend „dem Prinzip Dorfdisko – getanzt wird mit denen, die im Saal sind“ – zu gestalten.

Ein besorgniserregenderes Bild zeichnet der ehemalige SPD-Chef Oskar Lafontaine. Er unterstreicht vor allem die zunehmende militärische Gefahr in Osteuropa. Nach seiner Meinung trete Kanzler Olaf Scholz für eine Neubewaffnung der Bundeswehr und deren Einsatz im Ausland ein. Die zur Außenministerin gewordene Annalena Baerbock verlange nach seinen Worten, den Druck auf Russland zu verstärken und in Bezug auf China eine Politik des „Dialogs und der Härte“ zu verfolgen, was nach Meinung von Lafontaine zu einer Katastrophe führen werde. Es sei klar, dass sich bei Baerbock, die bisher keine Erfahrungen aus einer Regierungsarbeit besitzt, etwas in Richtung eines größeren Realismus verändern könne. Wann dies aber geschehen wird, ist unbekannt. In Moskau befürchtet man, dass sie bis dahin noch Einiges verzapfen werde.

Der für die Außenpolitik in der FDP – dem dritten Partner in der Ampel-Regierungskoalition – zuständige Alexander Graf Lambsdorff unterstütze nach Meinung von Lafontaine die Politik der USA, die „auf eine Einkreisung und Konfrontation mit Russland und China hinausläuft“.

Deutsche Diplomaten in Moskau bekunden zwar Besorgnis über eine wesentliche Verschlechterung der gegenwärtigen Beziehungen Russlands und Deutschlands, ziehen es aber vor, von einer Kontinuität der Politik der künftigen Regierung zu sprechen. Möglicherweise gehen sie von dem bekannten Februar-Interview von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der „Rheinischen Post“ (https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Interviews/2021/210206-Interview-Rheinische-Post.html) aus. Er hatte damals gesagt, dass die Notwendigkeit bestehe, „das größere Bild der Beziehungen zwischen der EU und Russland im Auge“ zu behalten. „Wir müssen klar und unmissverständlich sein in der Kritik an Russlands innenpolitischen Verhältnissen und doch in der Außenpolitik immer wieder nach Anknüpfungspunkten suchen, um eine schlechte Gegenwart in eine bessere Zukunft zu verwandeln“.

In diesem Sinne erklang scharf dissonierend der jüngste Auftritt des Vorsitzenden der der SPD nahestehenden Friedrich-Ebert-Stiftung sowie des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments und früheren Bundesvorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Martin Schulz zum Abschluss der November-Tagung der Potsdamer Begegnungen (des Deutsch-Russischen Forums), die den Abschluss des seit September vergangenen Jahres erfolgten Deutschlandjahres in Russland markierte. Er rief die europäischen und deutschen Politiker auf, die gegenwärtigen russischen Realitäten in den Beziehungen beider Länder zu berücksichtigen. Nach seiner Meinung werde die künftige deutsche Regierung unter Führung des Sozialdemokraten Olaf Scholz gerade auch von dieser Message ausgehen, die von den Vätern der Ostpolitik Willy Brandt und Egon Bahr hinterlassen wurde.

Uns bleibt nur herumzurätseln: Ist dies die persönliche Meinung von Schulz oder versuchte die SPD-Führung damit, der russische Führung eine Botschaft hinsichtlich der Möglichkeit einer Korrektur der deutschen Ostpolitik zu übermitteln? Klar ist jedoch, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur Foren der Zivilgesellschaften, solche wie die Potsdamer Begegnungen, die bereits 1999 aus der Taufe gehoben wurden, und das vorerst seine Arbeit eingestellte Forum „Petersburger Dialog“, das 2001 durch Gerhard Schröder und Wladimir Putin etabliert wurde, kleine Brücken für Kontakte zwischen den unterschiedlichen Schichten der russischen und der deutschen Gesellschaft bleiben.

Das zu Ende gegangenen Jahr Deutschlands in Russland hatte nicht wenige Möglichkeiten für die Anbahnung von Beziehungen zwischen den Zivilgesellschaften beider Länder gewährt und zweifellos den deutsch-russischen Beziehungen eine positive Dynamik verliehen. Daher ist die Verlängerung der Geltungsdauer des Deutschlandjahres in Russland vor allem als ein Versuch anzusehen, jene verbliebenen Fäden zu bewahren, die beide Länder noch verbinden. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, den amtierenden Botschafter Deutschlands in Moskau, Dr. Géza Andreas von Geyr, zu zitieren: „Das Deutschlandjahr in Russland, dies sind fast eintausend Veranstaltungen im ganzen Land, und folglich eintausend Möglichkeiten, um mit Deutschland in Berührung zu kommen, mit dessen Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und in besonderem Maße mit dessen Kunst. Und um ganz genau zu sein: Das Jahr Deutschlands in Russland ist ein Dialog für eine Erörterung jener Themen, die gegenwärtig die Hirne der Menschen in Deutschland beschäftigen“.

Brauchen wir einander

In Deutschland gibt es nicht wenige Anhänger einer Entwicklung allseitiger Beziehungen zwischen unseren Ländern. Meines Erachtens ist es nicht überflüssig, die Verfechter einer harten Linie in den Beziehungen mit Russland an die Worte des Vorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums, des angesehenen deutschen Sozialdemokraten Matthias Platzeck, zu erinnern, die er in einem Interview des Redaktions­Netzwerkes Deutschland (RND) im Januar dieses Jahres formulierte: „Ich denke, die Grundsatzfrage ist, ob wir einander brauchen. Brauchen sich Deutschland und Russland, brauchen sich die Europäische Union und Russland? Das wird in Deutschland derzeit unterschiedlich beantwortet. Die einen sagen, die Wirtschaftskraft der Russen ist nicht besonders groß, da besteht kein dringender Handlungsbedarf. Die anderen sagen, die Russen sollen sich erst mal ändern und so werden, wie wir uns das vorstellen. Ich halte all diese Herangehensweisen für wenig hilfreich. Die wirklich großen Fragen, vor denen wir stehen, werden wir ohne Russland nicht lösen können“. Und Platzeck nannte diese Probleme: Klimawandel, Terrorabwehr, Flüchtlingsbewegung, Sicherheit im Nahen und Mittleren Osten, Abrüstung. Sicherlich kann jeder vernünftig denkende Politiker unter diesen Worten seine Unterschrift setzen.

Für die russischen Politiker steht die Frage heute so: Wenn man den Dialog der Zivilgesellschaften entwickelt, so führt dies nicht (wie es seinerzeit der Spitzenvertreter der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren geplant hatte) „zu Veränderungen im Verlauf der Annährung“? In dieser Hinsicht befinden sich sowohl die russische als auch die deutsche Politik in einer gleichen Lage. Wie die Deutschen die russische Zivilgesellschaft beeinflussen können, so kann auch Moskau die deutsche Zivilgesellschaft beeinflussen. Natürlich müssen hierbei die Spielregeln klar markiert sei, um nicht einander einer Wühltätigkeit und einer gegenseitigen Einmischung in die inneren Angelegenheiten zu bezichtigen.